Benedict Wells – Hard Land

Einer der auffallendsten Trends in der Literatur der letzten Jahre ist der des Booms der Coming-of-Age-Erzählungen.

„Nur was verstehen wir unter dem Begriff eigentlich?“

Niemand meldete sich. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Nun bei einem Blick in die Literaturgeschichte fällt auf, dass der klassische Held oft auf einer inneren oder äußeren Reise ist. Ausgelöst in der Regel durch ein einschneidendes Erlebnis wie Verlust oder Liebe, aber auch durch eine erste Konfrontation mit den großen menschlichen Fragen. Das alles zwingt den Helden, sich zu verändern, zu reifen und seinem alten Leben zu entwachsen. Kurz: Coming of Age.

Benedict Wells – Hard Land, S. 306

So lässt Benedict Wells in seinem Roman einen Lehrer dozieren, der den Schülern dieses Genre nahebringen will. Und schaut man auf die Bucherscheinungen der letzten Zeit bis hin zu den aktuellen Neuerscheinungen, dann muss man konstatieren: Coming of Age boomt wie selten zuvor. Egal ob Sebastian Stuertz, Ronya Othmann, Verena Guentner, Benjamin Myers, Matthias Brandt, Johann Scheerer oder ebenfalls in diesem Monat Callan Wink. Sie alle haben in jüngster Zeit Romane vorgelegt, die um ihre jugendlichen Protagonisten kreisen, deren Reifung in den Büchern nacherzählt wird, das Ganze angesiedelt meist während der Sommermonate. Und auch Benedict Wells fügt diesem langsam immer unübersichtlicher werdenden Berg an Büchern nun ein weiteres Werk hinzu. Es trägt den Namen Hard Land und spielt, wie auch schon Wells dritter Roman Fast genial, in den USA.

Willkommen in Grady

Aber im Gegensatz zu diesem Roadnovel siedelt Wells diesmal seine Erzählung in der fiktiven amerikanischen Kleinstadt Grady an. Dort lebt Wells Held und Ich-Erzähler Sam mit seinen Eltern. Der Vater ist arbeitslos, die Mutter betreibt eine Buchhandlung in der lokalen Mall und ist schwer krank. Sams ältere Schwester Jean hat der Familie schon lang den Rücken gekehrt, um als Drehbuchautorin in Los Angeles zu leben.

Wir schreiben das Jahr 1985. VHS-Kassetten boomen, das Internet ist noch weit weg, die Simple Minds liefern mit Don’t you einen der größten Hits des Jahrzehnts ab und Marty McFly wird mit Zurück in die Zukunft zum Vorbild einer ganzen Generation. In diesem Jahr passiert das, was Sam schon im ersten Satz des Buchs beschreibt.

In diesem Sommer verliebte ich mich, und meine Mutter starb.

Benedict Wells – Hard Land, S. 11

Damit ist die Rahmenhandlung des Buchs umrissen. Während Sam auf seinen 16. Geburtstag zusteuert und sich auf dem Höhepunkt der Pubertät befindet, kommt das familiäre Gefüge daheim langsam ins Rutschen. Die Mutter ist von ihrer Erkrankung schwer gezeichnet und Sam flüchtet sich zu seinem Job im Kino Metropolis. Dort lernt er eine Clique von Freunden kennen und exerziert mit ihnen all das durch, was man in einem Coming of Age-Roman eben so erleben muss: erste Liebe, Hauspartys, Mutproben, Musik machen und Baden im See.

Die 49 Geheimnisse

Wells Roman zieht seine Struktur dabei aus der erdachten Kleinstadt Grady. Diese besitzt nämlich laut der urbanen Legende 49 Geheimnisse. Folglich teilt sich das Buch auch in 49 Kapitel, deren Rahmenhandlung ja tatsächlich schon mit dem ersten Satz abgedeckt wird.

