Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2024

Morgen in einem Monat ist es schon wieder soweit und die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 erscheint. Auch dieses Jahr beteilige ich mich wieder an der wilden Spekulation zum Thema Deutscher Buchpreis. Wie immer versammele ich 20 Bücher, denen ich einen Platz auf der Longlist zutraue.

Nachdem ich meinem Versuch im letzten Jahr, hoffe ich diesmal, meine Tippquote weiterhin stabil zu halten. Etwas schwer getan habe ich mich dieses Jahr tatsächlich, preiswürdige Titel auszumachen. Zumindest bislang war für meinen Geschmack in diesem Lesejahr noch nicht allzu vieles dabei, das sich auf den ersten Blick für eine solche Liste prädestiniert wäre. Und auch unabhängige Verlage fehlen in der Aufstellung in erheblichem Maße. Entschieden habe ich mich für viele höchst gegenwärtige Romane, die inmitten unsere Gegenwart zielen.

Was dann die finale Auswahl aber tatsächlich ausfallen wird – und ob die Jury alle Erwartungen und Vorhersagen unterläuft, das wissen wir erst am 20. August um 10:00 Uhr. Dann nämlich erscheint die diesjährige Longlist zum Deutschen Buchpreis. Bis hierhin meine Tipps:


Was sind eure Tipps? Was könnte sich auf der Liste finden?

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Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr

Sommer, das ist auch immer Theater. Es zieht die Menschen nach draußen und auf den Freilichtbühnen des Landes werden Opern, Musicals und Theaterstücke gegeben. Auch in Erich Kästners Roman Der kleine Grenzverkehr ist das nicht anders. Hier verschlägt es einen jungen Schriftsteller nach Österreich, wo er zusammen mit einem Freund die legendären Salzburger Festspiele mitsamt ihrer nicht minder legendären Aufführung des Jedermann von Hugo von Hoffmannsthal als Höhepunkt besuchen will. Doch nicht nur auf der Bühne wird Theater gespielt – und dann ist da auch noch die lästige Problematik des Schlagbaums zwischen Österreich und Deutschland…


Es ist eine Grenzsituation noch vor Schengen, Freizügigkeit und dem Euro, die Erich Kästner in Der kleine Grenzverkehr wieder aufleben lässt. Sein in Form eines Tagebuchs erzählten Romans spielt im Jahr 1937 und erschien erstmalig ein Jahr darauf. Das ist insofern bemerkenswert, da 1938 der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland unter den Nationalsozialisten vollzogen wurde.

Volten der Geschichte

Kästner formuliert diesen Umstand in seinem Vorwort an die Leser der 1948 in Zürich erschienen Ausgabe wie folgt:

Als ich dieses kleine Buch, während der Salzburger Festspiele Anno 1937, im Kopf vorbereitete, waren Österreich und Deutschland durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken „auf ewig“ voneinander getrennt. Als das Büchlein im Jahr 1938 erschien, waren die beiden Länder gerade „auf ewig“ miteinander verbunden worden. Man hatte nun die gleichen Briefmarken und keinerlei Schranken mehr. Und das kleine Buch begab sich, um nicht beschlagnahmt zu werden, hastig außer Landes.

Habent sa fata libelli, wahrhaftig, Bücher haben auch ihre Schicksale. Jetzt, da das Buch in einer neuen Auflage herauskommen soll, sind Deutschland und Österreich wieder voneinander getrennt. Wie durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken. Die neuere Geschichte steht, scheint mir, nicht aufseiten der Schriftsteller, sondern der Briefmarkensammler. Soweit das ein sanfter Vorwurf sein soll, gilt er beileibe nicht der Philatelie, sondern allenfalls der neueren Geschichte.

Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr, S. 7

Und während man sich nun, knapp neunzig Jahre seit dem ursprünglichen Erscheinen, wieder mehr oder minder frei von Kontrollen und Devisentausch zwischen den Nachbarländern bewegen kann, ist von der Durchlässigkeit der Grenze für Georg, den Helden von Kästners Roman, noch nichts zu spüren – im Gegenteil.

