Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken

Ein Wolkenkratzer, eine Brücke über kilometerlange Schluchten oder ein Tunnel durch ein ganzes Gebirge – alles nichts gegen diesen Plan, von dem Matthias Lohre in seinem Romandebüt erzählt: das Mittelmeer durch Dämme und Wasserkraftwerke zähmen und absenken, um in der Folge Afrika und Europa zu einem Kontinent zu vereinen, für Friede, Wohlstand und Reichtum. Das ist fürwahr Der kühnste Plan seit Menschengedenken, den sein Held Hermann Sörgel verfolgt.


Nur 14 Kilometer sind es, die den afrikanischen vom europäischen Kontinent in der Meerenge von Gibraltar trennen. Wie wäre es, diese beiden Kontinente durch einen gewaltigen Damm zu verbinden und damit den Nachschub von Wassermassen aus dem Atlantik zu unterbinden? Der sonstige Zulauf von Wasser in das Mittelmeer wäre zu vernachlässigen und könnte mit Wasserkraftwerken sogar noch genutzt werden, ehe über die Zeit das ganze Becken austrocknen würde und so Landmasse für Millionen freilegen würde. Stromnetze von Afrika bis Europa, freier Handel, eventuell noch eine Wasserfläche um Venedig herum und ein paar Seen in den afrikanischen Wüsten – damit wäre allen gedient. Die Afrikaner könnten an europäischem Wohlstand und am Handel partizipieren, die Europäer erhielten Fläche für Nahrungsanbau und Siedlungsgebiete. Das ist die kühne Idee, die Hermann Sörgel entwickelt hat.

Panropa bzw. Atlantropa-Plan Hermann Sörgels

Sein Vater sorgte einst für den Bau des Walchenseekraftwerks, der Sohn will mit einer eigenen Idee aus dem Schatten seines vom bayerischen König in den Ritterstand erhobenen Vaters treten. Der 1885 in Regensburg geborene Sörgel ist sich sicher, dass eine solche gewaltige Idee, ein solches Gemeinschaftsprojekt alle europäischen Nationen fordern würde, die folglich gar keine Zeit mehr für Kriegsvorbereitungen und Säbelrasseln hätten. Frieden durch Panropa, so die Idee des verhinderten Architekten, die er in der Zeit der Weimarer Republik propagiert.

Ein Friedensprojekt in schwierigen Zeiten

Matthias Lohre - Der kühnste Plan seit Menschengedenken (Cover)

Als Unterstützerin seiner Pläne weiß Sörgel seine Frau Irene an seiner Seite. Er hat sie 1925 auf einer Schiffsreise nach Amerika kennengelernt und sie kurze Zeit später geehelicht. Selbst aus einer schwierigen Verhältnissen stammend hilft sie Sörgel bei seinen Auftritten und steht ihm in Krisen und Selbstzweifeln zur Seite. Langsam nimmt Sörgels Idee Fahrt auf, er wirbt landauf, landab für das Projekt und gründet mit Unterstützern auch einen Verein für Panropa.

Doch Deutschland stehen schwierige Zeiten bevor – und ein Projekt, das von Frieden kündet ist nicht unbedingt das, was die kommenden Machthaber goutieren. was Um seine Idee weiterzuverfolgen, geht Sörgel über Grenzen und setzt auch seine Partnerschaft mit Irene schwersten Belastungen aus.

Ein mehr als überzeugendes Debüt

Mit Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist Matthias Lohre ein ebenso kenntnisreicher, wie literarisch überzeugender und anrührender Roman gelungen. Denn er verlässt sich nicht nur auf die fantastischen Geschichte des Panropa- oder späteren Atlantropa-Plans, sondern gestaltet auch den Rahmen jenes Plans und die Lebenswelt seines Erschaffers überzeugend.