Und ja, man nimmt Benedict Wells nach der Lektüre sofort die Faszination für die „geliebten Eighties-Filme“ (so der Autor im Nachwort) ab. Breakfast Club, Zurück in die Zukunft, Stand by me. All das sind Namen, die beim Lesen des Buchs unwillkürlich auftauchen. Denn Hard Land ist Paraphrase und Pastiche dieser Filme zugleich. Eine Kleinstadt, eine Gruppe Jugendlicher, Abhängen in Kinos und Diners, ds nervige Schulleben, erste Liebe, Pubertät und unverhoffte Abenteuer. Diese Zutatenmischung verwendet Wells auch in seinem Roman – und schafft damit einen gut konsumierbaren Unterhaltungsroman, der auch als Jugendroman durchgeht.

Wells huldigt einer längst vergangenen Welt. Sein Amerika endet an den Stadtgrenzen von Grady, von einer gesellschaftlichen Spaltung ist hier noch nichts zu sehen. Auch wenn Sams Freunde aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer sexuellen Orientierung in der Kleinstadt beäugt werden – irgendwie fügt sich in Grady alles und bleibt weitestgehend harmonisch. Und selbst wenn die Themen Tod und Trauer plötzlich für Sam aktuell werden – irgendwie findet sich dann doch wieder alles. Das ist manchmal dann doch etwas banal, genauso wie der ein oder andere Dialog im Buch.

Fazit

Ein melancholisch-kindliche Ton ist kennzeichnend für Hard Land. Benedict Wells gibt dem boomenden Coming of Age-Affen Zucker und beschwört einen doppelt nostalgischen Roman herauf. Eine längst vergangene (bzw. sehr verklärte) Epoche der amerikanischen Geschichte trifft auf einen Erzähler, der seine Jugend noch einmal durchlebt. Das ist solide erzählt, weiß als Roman zu unterhalten, fügt dieser ohnehin schon übersättigen Romangattung aber keine wesentlich neuen Facetten hinzu.


  • Benedict Wells – Hard Land
  • ISBN: 978-3-257-07148-1 (Diogenes)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Nicola Kabel – Kleine Freiheit

Ein Vater und seine Tochter. Er: Alt-68er mit Pferdeschwanz und Gemeinschaftshaus im Périgord. Sie: Juristin mit Familienhaus im Grünen. Ihre unterschiedlichen Lebensmodelle, Ansichten und Widersprüche seziert Nicola Kabel in ihrem Debüt Kleine Freiheit.


Es ist ein Schreckgespenst, das den Frieden im kleinen Dorf bedroht, in dem sich die Richterin Saskia mit ihrer Familie niedergelassen hat. Dieses Schreckgespenst trägt den Namen Windpark. Ein solcher soll in der Nähe des Dorfs entstehen – und die Anwohner gehen auf die Barrikaden. Infraschall, geschredderte Zugvögel, Verlust der Attraktivität der Landschaft – all das sind Argumente, die die Dorfbewohner umtreiben. Ihre Hoffnung im Widerstand gegen das Projekt setzten sie auch auf Saskia. Schließlich ist sie Juristin, kennt sich mit Verfahren und Einsprüchen aus.

Nicola Kabel - Kleine Freiheit (Cover)

Mit Widerstand und Verfahren kennt sich auch Hans aus. Er rebellierte einst gegen das Elternhaus, zog aus, fand in einer Kommune Anschluss. Er kämpfte gegen das System, gegen das Toschweigen der Verbrechen des Nationalsozialismus und versuchte eigene Ideale durchzusetzen. Und bei allem Wunsch nach der Rebellion gegen das Establishment und all ihre starren Regeln – am Ende veränderte nicht Hans das System, sondern das System ihn.

Alleinerziehend fand er sich nach dem Weggang seiner Frau mit seinen beiden Töchtern Saskia und Sophie wieder. Seine Mandate von Protestlern und Widerständlern tauschte er schon bald gegen den Dienst in einer großen Kanzlei. Die Zeit und das Leben schliff seine jugendlichen Ideale. Aus den Kommunen und dem wilden Leben wurde ein kleines renoviertes Steinhaus im Périgord. Aus dem wilden Liebesleben und den unübersichtlichen Beziehungsverhältnissen wurde eine Liaison mit der Französin Céline. Und trotz (oder vielleicht wegen) seines turbulenten Lebens fehlt Hans nun im fortgeschrittenen Alter ein Fixpunkt im Leben. Die Bindung zu seinen Töchtern ist alles andere als stabil. So beschließt er, seine Tochter Saskia in der norddeutschen Provinz zu besuchen. Während diese im Kampf gegen den Windpark die Bekanntschaft eines deutlich mehr als konservativen Herren namens Joachim von Wedekamp macht, macht sich Hans auf den Weg in die Provinz zu seiner Tochter.