Über die Grenze nach Österreich

Mit einem schönen metafiktionalen Kniff gibt Kästner sein Werk dabei als Fundstück aus, das er ohne das Wissen seines Freundes publiziert habe. Einst habe es ihm sein Freund in die Hände gedrückt, und nun habe er sich entschieden, dieses Sommertagebuch zu veröffentlichen.

Erich Kästner - Der kleine Grenzverkehr (Cover)

Und so beginnt die Geschichte Georg Rentmeister, der von seinem Freund Karl eingeladen wird, zusammen mit ihm die Salzburger Festspiele zu besuchen. Für Karl steht ein Engagement als Bühnenbildner in Aussicht – und so wollen die beiden Freunde sich im August in der Stadt an der Salzach umtun und den vielen hochkarätigen Aufführungen unter freiem Himmel beiwohnen, wie Georg in dem Tagebuch schreibt.

Da ist nun nur das Problem der Devisen. Denn obschon er die Reise nach Österreich per Bahn angetreten hat, steht eine Auskunft der Devisenstelle noch aus. Genau (um)gerechnet bleiben ihm von seinen zehn Reichsmark täglich nur 33,3 Pfennige für den Aufenthalt in Salzburg – „Was zu wenig ist, ist zu wenig!“, wie Georg selbst in seinem Tagebuch notiert. Und so entscheidet er sich zu einem zweigeteilten Aufenthalt. Das Hotel bezieht er auf der deutschen Seite in Reichenhall, um dann täglich mit dem Autobus eine halbe Stunde und zwei Passkontrollen später in Salzburg einzutreffen, wo er mit seinem Freund die von ihren Kunstschätzen und Bauten geprägte Stadt durchstreift und dem sommerlichen Kulturgenuss huldigen möchte.

Doch da ist auch noch eine weibliche Bekanntschaft, die der permanent in Geldnöten steckende Georg macht. Der Genehmigungsvertrags seiner Devisen zieht sich weiterhin und so ist es ein Stubenmädchen namens Konstanze, das ihm unverhofft begegnet und das ihn aus der finanziellen Bredouille befreit.

Sommerliche Scharaden in Salzburg

Auf einem nahegelegenen Schloss würde sie arbeiten, so offenbart sie sich Georg, der nicht nur von ihrem Sparkassenbuch begeistert zeigt, sondern deren Äußeres den jungen Mann auch zum Schwärmen bringt. Rasant beginnt das Tête-a-tête der beiden, bei dem sich dann herausstellt, dass Konstanze Georg etwas vorspielt. Doch auch er spielt wenig später schon bei der sommerlichen Scharade, die Konstanze aufzieht, begeistert mit. So gibt es nicht nur auf den Bühnen der Stadt Irrungen und Wirrungen zu beobachten, sondern auch im Schloss spielt sich schon bald Heiter-Romantisches ab…

Der kleine Grenzverkehr ist ein Buch, bei dem nur wenig auf das hindeutet, was schon ein Jahr später über die beiden Länder und bald den ganzen Kontinent hereinbrechen sollte.

Originalcover der Ausgabe von "Der kleine Grenzverkehr" aus dem Jahr 1948
Cover der Ausgabe von „Der kleine Grenzverkehr“ aus dem Jahr 1948 mit Illustrationen von Kästners Freund Walter Trier

Während Karl in Berlin noch der Erlaubnis des Wehrkreiskommandos und der Passstelle bedarf, um überhaupt die vierwöchige Reise nach Österreich antreten zu dürfen, wird die Welt mit jedem Kilometer, den er der deutsch-österreichische Grenzregion näher kommt, leichter. Postkartenmotive von Heu erntenden Bauern auf den Bergen oder den Gassen Salzburgs versprühen Nostalgie und Idylle.

Zudem nimmt sich dieser im August spielende Roman auch nicht ernster, als er muss. Das Spiel mit dem fiktiven Tagebuch, die Scharaden um Georg und Konstanze, die Irrungen und Wirrungen – Kästners Sommerroman ist leicht und heiter – was insbesondere angesichts der Umstände, unter denen er entstanden ist, umso bemerkenswerter ist. Dass Kästner fünf Jahre vor dem Entstehen dieses Buchs mit ansehen musste, wie seine eigenen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden, und in Folge dieses Ereignisse mit einem partiellen Schreibverbot belegt wurde, diese Erfahrungen zeichnen den Roman nicht, im Gegenteil.