Großartig ist es, wie Matthias Lohre von der Zeit erzählt, die auf Sörgels Plan und seine Beziehung einwirkt. Von der brodelnden Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Zeit des Nationalsozialismus und des II. Weltkriegs gestaltet der 1976 geborene Autor seine Erzählwelt großartig und eindringlich. Egal ob Amerika in den 20ern, München während der Nazi-Herrschaft oder Oberstdorf in den letzten Kriegstagen – stets prägt ein Gefühl von Authentizität und Unmittelbarkeit die Lektüre. Dass Lohre als Autor von Sachbüchern über Kriegsenkel und die Zeit des Nationalsozialismus sowie von Recherchen für zeithistorische Magazine bereits hervorgetreten ist, kann nur als zuträglich für die Lektüre gewertet werden.

Doch abseits der historisch verbürgten Fakten und des Zeitkolorits ist es auch die Psychologie der Figuren, die Lohre zusätzlich großartig gelingt und die mein Urteil des Buchs entscheidend prägt. So gelingt es ihm, die Lebenswelten seiner beiden Hauptfiguren und deren schwierige Dynamiken plausibel zu schildern. Nähe und der Wunsch nach einem Kind prägen vor allem von Seiten Irenes aus die Partnerschaft. Gleichzeitig schmieden beide Parteien immer wieder Pläne hinter dem Rücken des jeweiligen anderen und ergehen sich in Heimlichkeiten oder Täuschungen.

Ambivalente Figuren inmitten von Zeitkolorit

Hermann Sörgel (Bildquelle: Wikipedia)
Hermann Sörgel

Matthias Lohre vermag es, die Figur des Hermann Sörgel so ambivalent zu schildern, dass man sich scheut, diesen als „Helden“ des Buchs zu bezeichnen. Man versteht diesen Utopisten, Opportunisten, Egomane, Wolkentänzer (und noch so vieles mehr) gleichzeitig, währenddessen sein striktes Beharren auf seine Pläne und Ignorieren der Umwelt nur noch den Kopf schütteln lässt. Besitzt Sörgel die Idee zu Altantropa oder ist nicht in Wahrheit der Plan, der schon von Sörgel Besitz ergriffen hat und der ihn sich sogar den Nazis andienen lässt?

Diese Ambiguität in der Figurengestaltung gelingt Lohre auch in Sörgels Konterpart Irene. Sie, die aufgrund ihres geburtsrechtlichen Status als Jüdin ab dem Ende der 20er Jahre zunehmend gefährdet ist, versteht man, wenngleich ihr Verharren an Sörgels Seite auch den Kopf schütteln lässt. Immer enger zieht sich die Schlinge um ihren Hals, während ihr Mann zur Realisierung seiner Pläne die Kooperation mit den Nationalsozialisten sucht. Sämtliche Versuche einer Flucht scheitern wahlweise an den Umständen oder Sörgels Passivität. Und doch versteht man dieses Paar und fühlt mit ihnen.

Fazit

Beeindruckend, wie Lohre gleich in diesem Debüt plastische und lebensechte Figuren erschafft, die manchmal kaum aushaltbar scheinen und wie er von einer Idee erzählt, die einen Mann und dessen Frau gleich mit verschlingt. Der kühnste Plan seit Menschengedenken ist eine Geschichtsstunde über einen größenwahnsinnigen Plan (von dem zumindest ich hier zum ersten Mal hörte, wenngleich er sogar in Erich Kästners Fabian schon Erwähnung findet).

Aber es ist eben auch deutlich mehr, da er sich nicht nur im Deskriptiven ergeht, sondern eben ganz hineinfühlt in den Erfinder des Plans, dessen Zögern, Zaudern und Taktieren, das sein ganzes Leben und damit auch das seiner Frau prägen wird. Ein ganz starkes Literaturdebüt, das ich auf die Liste des vergangenen Deutschen Buchpreises gepackt hätte, hätte ich irgendetwas in diesem Literaturbetrieb zu sagen.


  • Matthias Lohre – Der kühnste Plan seit Menschengedenken
  • ISBN 978-3-8031-3336-6 (Wagenbach)
  • 474 Seiten. Preis: 26,00 €
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Nadifa Mohamed – Der Geist von Tiger Bay

I bought a ticket of a lifetime
There’s no denying who I am
Forever young, I will stay
The girl from Tiger Bay

Shirley Bassey – The Girl from Tiger Bay

So besingt Shirley Bassey ihre Herkunft in dem Song The Girl from Tiger Bay. Tiger Bay, diesen Namen trägt das Hafenviertel der walisischen Stadt Cardiff, in dem die Sängerin aufwuchs und dem sie in ihrem Song ein Denkmal setzt. Auch Nadifa Mohamed erzählt von diesem multiethnischen Schmelztiegel im Jahr 1952 und gönnt dabei auch dem späteren Weltstar Bassey einen Kurzauftritt, die hier in einer kleinen Kneipe auftreten und singen darf.

