Ein Leben, das auch fünf Bücher gefüllt hätte. In seinem neuen Roman erzählt Steffen Kopetzky vom Leben und Sterben Larissa Michailowna Reissners, die gleich ein Dutzend Leben lebte, immer mit einer klaren kommunistischen Mission vor Augen und bereit für ein Damenopfer, um ihre Ziele zu erreichen. Eine facettenreiche Lektüre, literarisch interessant gestaltet und zugleich ein Anknüpfungspunkt an Kopetzkys Bestseller Risiko aus dem Jahr 2015.
Wie fasst man ein solches Leben in einen Roman? In gerade einmal dreißig Lebensjahren war Larissa Reissner Journalistin in Afghanistan, waghalsige Agitatorin, Trotzki-Verbündete, Komintern-Strategin, Polit-Kommissarin der Wolgaflotille, Revolutionärin, Mutter, Lehrbeauftragte und bestens verknüpfte Planerin eines waghalsigen Plans.
Dutzende Facetten einer Frau, der Steffen Kopetzky mit einem ebenso facettenreichen Erzählkonzept nahekommen möchte, dessen Struktur an Eva Menasses Quasikristalle erinnert und mit dem Kopetzky nach eigenem Bekunden an den Surrealismus und die harte Schnitttechnik des ebenfalls im Buch auftretenden Sergej Eisenstein anknüpfen möchte. Diese filmischen Referenzen der 20er Jahre bildet Kopetzky hier durch einen vielstimmigen Chor an Erzähler*innen nach.
Ho Chi Minh und Anna Achmatowa als Erzähler*innen
Anstelle eines personalen Erzählers entscheidet sich der Romancier für eine Vielzahl von prominenten Erzählerinnen und Erzählern, die in ihrem Leben an entscheidenden Punkten Kontakt mit der 1920 geborenen Larissa Michailowna Reissner, genannt Lyalya, hatten. Darunter sind Männer der Weltgeschichte wie Ho Chi Minh, Dichter*innen wie Boris Pasternak oder Anna Achmatowa und Militärs wie Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski. Sie alle erzählen aus ihrer Perspektive von den Berührungspunkten mit dem Leben Larissa Reissners. Es sind Begegnungen, die mal nur kurz dauerten oder sich über ein halbes Leben hinzogen – allen Erzähler*innen aber blieb die Frau eindrücklich im Gedächtnis.
Das ist bei diesem Leben allerdings auch kein Wunder. Denn egal ob Larissa Reissner in Afghanistan reportierte oder die Niederschlagung des Hamburger Aufstands der KPD beobachtete, bei der Rückeroberung Kasans im Bürgerkrieg auf Seiten der Bolschewiken kämpfte oder mit ihrem Ehemann Fjodor Raskolnikow als Politkommissarin die Wolgaflotille beaufsichtigte – stets betrieb sie ihre Unternehmen mit größtmöglicher Intensität.
Ein waghalsiger Plan
Das größte Vorhaben ihres Lebens zieht sich über die einzelnen Erzählstimmen hinweg durch den Roman. Es ist ein waghalsiger Plan, mit dem sie während ihrer Zeit in Afghanistan im Jahr 1923 zum ersten Mal befasst ist. Dort stößt sie auf die Spuren eines unter dem Pseudonym Neumann schreibenden Strategen. Er hielt den Gewinn Deutschlands gegen die imperialistische Kraft Englands für möglich. Ein Plan, den Larissa adaptieren möchte, um den Sieg des Kommunismus und damit die große Freiheit gegenüber der Weltreiche Englands oder Amerika zu erreichen. Sie setzt sich auf die Spur dieses Mannes, hinter dem sich kein anderer als der Major und letzte Ritter des Königreichs Bayern verbirgt, der aus Kopetzkys Risiko bekannte Oskar Ritter von Niedermayer.