Fazit

Der kleine Grenzverkehr feiert das Theater, die Scharade und die Liebe hingebungsvoll. Ebenso ist der Roman eine Hommage an Salzburg und seine Festspiele und die Welt der Berge. Auch fast neunzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen lässt dieser kurze und doch reichhaltige Romane auch angesichts der Umstände seiner Entstehung staunen. Eine wirkliche Empfehlung, und das nicht nur an Augusttagen!


  • Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr
  • ISBN 978-3-03882-015-4 (Atrium)
  • 146 Seiten. Preis: 12,00 €
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Sarah Winman – Das Fenster zur Welt

Von den Kämpfen des Zweiten Weltkriegs bis in die Nachkriegszeit hinein zeichnet Sarah Winman in ihrem Roman Das Fenster zur Welt die Wege einer Gruppe von Menschen nach, für die Florenz zum Lebensmittelpunkt wird. Lektüre, die die Freundschaft feiert – und einem Papagei den großen Auftritt gönnt.


Schon in ihrem ersten auf Deutsch veröffentlichten Roman Lichte Tage erwies sich das Ausland für einen Engländer als der Ort, an demer hätte wirklich glücklich werden können. Damals war es die Provence, in der einer von Winmans Figuren zumindest kurzzeitig das Glück fand.

In ihrem neuen, ebenfalls wieder von Elina Baumbach ins Deutsche übertragenen Roman ist es nun erneut die Fremde, in der diesmal eine ganze Gruppe von Engländer*innen glücklich wird.

Doch bis es soweit ist, nimmt uns Sarah Winman erst einmal mit in die Endphase des Zweiten Weltkriegs, wo sich zwei ganz unterschiedliche Menschen vor den Toren von Florenz begegnen. Da ist die „englische Jungfer“ Evelyn, die sich als Kunsthistorikerin den Alliierten andienen will, um vor Ort die Kunstschätze von Florenz zu sichern und zu retten. Und da ist der junge Soldat Ulysses, der in den chaotischen Tagen rund um die Befreiung von Florenz zum ersten Mal einen Eindruck davon erhält, was diese Stadt mitsamt ihrer Bewohner und der reichlichen Kunstschätzen seit der Renaissance auszeichnet.

Der Zauber von Florenz

Sarah Winman - Das Fenster zur Welt (Cover)

Ein Intermezzo in London währt dann auch nicht lange, ehe Ulysses dem Zauber von Florenz erneut erliegt. Denn in den ersten Tagen in der befreiten Stadt hat er die Bekanntschaft mit einem Florentiner gemacht, der ihm nun nach seinem Tod dort gleich zwei große Wohnungen in einem Stadthaus vermacht. Und so beschließt Ulysses, zusammen mit der Tochter seiner Gattin nach Italien aufzubrechen. Die Gattin selbst bleibt in England zurück, die Ehe der beiden glich aber sowieso einem Zufallsprodukt. Gesellschaft an seiner Seite leistet ihm an ihrer statt Cressy, ein Freund der Familie.

Über die Jahre hinweg beobachtet Sarah Winman nun das Treiben dort in der Renaissancestadt, das ähnlich bunt ist wie die außergewöhnliche Gruppe um Ulysses. Sogar Claude, ein Papagei aus einem Londoner Pub, erhält in der neuen Wohnung seinen Platz.

Wie Ulysses dort ankommt, Freundschaften schließt und sich in seinem neuen Leben einrichtet, das beschreibt Winman anschaulich und anrührend. Immer wieder erhält Ulysses dort in Florenz auch Besuch von einer Gruppe aus London um seine Frau Ex-Peg. Dem Zauber Italiens und insbesondere dem von Florenz kann man sich eben doch nicht entziehen, selbst wenn man im fernen England lebt.