Von Romantik und Verklärung, die Basseys Hymne an ihr Heimatviertel prägt, ist im Roman von Nadifa Mohamed allerdings keine Spur. Stattdessen inszeniert sie dieses Tiger Bay als engen und drückenden Vielvölkerstaat, in dem verschiedene Ethnien und soziale Schichten auf wenig Platz miteinander auskommen und sich arrangieren müssen. Bei Mohamed schwebt stets ein Gefühl der Bedrohung und Vergänglichkeit über diesem Stück von Cardiff.

Dieses Fleckchen Erde, dem Marschland abgerungen und unter den Fundamenten immer noch nicht fest, ist ihre einzige Zuflucht. Doch die Feuchtigkeit kriecht nagend sämtliche Geäude hoch und mahnt die Bewohner, dass sie nicht hierhergehören, das Meer sich eines Tages ihr Heim zurückholt.

Nadifa Mohamed – Der Geist von Tiger Bay, S. 58

Ein Mord in Tiger Bay

Nadifa Mohamed - Der Geist von Tiger Bay (Cover)

Wir schreiben das Jahr 1952. Gerade ist der englische König George VI. verstorben, Prinzessin Elizabeth wird ihm auf dem Thron nachfolgen. Seit sieben Jahren ist Mahmood Hussein Bewohner von Tiger Bay. Auf verschlungenen Wegen kam er aus Britisch-Somaliland nach Cardiff, ließ dort seine Mutter und Brüder zurück und heuerte auf verschiedenen Schiffen an. Inzwischen ist er sesshafter geworden, hat eine Einheimische gegen den Willen deren Familie geehelicht und ist Vater von drei Kindern.

Trotz seiner Familie geht er keinem geregelten Beruf nach, lässt sich durch Kneipe treiben, verjubelt sein Geld, sobald er es besitzt, setzt auf Pferdewetten und wird im Viertel „Der Geist von Tiger Bay“ gerufen. Als es zum Mord an einer jüdischen Ladenbesitzerin kommt, ist für die Polizei und Justiz in Cardiff der Fall schnell klar. Den heimtückischen Mord kann nur der halbseidene Geist von Tiger Bay verübt haben. Und so wird Mahmood Mattan inhaftiert und ihm der Prozess gemacht. Dass er sich nach seiner Festnahme in Lügen, Widersprüche verwickelt und alles andere als einsichtig ist, macht die Sache nicht besser.

Historisches Unrecht

In ihrem Roman zeichnet die 1981 in Somalia geborene Autorin den historisch verbürgten Fall des Mahmood Hussein Mattan nach. Dieser war erste Fall, den sich die neugegründete Criminal Cases Review Commission im Jahr 1998 noch einmal vornahm, über einen möglichen Justizirrtum zu befinden – 46 Jahre nach Mattans Tod. In Der Geist von Tiger Bay rollt sie den Fall ähnlich wie die Kommission noch einmal auf, allerdings mit literarischen anstelle von juristischen Mitteln.

So konzentriert sie sich auf Mahmood Mattans Leben und lässt daneben auch noch die Familie der ermordeten Violet Volacki zu Wort kommen. Sie inszeniert gemächlich die Stimmung und Atmosphäre in Tiger Bay, nimmt sich Zeit für die biographischen Hintergründe von potentiellem Täter und Opfer, die bis in die Zeit der Reichskristallnächte reichen. Daneben zeichnet sie auch ein Bild des vielfältigen Rassismus der Zeit des 20. Jahrhunderts, indem etwa ein Mahmoods Freund und Barbesitzer Berlin von seinen Erfahrungen als Schwarzer bei der Hagenbeck’schen Völkerschauen erzählt.