Widerstände und Anpassungen

Im Gegensatz zum thematisch ähnlich gelagerten Roman Unterleuten von Juli Zeh ist es bei Nicola Kabel etwas anderes, das sie in ihrem Buch interessiert. Sie konzentriert sich in ihrem Debüt auf die beiden Hauptfiguren Hans und Saskia, von denen sie zumeist abwechselnd erzählt. Dabei verschränkt sie kunstvoll Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander. Die Rahmenhandlung der Gegenwart unterbricht sie häufig, um vom Werdegang der beiden zu erzählen. Immer wieder schneidet sie auch mehrfach Rückblenden in die Rahmenhandlung der Kapitel. Ihre Sozialisation, ihre Ideale, die Anpassungen, die das Leben den beiden unterschiedlichen Figuren abfordert, all das sind Themen, die Nicola Kabel interessieren.

Die Frage nach Widerstand und Anpassung ist in Kleine Freiheit eine zentrale. Immer wieder kreist Nicola Kabel um diese Themen, vergleicht diese in den Leben von Vater und Tochter. Sie tut das mit knappen, aber sehr präzisen Worte. Sie versteht es, Verständnis für Hans und Saskia zu wecken, ihr Handeln und ihre Ansichten plausibel darzustellen.

Gegen diese Plastizität fallen die anderen Figuren deutlich ab. Ihr neurechter Herr von Wedekamp oder Saskias Mann Christian bleiben im Vergleich zu den kräftig gezeichneten Hauptfiguren blass und sind schnell wieder vergessen. Auch die Handlung des Buchs selbst verliert gegenüber den fein nuancierten Figurenporträts . So ist das schon das Schreckgespenst des Windparks eines, das gegenwärtig kaum mehr großes Bedrohungspotenzial besitzt. Die im Buch thematisierten Ängste und Bedrohungen waren vielleicht vor einigen Jahren noch akut. Inzwischen hat das politische Handeln der Windkraft ja mehr oder weniger die Handlungsgrundlage entzogen.

Der Verlust des erzählerischen Fadens

Auch verpufft der Clash zwischen Vater und Tochter, auf den das Buch hinarbeitet, dann doch recht unspektakulär. Beim weihnachtlichen Gansessen fliegen die Fetzen, damit hat es sich dann aber schon wieder. Beide Figuren fliehen wieder in ihre gewohnten Umgebungen und Verhaltensmuster, ein tiefschürfenderer Erkenntnisgewinn oder eine neue Stoßrichtung für die Handlung bleibt aus. Die rechtsgerichteten Ansichten Saskias interagieren nicht mit den linksgerichteten ihres Vaters – stehen damit aber auch symbolisch für unsere Gesellschaft, die das Streiten verlernt hat.

Leider verliert Nicola Kabel nach diesem Aufeinanderprall dann aber auch etwas den erzählerischen Faden. Hier finden dann – Achtung Spoiler – zahlreiche Themen wie Krebsdiagnose, Kinderwunsch, außereheliches Begehren und Tod in die Handlung. Diese dramatische Überfrachtung steht in Kontrast zu dem zuvor so ruhig und entschieden aufgebauten Setting.

Symbolisch ist hier für mich, dass plötzlich auch Saskias Ehemann Christian ein Kapitel erhält, in dem plötzlich aus seiner Sicht erzählt wird. So ganz mag das für mich erzählerisch nicht aufgehen. Auch löst sich manches dann allzu leicht auf, etwa wenn sich Herr Wedekamp einfach aus der Handlung davonschleicht. Manches Angerissene bleibt etwas in der Luft hängen und wird zumindest für mein Empfinden nicht souverän aufgelöst. Für mich drängte sich der Eindruck auf, dass nach der starken ersten Hälfte dem Erzählen im zweiten Teil dann etwas die Luft ausgeht.