Die Feier von Freundschaft und Verbundenheit

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und von tiefem Verständnis, das die Figuren untereinander entwickeln. Denn obschon die Beziehung zu seiner Ex-Frau schwierig ist, mancherlei Katastrophen wie die Überschwemmung von Florenz durch den Arno 1966 auf die zugezogenen Florentiner warten – im freundschaftlichen Verbund mit Bekannten, Freunden und Papagei übersteht man selbst die schlimmsten Unglücke, wie Sarah Winman in ihrem Buch zeigt.

Liebe, Romanzen, Verlust und Tod sind Themen, die in diesem Buch behandelt werden. Schwer ist Das Fenster zur Welt aber nie, sondern ist immer vom Gefühl von la dolce vita getragen. Der Hotelbetrieb mitsamt seiner illustren Gäste und die omnipräsente Kunst zwischen Pontormos Kreuzabnahme und Michelangelos David versprüht viel Leichtigkeit und Freude. Diese Freude und die Erinnerungen an die wechselvolle Beziehung mit Florrenz sind es dann auch, die Evelyn wieder nach Florenz locken und sie schließlich auch mit der Freundesgruppe um Ulysses zusammenführen wird. Hier findet alles in einer großen Feier der Verbundenheit und Freundschaft zusammen.

Vielleicht manchmal etwas eine Spur zu locker und mit dem Sentenzen absondernden, hochintelligenten Papagei Claude manchmal etwas nah an der Karikatur ist Sarah Winmans Roman am Ende einfach buchgewordener Urlaub in Italien. Die Lektüre von Das Fenster zur Welt weckt während der Lektüre Lust, selbst baldmöglichst über die Ponte Veccio und durch die Gassen der Stadt am Arno zu strawanzen.

Fazit

Bevor im Oktober Italien vollends in den Fokus der literarischen Aufmerksamkeit rückt, kann man hier schon einmal vorab eine Reise nach Italien unternehmen und zusammen mit Sarah Winman die Schönheit und Anziehungskraft von Florenz erkunden.

Das Fenster zur Welt ist die Feier von Freundschaft und zeigt Menschen, die fernab von konventionellen Lebensmodellen und Rollenbildern miteinander im Einvernehmen miteinander stehen. Getragen von einem tiefen Verständnis füreinander ist dieser Roman – obschon von einer Engländerin verfasst – von italienischer Leichtigkeit durchzogen. Leicht zu lesen, aber keineswegs banal mit großen Bögen über die Jahre hinweg stellt Sarah Winmans Buch eine ideale Einstimmung auf den Sommer und auf den nächsten Urlaub jenseits des Brenners dar.


  • Sarah Winman – Das Fenster zur Welt
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-96606-0 (Klett Cotta)
  • 528 Seiten. Preis: 26,00 €
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Anne Weber – Bannmeilen

Erkundung in der Peripherie. Anne Weber begibt sich auf Spaziergänge an den Außenrändern von Paris – und entdeckt eine Welt, die im krassen Gegensatz zum Chic der französischen Hauptstadt steht. Zusammen mit ihrem Reisegefährten Thierry durchstreift sie die Banlieues, jene Außenbezirke von Paris, in die es Touristen eher weniger verschlägt. Auf ihren verschriftlichten Erkundungen namens Bannmeilen entdeckt sie dabei Kosmen, die das heutige Frankreich in seiner ganzen Zerrissenheit wenigstens ein bisschen besser verstehen lassen.


Das „Neun-Drei“ hat es Anne Weber angetan. So wird jenes im Nordosten von Paris gelegene Département nach seiner Nummerierung geheißen, das eigentlich auf den Namen Département Saint-Denis hört. Es ist eine Welt für sich, die sich Anne Weber dort auftut. Fast sechshundert Kilometer wird am Ende die Strecke messen, die sie bei ihren Streifzügen durch die Welt von „le neuf-trois“ zwischen Bobigny, Saint-Denis und Noisy-le-Grand zurückgelegt haben wird.