Langsam entwickelt sich das Buch von der Ausgangssituation über die Inhaftierung Mattans bis hin zum Prozess, in dem Nadifa Mohamed auch Zeugenaussagen in den Text einbringt. Dass es mit dem widerständigen und halbseidenen Geist von Tiger Bay kein gutes Ende nimmt, das zeigt schon die Geschichte. In ihrem Buch wird aber die ganze Wucht und Hintergrundgeschichte mit dem Mittel der Fiktionalisierung noch einmal ganz direkt erlebbar. Die Polizei und Justiz, die nur sehen wollen, was sie sehen, dass rassistische Umfeld, die somalische Gemeinde und alle anderen Beteiligten bekommen hier ihren Platz und werden in die Geschichte eines großen Justizirrtums eingebunden (beileibe im Übrigen nicht der einzige Fall eines Justizirrtums aus Tiger Bay, wie der Fall der Cardiff Five zeigt)

Keine ganz gelungene Übersetzung

Leider ist die Übersetzung in meinen Augen nicht ganz gelungen, ständig ist neben vielfältigem rassistischen Vokabular die Rede auch von Farbigen, wenn doch eigentlich Schwarze gemeint sind. Auch wird aus dem Charakter Monday dann schon mal Montag, was mich im Lesefluss dann doch recht stutzen ließ. Diese kleinen Inkonsistenzen und eigenwilligen Übertragungen zeigen auch hier, wie schwierig die angemessene Übertragung solcher Begriffe und Idiomen die deutsche Leserschaft ist (was ja nicht nur hier der Fall ist, sondern auch in anderen Übersetzungen zeigt, dass uns im Deutschen noch immer noch nur unzureichendes Vokabular zur Verfügung steht beziehungsweise die Debatten über angemessene Übertragungen kaum in Gang kommen).

Das schmälerte meinen Genuss der Lektüre etwas, dennoch hat Der Geist von Tiger Bay durch seinen historischen Hintergrund und den Einblick in das gedrängte Treiben dort im Hafenviertel von Cardiff spätestens ab der Hälfte Wucht und lässt einen nach dem Ende der Lektüre bedrückt zurück. Die Geschichte eines Justizirrtums und ein Blick in tief hinein in die Tiger Bay im Jahr 1952.


  • Nadifa Mohamed – Der Geist von Tiger Bay
  • Aus dem Englischen von Susann Urban
  • ISBN 978-3-406-77682-3 (C.H. Beck)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €

Quelle Titelbild: https://www.walesonline.co.uk/lifestyle/nostalgia/remembering-tiger-bay-historic-pictures-9927141

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Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort

Die Kunst der Rede, sie hat es Sönke Wortmann ganz offensichtlich angetan. Im vergangenen Jahr adaptierte er nach der Komödie „Der Vorname“ im Jahr 2018 nun den nächsten Film aus Frankreich. So wurde aus der französischen Komödie „Le Brio“ der deutsche Film „Kontra“ mit Nilam Farooq und Christoph Maria Herbst. Darin diskriminiert ein Rhetorikprofessor eine Studentin und muss sie zur Wiedergutmachung für einen Debattierwettbewerb vorbereiten.

Offensichtlich war es Sönke Wortmann nicht genug, die Kunst der Rede filmisch einzufangen. So verfasste er mit Es gilt das gesprochene Wort auch noch seinen ersten Roman, der sich mit diesem Thema beschäftigt.

Im Mittelpunkt des Buchs steht Franz-Josef Klenke, der als Redenschreiber des deutschen Außenministers Hans Behring fungiert. Er formuliert die Reden des Ministers, setzt sich im Vorfeld mit den jeweiligen Rahmen der Reden auseinander und wirkt im Schatten, um den Politiker glänzen zu lassen. Eigentlich stammt er aus der Werbebranche, war mit einer Agentur in die Wahlkampagne um Peer Steinbrück im Bundestagswahlkampf 2013 eingebunden und kam danach zu seinem Job im Dienste des Ministers.