Fazit

So bleibt Kleine Freiheit für mich ein Buch, dessen Handlung klar hinter der Figurengestaltung zurückbleibt und das manchmal etwas den Fokus verliert. Festzuhalten ist aber auch, dass mit Nicola Kabel eine Erzählerin hier ein Werk vorlegt, das vor allem auf Figurenebene und Erzählebene erstaunlich fein ausgearbeitet ist. Die ehemalige dpa-Redakteurin zeigt sich sehr versiert in der Kunst der plastischen Figurenbeschreibung mithilfe unterschiedlicher gestalterischer Mittel. Sie beobachtet genau, beschreibt treffsicher, schildert ihre Milieus glaubhaft und weckt Empathie sowohl für Hans als auch für Saskia. Das ist in seiner literarischen Ausarbeitung wirklich überzeugend, weshalb ich Kleine Freiheit trotz der von mir ausgemachten Mängel gerne empfehle. Eine interessante neue Stimme, gerne mehr hiervon!

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Cho Nam-Joo – Kim Jiyoung, geboren 1982

Ein Debüt mit Wut im Bauch. Cho Nam-Joo schreibt über die Benachteiligung von Frauen in der Gesellschaft Südkoreas. Ihr gelingt eine Anklage mit einem literarischen Kniff: Kim Jiyoung, geboren 1982.


„Der Weltbestseller aus Korea“ prangt auf dem Umschlag dieses schmalen Büchleins. Und tatsächlich bemüht sich der Verlag Kiepenheuer & Witsch nicht um Bescheidenheit. Auf dem Klappentext ist gleich noch einmal vom Sensationserfolg aus Südkorea die Rede, der weltweit für Furore gesorgt habe. Zwei lobpreisende Stimmen des Guardian und der New York Review of Books sekundieren. Angesichts solchen Getöses bin ich immer etwas skeptisch. Und zunächst liest sich dieses Buch wirklich nicht besonders spannend.

Cho Nam-Joo stellt die titelgebende Kim Jiyoung vor, die im Alter von 33 Jahren plötzlich ihr Umfeld verstört. Sie beginnt in verschiedenen Stimmen und Tonlagen zu sprechen. Sie imitiert ihre eigene Mutter und ihr Kind. Jiyoungs Ehemann Daehyon ist sichtlich verstört. Handelt es sich um eine dissoziative Persönlichkeitsstörung oder steckt etwas anderes hinter Kims sonderbarem Verhalten?

Ein Frauenleben in Südkorea

Cho Nam-Joo - Kim Jiyoung, geboren 1982 (Cover)

Vom kurz angerissenen Handlungsjahr 2015 aus macht das Buch einen Sprung zurück. Beginnend im Jahr 1982 erzählt sich Cho Nam-Joo nun durch Kim Jiyoungs Leben. Ihre Kindheit, ihr Aufwachsen im Kreise ihrer Familie, frühere Freunde bis hin zur Familiengründung mit Daehyon sind Themen, von denen Cho Nam-Joo erzählt. Sie tut dies in einem klaren, sachlichen Ton. Ein Ton, der allerdings auch anklagender wird, je weiter das Buch voranschreitet.

Immer stärker kristallisiert sich die Barrieren heraus, die Kim Jiyoungs Leben beeinträchtigen. Schon in der Schule erfährt sie Belästigung durch Mitschüler und Lehrer. Auch im Studium bessert sich die Lage nicht. Bei ihrem Start ins Berufsleben werden ihr als Frau ebenfalls Steine in den Weg gelegt. Um für ihr Kind da zu sein, lässt sie später sogar ihren Job ruhen und geht statt ihres Mannes in Elternzeit. Übergriffe, sexuelle Belästigung und Diskriminierung häufen sich. Ernst genommen wird das vom Umfeld von Kim Jiyoung kaum

Eine Anklage voller statistischen Materials

Und es scheint, als hätte sich auch Cho Nam-Joo gegen eine Marginalisierung dieser Themen wappnen wollen. Denn alle Benachteiligungen, die Kim im Laufe ihres Lebens erfährt, unterfüttert sie mit statistischem Material, das sie in den Fußnoten nachweist.