Diese Spaziergänge oder Streifzüge, wie sie der Untertitel dieses Romans nennt, unternimmt Anne Weber allerdings nicht alleine. Gefährte der Übersetzerin und Autorin ist Thierry, gewissermaßen ein Ureinwohner von Neun-Drei. „Viel gereist und zugleich aus dem Neun-Drei nie herausgekommen“ sei er, wie es in der dem Buch vorangestellten Vorstellung von Thierry heißt. Der Vater von algerischer Abstimmung, er selbst von seiner Geburt an bis in die Gegenwart hinein immer seinem Département verbunden, ist er der perfekte Gefährte für die Erkundungen, die Anne Weber zusehends faszinierter anstrebt.

Auf Erkundung in Neun-Drei

Thierry treibt ein Filmprojekt um, das die massiven Umgestaltungen und Eingriffe in das Erscheinungsbild von Neun-Drei dokumentieren soll, die die Olympischen Spiele im Sommer 2024 mit sich bringen werden. Und Anne Weber beschäftigt die Frage , warum sie sich bislang immer nur gewissermaßen im geschützten Inneren von Paris aufgehalten hat und den Gang über diese von der Stadtautobahn Périphérique so klar umrissenen Welt hinaus nie gewagt hat.

Anne Weber - Bannmeilen (Cover)

Zusammen beginnen die beiden also nun mit den Erkundungen der Banlieues, durchmessen mal trostlose Hochhaussiedlungen, mal steppenähnliche Flächen, die nur von der Stadtautobahn N2 durchschnitten werden. Mal thronen wie hingeworfene Hypermarchés in der Einöde, mal entdecken die beiden ein Geflüchtetenlager draußen in der Peripherie.

Bannmeilen dokumentiert mit viel Beschreibungskraft und dem Auge fürs Detail die Spaziergänge, die die Erzählerin und Thierry immer wieder an unterschiedliche Orte bringen. Stets gibt es dabei Konstanten und Muster, in die beide immer wieder verfallen und von denen sie begleitet werden. Neben der Neugier, der Ironie und dem Spott zwischen Thierry und Anne Weber als stetem Begleiter bei allen Erkundungen sind es auch Verhaltensweisen, die auf ihren Ausflügen bald zur Routine zwischen den beiden werden.

Erkundungen zwischen Brutalismus und Hähnchengrill

So liest Weber bei ihren Ausflügen immer wieder unterschiedliche Fundstücke auf, die ihr neben den Notizen als Erinnerungen an die Ausflüge zu dienen. Auch kehren die beiden Flaneure immer wieder in der Kneipe von Rachid ein, dessen Kosmos an eigenwilligen Gästen sich für die beiden ebenso öffnet wie die Welten, durch die sie spazieren und von denen Weber uns erzählt.

Es sind Welten zwischen Hoffnungslosigkeit und gesellschaftlicher Abgrenzung, Welten zwischen dem kalten Brutalismus einer Wohnanlage „Les Espaces d’Abraxas“ in Noisy-le-Grand und dem Viertel von Saint-Ouen, in dem man sich fast schon wieder in Paris wähnen könnte.

Dabei dokumentiert Bannmeilen vor allem einen Bild des Durcheinanders und Nebeneinanders auf kleinem Raum. Moscheen, Synagogen, tamilische Communitys, Schwarzafrikaner oder Menschen aus Maghreb-Staaten, dazu große Supermärkte und kleine Cafés, gigantische Wohnblöcke mitsamt winziger Balkone, Drogen, zu Hähnchengrills umfunktionierten Einkaufswagen, viel Schutt und immer wieder Autobahnen, die die Gebiete durchschneiden.

Es ist ein Bild der Uneinheitlichkeit, das auch eine soziologische Note besitzt, etwa wenn Weber die Koexistenz unterschiedlichen Einwanderergruppen beschreibt, die sich trotz der räumlichen Enge gegenseitig abgrenzen, oder vom Erbe des Kolonialismus in Algerien erzählt, der bis heute auf die französische Gesellschaft einwirkt. So lassen sich die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte in Frankreich, die Verachtung und Ignoranz für die Banlieues und die sich im Kreis drehenden gesellschaftlichen Debatten über diese Welten nach der Lektüre von Webers Erkundungen zumindest in Ansätzen etwas besser verstehen.