Ein Abend in Marokko

Sönke Wortmann - Es gilt das gesprochene Wort (Cover)

Liiert ist er mit Maria, die er bei einem Termin des Außenministers in Krakau kennengelernt hat. Sie leidet unter selektivem Mutismus, das Sprechen unter Druck und mit unbekannten Personen ist ihr kaum möglich. Im Privaten mit Klenke kann sie sprechen, in der Öffentlichkeit hingegen ist sie wie gelähmt und kann sich nicht artikulieren. Das gegensätzliche Paar plant nun einen privaten Urlaub im Anschluss an einen Termin des Außenministers in Marokko.

Dort vor Ort erwartet sie die dritte Hauptfigur, die Sönke Wortmann in den Mittelpunkt stellt. Es handelt sich um den Diplomaten Cornelius von Schröder. Dieser fristet unzufrieden sein Botschaftsleben in Rabat. Von seiner Frau Marysol hat er sich entfremdet und hadert mit seinem Leben. Der Job, sein Einsatzgebiet, sein Familienleben – all das bedeutet ihm nur noch Verdruss, weshalb er sich in Fremdenfeindlichkeit, Verschwörungstheorien und rechten Hass hineinsteigert. Auf einem Delegationsabend treffen alle drei Figuren dann dort in Marokko aufeinander – mit folgenschweren Konsequenzen.

Ein Gefühl der Unentschiedenheit

Was wollte Sönke Wortmann mit seinem Buch sagen? So ganz kann ich es nach der Lektüre von Es gilt das gesprochene Wort nicht sagen. Über dem ganzen Buch schwebt ein Gefühl der Unentschiedenheit. Es mag sich alles nicht so recht fügen. Da ist das Porträt des Redenschreibers Franz Josef-Klenke mit seinem Job im Schatten. Hier wagt Sönke Wortmann einen Blick hinter die Kulissen des politischen Tagesgeschehens. Er erzählt von Menschen mit Idealen mitten im Machtapparat der Politik und stützt sich dabei auch auf wahre Ereignisse, wie etwa den Bundestagswahlkampf 2013, der Klenke zu seinem Job im Auswärtigen Amt brachte.

Dann ist da aber auch die Liebesgeschichte zwischen der nahezu stummen Maria und dem mit Rhetorik befassten Klenke, die von Wortmann reichlich oberflächlich geschildert wird. Wenn Maria Klenke sieht, schlägt hier das Herz schnell (S. 226). Das kann man so formulieren, es ist aber in seiner Gesamtheit weder originell noch überzeugend. Literarisch gesehen ist das ganze Buch doch auch eher einfache Hausmannskost denn elegant formulierte und tiefenscharf herausgearbeitete Prosa.

Vom Fehlen eines überzeugenden Zugriffs

Immer wieder springt Wortmann von Figur zu Figur, fügt währenddessen die Reden ein, die Klenke dem Minister formuliert hat und in denen aktuelle politische Probleme betrachtet werden. Dann will Wortmann aber auch das Abgleiten des Botschaftsmitarbeiter von Schröder in den Radikalismus schildern und aktuelle geopolitische Verwerfungen nachzeichnen. Gegen all das wäre nichts zu sagen, wenn diese Aspekte auch nicht ebenso wie die Liebesgeschichte nur an der Oberfläche der Dinge kratzen würden. Alles hier würde eine vertiefende Behandlung vertragen, stattdessen bleibt Wortmann im Ungefähren und wagt es nicht, den Dingen wirklich auf den Grund zu gehen. Nichts bleibt hier nachhaltig im Kopf, weder die Romanze, noch die Radikalisierung, noch der Clash in Marokko.

Man wünscht sich, Wortmann hätte den Mut gehabt, sich für einen Aspekte seines Romans zu entscheiden, und diesen mit der gebotenen Sorgfalt behandelt. So bleibt das Gefühlt, dass dem Regisseur sein Material entglitten ist und er keinen wirklichen Zugang oder eine überzeugende Formsprache für seinen Plot gefunden hat. Das ist schade, da die behandelten Themen eigentlich hochinteressant sind. Und auch über die Politik und das Geschäft mit ihr gäbe es viel Spannendes zu sagen, wie es etwa Nora Bossong in ihrem Roman Schutzzone gezeigt hat. Hinter diesem Werk bleibt Sönke Wortmann leider mit großen Abstand zurück und vermag es nicht, seinen Stoff in ein überzeugendes Buch zu verwandeln.