Nur zwanzig Prozent der weiblichen Angestellten nahmen 2003 Elternzeit, und es dauerte bis ins Jahr 2009, um die Quote auf über fünfzig Prozent anzugeben. Nach wie vor arbeiten vier von zehn Frauen nach der Geburt direkt weiter. Ganz zu schweigen von denjenigen, die in der Statistik gar nicht erfasst wurden, weil sie ihre Arbeit im Zuge der Heirat, der Schwangerschaft oder der Niederkunft aufgaben. Der Anteil von Frauen in Führungspositionen lag 2006 bei 10,22 Prozent und wuchs auf 18.37 Prozent im Jahr 2014 an. Das sind nicht einmal zwei von zehn.

Cho Nam-Joo – Kim Jiyoung, geboren 1982, S. 112.x

18 Fußoten mit statistischen Quellen begleiten den Text. Sie machen die Prosa nicht unbedingt lesbarer oder literarisch feiner, dafür verleihen sie dem Text Glaubwürdigkeit und Relevanz. Auch wenn Kim Jiyoung, geboren 1982 ein Einzelschicksal schildert – hier zeigt sich, dass die junge Südkoreanerin mit ihren Kämpfen nicht alleine ist. Im Gegenteil. Sie ist eher als ein Jedermann beziehungsweise eher Jederfrau zu sehen.

Und dieses Wiederfinden im Text, das klare Benennen von Diskriminierung und Sexismus, die Gewissheit, mit seinen Erfahrungen nicht alleine zu sein, dürfte der Schlüssel zum ungemeinen Erfolg dieses Buchs sein. Hier ist ein literaturgewordener #metoo-Aufschrei zu lesen, der der koreanischen Gesellschaft (und nicht nur dieser) den Spiegel vorhält. Ungeschönt, nicht immer elegant im Stil aber mit gesellschaftlicher Relevanz aufgeladen erzählt Cho Nam-Joo.

Eine Schlusspointe mit dem Holzhammer

Um ihr Anliegen klarzumachen, wählt die koreanische Autorin am Schluss eine besondere Pointe. Mag diese auch etwas holzhammermäßig daherkommen – auch dem oder der letzten Leser*in dürften damit die Probleme der Gesellschaft eindringlich vor Augen geführt werden.

Ki-Hyang Lee gelingt einen souveräne Übertragung dieser sachlichen und doch wütenden Prosa ins Deutsche. Sie findet originelle Wege für die Übersetzung des Buchs, etwa dann, wenn sich junge Büroangestellte über Jim Jiyoung mokieren, die es wagt, untertags einen Kaffee im Park zu trinken, während sie ihr Kind hütet. Diese jungen Männern flüstern dann von einer „Sch-Mama-Rotzerin“, die sich auf Kosten ihres Ehemanns ein schönes Leben macht. So unterstützt Lees Übertragung das Anliegen des Textes auf gewiefte Art und Weise – und verhilft dem Buch zu einer klaren Prosa. Eingedenk der Marketingkampagne und der Qualitäten dieses Buchs spricht in meinen Augen hier vieles durchaus für einen Bestseller auch hierzulande, vor allem, da sich die Probleme und Themen über Ländergrenzen hinweg ähneln.

Weiterer Meinungen zur Lektüre gibt es hier: Bingereader, Letteratura, Female Writers Club und bei Sandra Falke.


  • Cho Nam-Joo – Kim Jiyoung, geboren 1982
  • Aus dem Koreanischen von Kim-Hyang Lee
  • ISBN: 978-3-462-05328-9 (Kiepenheuer-Witsch)
  • 208 Seiten. Preis: 18,00 €
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Merle Kröger – Die Experten

From the needle to the rocket

So lautete der Slogan, den der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser in den 60er Jahren für sein Land ausgab. Von der Nähnadel bis hin zu Raketen sollte alles in Ägypten gefertigt werden. Man wollte sich frei machen von Abhängigkeiten und strebte nach eigener Stärke. Doch besonders für den komplizierten Bereich der Raketenfertigung war es nicht leicht, im Land selbst genug Kompetenz zu versammeln. Die Lösung hierfür: Experten von außerhalb, genauer gesagt aus Deutschland. Denn während der Zeit des Nationalsozialismus hatten die Forscher in Peenemünde und anderswo für die Nazis bereits Raketen konstruiert. Und diese Kompetenz war ja immer noch vorhanden, wenngleich durch die Entmilitarisierung nach dem Krieg für die Forscher in Deutschland mehr oder minder ein Beschäftigungsverbot galt.