Ein Marathonläufer, chouffeurs – und ein wenig Monotonie

Verbunden wird all das mit Leitmotiven wie dem vergessenen algerische Marathonläufer Boughéra El Ouafi, dessen Spuren sie auf ihren Streifzügen durch die Viertel immer wieder begegnen oder den chouffeurs, jenen Alarmposten, die sich über akustische Meldeketten verständigen, um das Nahen von Polizei in den Banlieues anzukündigen. So entstehen in Bannmeilen ein dichtes Beschreibungsbild jener terra incognita außerhalb der périphérique, das sonst meist nur in Klischees und Zerrbildern existiert.

Dass das Ganze dabei abgesehen vom beschriebenen Inhalt in seiner Form nicht recht abwechselt, sich Spaziergang an Spaziergang mit immergleichen Ritualen und viel Frotzeleien reiht, macht das Buch neben aller blicklichen und beschreibenden Genauigkeit zugleich etwas gleichförmig, um nicht zu sagen monoton.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Anne Weber eine neugierige und genaue beobachtende Reiseleiterin in diese Welt im Nordosten Paris, die mit ihren Schilderungen nicht nur die so unterschiedlichen Lebenswelten dort beleuchtet, sondern zugleich auch eine Welt im Untergang dokumentiert, die spätestens nach den Olympischen Spielen in wenigen Monaten endgültig Geschichte sein wird.


  • Anne Weber – Bannmeilen
  • ISBN 978-3-7518-0955-9 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 301 Seiten. Preis: 25,00 €
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Mathias Enard – Kompass

Vom Weben von Brücken zwischen dem Orient und dem Okzident. Davon handelt Mathias Enards wissensatter (und manchmal schon fast wissensübersättigter) Roman Kompass, für den der französische Schriftsteller 2015 den Prix Goncourt zugesprochen bekam und der von Wien bis nach Palmyra führt.


Kompass ist einer jener Romane, bei denen sich die gesamte Handlung über lediglich einen Tag erstreckt – oder im Falle von Enards Buch eine einzige Nacht. Die durchwacht der von Krankheit und Gedanken gepeinigte Erzähler Franz Ritter in seiner Wiener Wohnung. Wach hält ihn nicht nur seiner Körper – sondern vor allem Erlebtes und Geschichten, die ihm permanent durch den Kopf geistern und an denen er uns teilhaben lässt. So ensteht eine Gedanken- und Erinnerungswelt irgendwo zwischen Fiebertraum, Opiumrausch und Scheherazade.

Es sind vor allem zwei Themen, die Ritters schlaflose Nacht begleiten und bestimmen: zuvorderst ist es sein Lebensthema des Orientalismus, dem er als Musikwissenschaftler seine akadamische Karriere gewidmet hat. Von Jules Massenet über Félicien David zu Mozarts Alla Turca wandern seine Gedanken und stellen Verbindungen zwischen den Werken und Einflüssen her, wie es die Komponisten selbst mit der Klangwelt des Orients und des Okzidents taten.

Doch nicht nur in dieser Hinsicht versucht sich Ritter am Brückenschlag zwischen den beiden Welten. Auch sein Leben und sein Begehren der Orientalistin Sarah sorgt für eine Synthese des Ostens und des Westens. Denn immer wieder kreuzte er den Lebensweg der Forscherin, begab sich einst mit ihr in die Wüste und nach Palmyra – begegnete ihr aber auch in seiner österreichischen Heimat, wo beide etwa an einem Symposium in der Steiermark teilnahmen. Dort, in der Wohnstatt des berühmten Orientalisten Hammer-Purgstall, trafen die beiden Forschenden mit ihren Lebensthemen der Orientalistik und der Musik einmal mehr aufeinander – und verstärkten so die zwischenmenschliche Verbindung und Verflechtung ihrer Leben.

Brückenschlag zwischen Orient und Okzident

Überhaupt, das Thema der Verbindung, des Gemeinsamen, des Gespiegelten, des Brückenschlags zwischen (scheinbar) verschiedenen Polen, das kennzeichnet Kompass zuvorderst. Nicht umsonst eröffnet dieser sprachmächtige, von Holger Fock und Sabine Müller ins Deutsche übertragene Roman mit dem Bild einer Spiegelung, der sich Franz Ritter nächtens in der Fensterscheibe seiner Wohnung gegenübersieht.

