Dass das Leben in einem Cottage in Großbritannien nicht unbedingt etwas mit Beatrix Potter-haften Romantik zu tun haben muss, das beweist die britische Autorin Claire Fuller in ihrem Roman Jeanie und Julius eindrücklich. Sie zeigt ein Geschwisterpaar weit unter der Armutsgrenze und deren Kampf um ein selbstbestimmtes Leben.
Auch wenn es momentan die unsäglichen rassistischen Ausschreitungen sind, die das Bild von Großbritannien in den Medien dominieren, gibt es noch viele hartnäckige Bilder, die sich längst von der Realität abgelöst haben. Monarchie, Cool Britannia, bezaubernde Landschaften wie die Cotswolds oder Cornwall, dazu noch gut gekleidete Menschen in Landhäusern und Geselligkeit quer über alle Klassen hinweg bei einem Pint im Pub. Es ist ein verklärtes Bild von England, das auch immer noch von Serien wie Inspector Barnaby oder auch hier auf dem Blog immer wieder gefeiert wird.
Dass die Realität in Großbritannien längst eine andere ist, zeigt auch Claire Fullers Roman Jeanie und Julius. Zwar bedient dieser Roman auch auf den ersten Blick einige England-Klischees, biegt dann aber doch in eine andere, deutlich sozialrealistischere Richtung ab.
Ein plötzlicher Todesfall
So weckt die Begriffskette Familie-Geschwister-Cottage-Garten-Dorf im Hinterland wahrscheinlich zunächst romantische Erinnerungen an die Welt einer Beatrix Potter und ihres Peter Rabbit. Ein verwunschenes Häuschen mit dampfenden Teekessel auf dem Herd, Blumenreihen und dazu einen Acker mit viel Gemüse und anderer Pflanzen vor dem Haus. Doch Claire Fuller zertrümmert diese Illusionen schnell. Denn ihr Roman setzt gleich mit dem Tod ein. So stirbt auf den ersten Seiten Dot, die Mutter von Jeanie und Julius, an einem Herzinfarkt im heimischen Cottage. Und auch das Cottage selbst ist keineswegs pittoresk und wohnlich – vielmehr gleicht es eher einer bewohnten Ruine, in der sich nach dem Tod der Mutter die 51 Jahre alten Zwillinge Jeanie und Julius nun zu zweit den Platz teilen.
Schon der Todesfall stellt die Geschwister vor große Probleme, denn sie haben überhaupt kein Geld, um sich eine Beerdigung, geschweige denn überhaupt einen Totenschein für 11 Pfund zu leisten. Denn die Familie Seeder lebt weit unter der Armutsgrenze, wie Claire Fuller im Lauf des Romans anschaulich zeigt.
Julius schlägt sich als Hilfsarbeiter durch und verdient dabei nur ein kleines Handgeld. Jeanie lebte bislang davon, das selbst angebaute Gemüse aus dem heimischen Garten als Direktvermarkterin an ein paar Abnehmer im Dorf zu verkaufen. Doch zum Leben reicht all das überhaupt nicht. Kein Geld für einen Sarg, überhaupt für einen vernünftigen Einkauf, noch dazu ist der Strom im Cottage schon lange abgestellt worden. Die beiden Geschwister können keine Rechnungen bezahlen und teilen damit das Schicksal von über 4 Millionen Briten, die nicht einmal mehr Stromrechnungen bezahlen können. Insgesamt sind es sogar über 15 Millionen Briten, die arm sind oder noch unterhalb der Armutsgrenze Leben – Tendenz steigend.
Jeanie und Julius im Abwärtsstrudel der Armut
Diese gerne übersehene Armut, der Kampf um Würde und die Scheu, Hilfe anzunehmen, Claire Fuller beschreibt all das nachvollziehbar und plastisch. Denn je mehr sich offenbart, wie verschuldet ihre Mutter tatsächlich war, umso tiefer geraten die Geschwister in einen Abwärtsstrudel. Nach und nach tauchen nicht nur Gläubiger auf, bei denen sich ihre Mutter Geld geliehen hat. Auch die Besitzer des Gutshauses, auf deren Gelände das Cottage steht, drohen mit einer Zwangsräumung. Und das, obwohl nach dem Tod des Vaters der übrigen Familie Seeder eigentlich ein lebenslanges Bleiberecht ohne Kosten zugesichert worden war.
Jeanie und Julius lockt mit seinem eigentlich recht malerisch und leicht daherkommenden Äußeren auf eine völlig falsche Fährte. Claire Fuller hat einen harten und sozialrealistischen Roman über ein Geschwisterpaar geschrieben, das allen Halt und Gewissheit verliert. Der Abstieg der beiden und ihr Kampf um Würde und Selbstbestimmung in einer fast ausweglosen Situation, er beeindruckt und bleibt im Gedächtnis, da das Buch auch Platz für feine Schattierungen und Hoffnung findet.
Fazit
Wieder einmal gelingt Claire Fuller ein genau beobachtendes Buch, das die neuen Gegebenheiten in Großbritannien entgegen aller hartnäckigen Klischees nicht ausspart und so einen Roman schafft, dessen Geschichte und dessen Held*innen im Kopf bleiben. Ihr gelingt es, diese wirklich der ökonomischen Unterschicht zugehörigen Figuren klar zu zeigen, ohne sie aber in irgendeiner Form bloßzustellen.
Sie setzt den oftmals Übersehenen und Vergessenen hier ein literarisches Denkmal und stellt sich damit auch in eine Traditionslinie etwa von Charles Dickens und dessen Sozialrealismus von David Copperfield bis zu Oliver Twist. Damit gelingt ihr einen wohltuenden Gegenpol zur gegenwärtigen Gepflogenheit, Romanpersonal überwiegend aus der Mittelschicht oder gleich aus der Oberschicht zu rekrutieren.
Die souveräne Übersetzung von Andrea O’Brien tut hier ihr Übriges zur Qualität dieses bestrickenden Romans dazu.
- Claire Fuller – Jeanie und Julius
- Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
- ISBN 978-3-910372-23-8 (Kjona-Verlag)
- 336 Seiten. Preis: 23,00 €