„Niedermayer, Oskar. In Afghanistan zwischen 1915 und 1917, Hauptmann der Königlich Bayerischen Armee im Auftrag des Großen Generalstabs. Jetzt gerade, 1923, gibt es eine Buchveröffentlichung in Deutschland über seine Erlebnisse während der Expedition. Er schreibt nun als Oskar von Niedermayer. Ist also irgendwann nach seiner Rückkehr offenbar noch geadelt worden.“
Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 139
Während in Russland Trotzki und Stalin um die Nachfolge Lenins ringen, lernt Larissa Reissner unter Einsatz eines sprichwörtlichen Damenopfers am Ufer des Wannsees schließlich endlich jenen sagenumwobenen Militärstrategen Niedermayer, den deutschen Lawrence von Arabien, kennen.
Zum Dritten im Bunde der Revolutionäre wird der „Rote Napoleon“ Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski, mithilfe dessen Reissner den Sieg des Kommunismus vorantreiben möchte. Doch bei aller Ambition dieser Pläne für eine Deutsch-Russische Weltrevolution kommt das Ende des Vorhabens abrupter als gedacht. Denn gerade einmal mit dreißig Jahren verstirbt Larissa Reissner in einem Moskauer Krankenhaus 1926 überraschend an Typhus.
Brüche und Lücken eines Lebens
Unter großer Anteilnahme wird die junge Frau zu Grabe getragen, wofür sogar der Dichter und später mit seinem Doktor Schiwago zu Weltruhm gelangende Boris Pasternak ein Gedicht verfasst, in dem ein ganzes Stück weit die Anlage des Erzählkonzept Steffen Kopetzkys selbst paraphrasiert wird:
Im Gegensatz zu einer Zeichnung bestand ein Gedicht aus einzelnen Teilen, Worten, die nicht miteinander verbunden waren, und glich darin dem Leben selbst. Es war aus Brüchen und Lücken aufgebaut. Die Natur aber hörte niemals auf, die Menschen selbst lebten eingebettet in der Geschichte, und obwohl ihr Leben aus lauter Fragmenten bestand, hielt es doch irgendwie zusammen. Das war, was er zu feiern wünschte: dass es die Einheit des Lebens nicht gab und es dennoch ein Ganzes war. Dieses Wunder zu preisen war die Aufgabe der Kunst, und das wollte er in seinem Gedicht „Zum Andenken an Larissa Reissner“ zum Ausdruck bringen, tastete sich heran, Stunde um Stunde arbeitend und leidend.
Steffen Kopetzky – Damenopfer, S. 426
Wie schon in seinen letzten Werken Propaganda oder Risiko spannt Steffen Kopetzky auch hier wieder einen ganz weiten Bogen auf. Das führt soweit, dass er den Totengräber des Grabs von Larissa Reissner eine Episode widmet und sogar die Geschichte des Friedhofs, die bis in die Zeit von Katharina der Großen zurückreicht, in einem Rückgriff schildert.
Ganz Kopetzky-typisch verbindet auch Damenopfer Militärgeschichte mit einer persönlichen Biografie. Kulturgeschichte, Erzählung der politischen Entwicklung Russlands in der Post-Leninphase und Geopolitik vereinen sich mit einer ambitionierten Erzählstruktur. Schauplätze in Afghanistan, Leipzig oder Moskau, dazu eine Vielzahl an Figuren und Erzähler*innen und nur wenig Stringenz in der Erzählung selbst, das erfordert viel Aufmerksamkeit.
Fazit
So gefällig wie Kopetzkys letzter mit leichter Hand skizzierte Pandemie-Handstreich Monschau ist das freilich nicht. Dafür entlohnt Damenopfer aber mit einem facettierten Porträt einer faszinierenden Frau. Steffen Kopetzky erweckt die russische Geschichte der 20er und 30er Jahre mitsamt ihrer wichtigen politischen, militärischen und kulturellen Impulsgeber zum Leben und liefert ein ambitioniertes Werk ab, das viele seiner Erzählthemen fortführt und wache Leserinnen und Leser sehr belohnt!
- Steffen Kopetzky – Damenopfer
- ISBN 978-3-7371-0151-6 (Rowohlt)
- 448 Seiten. Preis: 26,00 €