Mathias Enard - Kompass (Cover)

Immer wieder spürt Ritter in seinen nächtlichen Kontemplationen dem Komplementären nach, wandern seine Gedanken aus der Wohnung hinaus auf die gegenüberliegende Seite der Welt. Die Beschäftigung mit dem eigenen Werdegang, seiner Bildung und Studienzeit, die Begegnung mit besonderen Individuen, im Laufe der Zeit – und immer wieder zu Sarah. Das ist die Welt, die Enards Kompass zeigt und beschreibt.

Ein Kompass wäre manchmal auch für den Roman selbst allerdings eine gute Idee. Denn der Roman leidet bei aller Statik von Ritters Situation und der permanente Durchmessung von Vergangenheit, Erinnertem und Erlebtem unter einer Fülle an Kultur und Wissen, die nicht nur bildungsgesättigt und stupend ist – sondern manchmal schon etwas zu überwältigend.

Denn Mathias Enard ist tatsächlich in der Lage, diese wissenspralle und sprachlich schwindelnd machende Stilistik über 400 enge Seiten beizuhalten und so die Lektüre auch zu einer Herausforderung in Sachen Lesedisziplin und Aufmerksamkeit werden zu lassen.

Eine Fülle an Figuren, historischer Episoden und Wissen

Schnell wechseln sich in diesem wilden Gedankenstrom und Wissenstrudeln die ungemein gebildete Betrachtungen Ritters ab, stellen Verbindungen her und zitieren eine Unmenge vom Orient faszinierter westlicher Figuren, von Begründer der arischen Rassenlehre und einst im Iran tätigen Graf Gobineau über die Schweizer Schritstellerin Annemarie Schwarzenbach bis hin zu Marga d’Andurain, der „Königin von Palmyra“.

Zur Lektüre von Kompass empfiehlt sich ein Notizblock oder besser noch ein geöffnetes Browserfenster, um die Hintergründe der angerissenen Schicksale oder Werke etwas ausführlicher zu recherchieren. So faszinieren unter anderem etwa die auch von Steffen Kopetzky erzählte Geschichte des Plans eines deutschen Dschihad, das Wirken von Robert Musils Bruder Alois Musil als zeitweiliger Gegenspieler von T. E. Lawrence, die Geschichte der „Halbmondlager“ bis hin zum unglaublichen Fall von Draculas Urahnen in der Steiermark, die Mathias Enard in diesem barocken Wissensstrudel nur streift, die wiederum aber selbst wieder ganz eigene Welten eröffnen.

Auch weitet die Lektüre von Enards Buch den eigenen musikalischen Horizont immens und schließt auch hier neue Klangwelten auf, wenn man sich denn auf die teilweise doch recht apokryphen Komponisten und ihre Werke einlässt, etwa in Form der heute so gut wie vergessenen sinfonische Dichtung Le desert von Félicien David, in der er eine Symbiose der Klangwelten des Orients und des Okzidents versuchte. Kompass ist voller solcher Entdeckungen, wenn man sich von Mathias Enard dazu verführen lässt.

Fazit

Man sollte sich Zeit und Geduld nehmen, um den ganzen Bildungsfäden zu folgen, die Mathias Enard in dieses dichte Bildungsgewebe namens Kompass webt. Vergangenheit und Gegenwart, Orient und Okzident, Begehren und Unerreichtes, Poesie, Reportagen, Bilder, Nachtgedanken und Erinnerungen verbinden sich hier zu einer herausfordernden, manchmal überwältigenden, manchmal anstrengenden, aber immer lohnenswerten Lektüre, für die der hochgebildete Franzose nicht umsonst 2015 den Prix Goncourt errang.


  • Mathias Enard – Kompass
  • Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
  • ISBN 978-3-446-25315-5 (Hanser Berlin)
  • 432 Seiten. Preis: 25,00 €
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