Fazit

Trotz vielversprechender Anlagen gelingt es Sönke Wortmann nicht, seine Themen zu einem überzeugenden Roman zu runden. Es gilt das gesprochene Wort ist von einem Gefühl der Unentschiedenheit und literarischen Belanglosigkeit geprägt, das das Buch schnell wieder vergessen lässt.


  • Sönke Wortmann – Es gilt das gesprochene Wort
  • ISBN 978-3-550-20059-5 (Ullstein)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €

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Die Jahresendbilanz 2021

2022 steht vor der Tür – somit gibt es hier am vorletzten Tag des Jahres einen kleinen Rückblick auf mein persönliches Jahr in der Buch-Haltung. Die Jahresend-Bilanz steht an.

Zuerst gilt es Dank zu sagen an alle Mitlesenden. Sogar eine Handvoll Rückmeldungen trudelten das Jahr über ein, worüber ich mich sehr freute! Sie belohnen für die stille Arbeit, die zumeist doch recht reaktionslos in den digitalen Weiten verpufft.. Ruft die ein oder andere Besprechung doch eine Rückmeldung oder Meinung hervor, dann freut mich das besonders.

Rein objektiv hat konnte der Blog wieder zulegen, im Vergleich zu den letzten Jahr steigerte sich der Zugriff abermals, sodass der Blog und dessen Beiträge insgesamt über 65.000 mal aufgerufen wurde. Im Vergleich zu größeren Blogs und bekannten Namen sicherlich eine geringe Zahl, ich freue mich aber dennoch über das zunehmende Interesse. Auch die Zahl der Abonnent*innen stieg 2021 erneugt, zwar nicht stark, aber auch stetig, sodass fast 550 Leserinnen und Leser diesen Blog abonniert haben. Jeweils am ersten Tag des Monats gibt es in der Früh von mir eine Mail, die alle im vergangenen Monat erschienen Beiträge bündelt und vorstellt. Der Newsletter ist kostenfrei und kann ganz einfach hier auf der rechten Seite der Homepage abonniert werden.

Die Top 10 der Beiträge

Besonders großes Interesse herrscht bei mir am Jahresende, was die Blogstatistik angeht. Welche Beiträge wurde häufig aufgerufen, welche Rezensionen interessierten nicht so sehr? Insgesamt erschienen auch dieses Jahr wieder über 100 Besprechungen, sodass reichlich Auswahl vorhanden war.

Hier meine Top 10 der am häufigsten nachgefragten Beiträge (bereinigt um alle nicht in diesem Jahr erschienen Besprechungen):

Noch spannender finde ich neben der Frage meiner persönlichen Highlights des Buchjahres (die hier beantwortet wurde) ja die Frage, welche Beiträge auf das geringste Interesse stießen. Die rote Laterne in Sachen Blog hatten dieses drei Blogbeiträge inne.

Quo vadis, Blogwelt?

Subjektiv gesprochen würde ich durchaus die Feststellung treffen, dass die Blogwelt etwas verkümmert. Dies stellte ich fest, als ich meine Abo-Empfehlungen für andere Blogs diesen Herbst überarbeitete und feststellte, auf wie vielen Blogs sich nichts oder kaum mehr etwas tut. Nicht einmal die rituelle Debatte von Blogs vs. Feuilleton wurde in diesem Jahr verhandelt. Die Frequenz der Beiträge nimmt ab, der Fokus der Blogs verändert sich und abseits von ein paar großen Namen bleibt die Sichtbarkeit der Literaturblogs und Schreibenden dahinter gering. Das kann durchaus etwas frustrieren, verschlingt die Blogarbeit doch viele Zeit- und Kraftressourcen, die man im Alltag erst einmal aufbringen muss.

