Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug ins Chaos? In Gabriele Tergits Roman Der erste Zug nach Berlin will die junge Amerikanerin Maud Deutschland nach dem Krieg besuchen. Sie tut das im Gefolge einer Expedition voller besonderer Charaktere und lernt ein Land kennen, in dem alle nur Opfer gewesen sein wollen und in dem bezüglich alter Nazieliten eine erstaunliche Kontinuität herrscht. Böse, treffend, schnell.
Ist Gabriele Tergit nach ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren zumeist für ihre groß angelegte Familiensaga Effingers oder die Mediensatire Käsebier erobert den Kurfürstendamm bekannt, so gibt es aus dem Werk der 1982 in London verstorbenen Autorin noch immer viel zu entdecken. Der erste Zug nach Berlin ist dafür der beste Beweis.
Diesen kurzen Roman siedelt Gabriele Tergit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Die junge Ich-Erzählerin Maud begleitet im Gefolge ihres Onkels Phipps eine amerikanische Reisedelegation nach Deutschland. Die Neunzehnjährige steht kurz vor einer Hochzeit mit ihrem gleichaltrigen Freund und so ist diese Reise noch einmal die große Gelegenheit zum ungebundenen Reisen und Abenteuer, ehe sie in den Stand der Ehe eintritt.
Von Amerika ins Nachkriegsdeutschland
Im Zug finden sich illustre Gestalten, die Maud ganz genau beobachtet und karikiert:
Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minverva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck.
Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin, S. 9
Inmitten vulgärer Amerikaner, Engländer mit geerbten Adelstiteln und vieler weiterer Unikate macht sich nun Maud auf, um zu reportieren und das Land der Täter kennenzulernen. Auf der Reise kommt es zu zahlreichen Diskussionen. Man streitet über Rassismus, die Press oder die richtige Strategie für das Re-Education-Programm, das den Deutschen die Folgen ihres Tuns vor Augen führen soll. Man ist sich uneins, die Argumente und Ansichten fliegen hin und her – und das zudem noch oftmals auf Englisch, das Gabriele Tergit immer wieder in den Passagen einfließen lässt (deren Übersetzungen sich dann aber auch im Anhang des Buchs finden).
Der Umgang mit der Schuld
Ähnlich wie zuletzt auch Andreas Pflüger in Ritchie Girl blickt auch Gabriele Tergit in ihrem in den 50er Jahren entstandenen Roman auf die deutsche Nation und ihren Umgang mit der Schuld. In vielen Gesprächen will Maud ergründen, wie eine ganze Nation unter ihrem Führer Hitler mehrere Kontinente mit ihrem Krieg überziehen und Millionen von Menschen ermorden konnte. Die Erkenntnisse, die ihre Gespräche zutage fördern, sind aber ernüchternd.
Niemand will etwas getan haben, alle sind ausnahmslos Opfer, äußern antisemitische Klischees, sehen sich von feindlich gesinnten Juden in England und Amerika zu Unrecht angegriffen und weißen jegliche Schuld von sich, die sie den Alliierten zuschieben. Täter war man keinesfalls und wusste von nichts etwas – und wenn Maud und ihre Delegation dann tatsächlich auf ein misshandeltes Opfer der Nationalsozialsten stoßen, dann stirbt dieses Opfer in der Folge unterversorgt und in ärmlichen Verhältnissen, ausgegrenzt von der übrigen Gesellschaft.
Es ist viel Bitternis über diesen infamen Umgang mit der eigenen Schuld und die Kontinuitäten der Karrieren, die Nazikader an den Tag legen, wenn sie nach dem Ende des „3. Reichs“ weiterhin an zentralen Schaltstellen der Macht sitzen. Das verbindet sich in Der erste Zug nach Berlin mit viel Fatalismus und Uneinigkeit unter Amerikanern, Russen und Engländern, die allesamt auch nicht frei von Rassismus und Stereotypen sind.
Orientierung an Gabriele Tergits Original-Typoskript
Gabriele Tergits Buch ist trotz seiner Kürze keine einfache Lektüre. Sie vermengt erregte Dialoge, die vom Englischen ins Deutsche wechseln und umgekehrt, erzählt in schnellen Schlaglichtern, rast so manches Mal nur durch die Handlung und ist auf ein fast atemloses Erzählen bedacht, bei dem der Leser wie Tergits Heldin Maud so manches Mal erst begreifen muss, was hier gerade verhandelt wurde oder über was sich die Delegation da ganz genau echauffiert.
Die ganze Fülle dieses trotz seiner Kürze so vielfältigen Romans wird nun erstmals durch die vorliegende Ausgabe erlebbar. Denn wie Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, orientiert sich die aktuelle Ausgabe am Original-Typoskript Gabriele Tergits. Zwar gab es im Jahr 2000 bereits eine Ausgabe des Romans, doch der damalige Herausgeber griff stark in den Text ein, glättete, kürze und strich. Diese Bereinigungen sind nun wieder entfernt, wodurch ein vielstimmiger Roman erscheint, der uns mitnimmt direkt in die Zeit unmittelbar nach der Stunde 0 in Deutschland (die es so ja gar nicht gab, wie Der erste Zug nach Berlin eindrücklich zeigt).
Mehr Meinungen zu Gabriele Tergits Roman gibt es auch auf dem Blog von Birgit Böllinger und im HeymannBlog von Sönke Schneider.
- Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin
- Artikelnummer: 17460X (Büchergilde Gutenberg)
- 208 Seiten. Preis: 22,00 €