Umso schöner, wenn es dann digital und real zu Begegnungen rund um das Buch kommt. Hierzu zählen für mich vor allem die Literarischen Soireen in der Stadtbücherei Augsburg, bei denen ich als Diskutant mitwirken darf und bei denen über die Frage von guter Literatur und spannender Neuerscheinungen diskutiert wird. Auch ist es schön, andere Blogger*innen wie etwa Pascal Matheus vom Blog Aufklappen zu treffen – diesen besuchte ich in der Buchhandlung Zum Wetzstein in Freiburg. Und auch wenn für mich wegen der Abordnung ins Gesundheitsamt die Buchmesse in Frankfurt ausfiel, hoffe ich auf Leipzig oder Frankfurt im kommenden Jahr.

Die Buch-Haltung im Podcast

Auch ich habe mich auf ein Feld gewagt, dass ich angesichts der Omnipräsenz und nicht immer überzeugenden Qualität der Inhalte und Darreichungsformen meiden wollte – die Rede ist von Podcasts. Als mich eine Anfrage der Augsburger Allgemeinen erreicht, ob ich nicht von meinem Beruf und meinem Hobby erzählen wollte, warf ich die Vorsätze allerdings über Bord und sprach mit Axel Hechelmann mehr als eine Stunde über Buchanfänge, besondere Kundenanfragen in Bibliotheken und die Frage, wie ich dieses Hobby hier finanziere oder ob ich davon leben könnte (Spoiler: schön wäre es…). Der Podcast findet sich unter folgendem Link:

Für die Treue und das stille Mitlesen sage ich herzlichen Dank. Und mit einem weihnachtlichen Song des amerikanischen Musikers Finneas O’Connell verabschiede ich mich an dieser Stelle, wünsche allen Mitlesenden einen guten Rutsch in ein hoffentlich ruhigeres und sorgenfreies 2022 mit viel guter Lektüre!

But here we are tonight | Drunk by the firelight | The future could be bright | Though no one’s sure about it | And if the ending’s sad | At least these times we’ve had | The good outweighs the bad | You wouldn’t know without it

Finneas O’Connell – Another year
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Kein Land für junge Frauen

Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub

Hier hat man es als Frau nicht leicht: in Odessa, einem kleinen Städtchen in West-Texas regiert 1976 das schwarze Gold und das Patriarchat. Elizabeth Wetmore erzählt in ihrem Debüt von Frauen, die den Widerspruch wagen und sich den Gepflogenheiten entgegenstellen. Wir sind dieser Staub.


Es ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. In der Wüste wird die junge Mexikanerin Gloria Ramírez von einem lokalen Taugenichts brutal vergewaltigt. Das minderjährige Mädchen schleppt sich durch die von Sand und Bohrtürmen dominierte Landschaft, bis sie auf die Farm von Mary Rose stößt. Diese ruft dem Mädchen einen Krankenwagen und erstattet Anzeige gegen den Vergewaltiger, nachdem sie dieser in ihrem eigenen Zuhause bedroht hat, um die Herausgabe des Mädchens zu erzwingen. Mary Rose beschließt, dass es reicht. Sie erstattet Anzeige gegen den Mann und läutet damit so etwas wie eine Zeitenwende ein.

Elizabeth Wetmore - Wir sind dieser Staub (Cover)

Bislang waren es die Männer, die entschieden und denen die Macht oblag. Egal ob Farmer, Öhlbohrarbeiter oder Richter – die Männer brachten das Geld nach Hause und führten das Wort. So etwas wie Gleichberechtigung ist 1976 im ländlichen Texas noch nicht in Sicht – und doch bricht sich nun auch hier die Veränderung Bahn.

Elizabeth Wetmore erzählt davon, indem sie verschiedene Frauen in den Fokus nimmt. Da ist die junge Gloria Ramírez, die sich nach der Vergewaltigung zu einer Metamorphose entschließt und künftig nur noch Glory genannt werden will. Die Ich-Erzählerin Mary Rose, die mit ihrer Rolle als Mutter und Ehefrau kämpft. Corrine, die ehemalige Lehrerin, die den krankheitsbedingten Suizid ihres Mannes nicht verwinden kann. Oder die kleine Debra Ann, die die Bekanntschaft mit einem in einem Rohr hausenden Veteranen macht. Sie alle stehen bilden stellvertretend die weibliche Gesellschaft in Odessa ab.

Wetmore zeigt dabei ein ungeschöntes Bild dieser Gesellschaft, die von Hoffnungslosigkeit, Gewalt und Flucht geprägt ist. Wer schlau genug ist, sucht möglichst schnell das Weite. Alle anderen Frauen werden schon vor ihrem 18. Geburtstag wieder Mütter und bereiten so einer weiteren Generation den Boden, die von Perspektivlosigkeit und starren Rollenmustern geprägt werden. Genau hier allerdings verheißt Mary Roses Mut, den Vergewaltiger anzuzeigen, einen möglichen Weg aus den ewigen Kreisläufen der sozialen Determination, die Odessa bislang bedeutete.

Täter-Opfer-Umkehr

Neben dem Bild der weiblichen Gesellschaft dort im amerikanischen Süden ist es auch die soziale Bewertung der Vergewaltigung, die im Mittelpunkt von Wir sind dieser Staub steht. Während die Fakten eine unmissverständliche Sprache sprechen (die Vergewaltigung hat bei Gloria sogar einen Milzriss hervorgerufen), sehen die Männer in Odessa die Lage alles andere als klar an und betreiben munter eine Täter-Opfer-Umkehr:

Das ist doch völlig klar, sagte einer [der] Männer, wir haben es hier mit zwei widersprüchlichen Darstellungen zu tun. Ein typischer Fall von Aussagen gegen Aussage. Sein Sitznachbar nippte am Bier und knallte das Glas auf den Tresen. Ich habe das Bild von der Kleinen in der Zeitung gesehen, sagte er, die war nicht vierzehn. (…)

So sind die Mexikanerinnen eben, sagte ein dritter Mann, die sind frühreif. Die Männer lachten. Oha ja, Sir! Sehr frühreif, rief einer.

Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub, S. 49 f.

Auch der Prozess selbst zeigt die Macht des Patriarchats deutlich, etwa wenn der Vorsitzende Richter die Zeugin Mary Rose bei ihrer Aussage drangsaliert und ihr seine Regeln aufzwingt.

Frauenschicksale und männliche Gewalt

Immer wieder wechselt Elizabeth Wetmore die Perspektive, erzählt von jungen und alten Frauen, von Trauer, Mutterschaft oder Freundschaft. Den einzigen kleinen Kritikpunkt, den ich hierbei anbringen möchte, ist die gleichzeitige die Uniformität und Unverbundenheit, die Wir sind dieser Staub in meinen Augen innewohnt. So klingen alle Frauen recht gleich und ihre Eindrücke und Erlebnisse sind teilweise recht unverbunden und stehen für sich. Eindrücklicher und literarisch überzeugender hat das die von mir zuletzt gelesene Ivy Pochoda in Diese Frauen geschafft, ein großes Tableau weiblichen Leidens und männlicher Gewalt zu zeichnen, das sowohl durch unterschiedliche Sprachstile als auch zugleich durch große Verbundenheit im Erleben und Schicksal überzeugt.

Auch ist die Schilderung des Prozesses nach der Vergewaltigung etwas arg plakativ und einfach geraten, sodass ich unweigerlich an den diesjährigen Gewinnertitel des Deutschen Buchpreises denken musste – ist das Sujet bei Antje Ravík Strubel und Elizabeth Wetmore doch das gleiche. Im Vergleich zu Wetmores Buch ist in Blaue Frau das Thema der Vergewaltigung doch nuancierter und feiner ausgearbeitet

Aber von solchen direkten Vergleichen abgesehen ist Wir sind dieser Staub ein zugleich historisches aber auch aktuelles Bild von männlicher und weiblicher Gesellschaft, vom Aufbrechen verkrusteter Strukturen und ein Blick ins ländliche Texas zwischen Ölboom und gewalttätiger Männlichkeit. Ein Debüt, dem man nur mit dem reichlich kitschig wirkenden Cover keinen Gefallen getan hat. Denn der Inhalt entscheidet sich hier doch deutlich von der Verpackung.

Weitere Meinungen zum Buch gibts bei Zeichen&Zeiten und Deutschlandfunk Kultur.


  • Elizabeth Wetmore – Wir sind dieser Staub
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0092-4 (Eichborn)
  • 319 Seiten. Preis: 24,00 €
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