Raketenpräsentation in Ägypten (Quelle: Wikimedia)

So warb Ägypten zahlreiche deutsche Ingenieure und Wissenschaftler an, die darauf drängten, ihre Rüstungsprojekte fortzusetzen. In und um Kairo entstand so eine Community von Deutschen, die sich der Raketenforschung und des Bau dieser Waffen verschrieben. Die Deutschen konnten ihre Arbeit fortsetzen, Nasser bekam seine Raketen, die er nach dem Austritt Syriens aus seiner Vereinigten Arabischen Republik (kurz VAR) dringend als Zeichen seiner außenpolitischen Stärke brauchte. Eine Win-Win-Situation also für den Präsidenten und seine deutschen Experten, die Ägypten auf die (rüstungspolitische) Weltbühne zurückbringen sollten.

Deutsche Experten in Ägypten

Rita Hellberg, die Heldin von Merle Krögers Roman ist die Tochter eines solchen Experten. Friedrich Hellberg konstruierte einst mit der Hilfe von Zwangsarbeitern im Dritten Reich Überschallflugzeuge. Und auch wenn den Deutschen ab 1958 wieder die Arbeit in der Luftfahrtindustrie erlaubt wurde – „richtige Arbeit“ war und ist das für Friedrich Hellberg nicht. Er hat seinen Traum vom Bau militärischer Überschallflugzeuge noch nicht aufgegeben.

Düsentriebwerke, Raketen, Kampfflugzeuge – das ist das Ideal, das Hellberg mit vielen anderen Deutschen trotz der Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg teilt. So folgt er mit seiner Familie dem Ruf Nassers nach Ägypten. Nach einem Besuch seiner minderjährigen Tochter Rita behält er diese kurzerhand in Kairo vor Ort. Er hat ihr einen Job als Sekretärin beim Raketenwissenschaftler Wolfgang Pilz besorgt. Durch diesen bekommt Rita langsam einen Einblick in die ägyptische Expat-Gemeinde und das Tun und Treiben der deutschen Experten vor Ort.

Merle Krögers großer erzählerischer Bogen

Merle Kröger hat einen halb dokumentarisch, halb fiktionalen Roman vorgelegt, der sich eines hochspannenden Themas annimmt. Eines, das in der der deutschen Literatur bislang sträflich vernachlässigt wurde. Ein Fehler, wie das Buch von Merle Kröger zeigt. Denn die Verflechtungen, denen sie in Die Experten nachspürt, sind hochinteressant und lassen so manches Mal die Haare zu Berge stehen.

Merle Kröger - Die Experten (Cover)

So spannt die Autorin ihren Bogen von der Zeit der sechziger Jahren bis hinein in die Zeit der Studentenunruhen. Sie erzählt von der deutschen Expat-Gemeinde, die aus Forschern, Ordensschwestern, aber auch untergetauchten Kriegsverbrechern wie etwa dem KZ-Arzt Hans Eisele besteht. Neben der Aufrüstungsstrategie von Gamal Abdel Nasser sind die Verflechtungen der jungen BRD und Ägyptens Thema. Das Antichambrieren Franz Josef Strauß‘, die innen- und außenpolitischen Winkelzüge der Mächtigen erörtert Merle Kröger nachvollziehbar und höchst spannend. Gerade als dann der Mossad im Ränkespiel um die deutschen Experten mitzumischen beginnt, bekommt dann das Buch die Spannung, die zuvor noch etwas auf sich warten ließ.

Rita wird in ihrer Funktion als Sekretärin zur Geheimnisträgerin. Sie beginnt, ein kritisches Bewusstsein zu entwickeln, hin und hergerissen in ihren Sympathien. Dass ihr dabei das Elternhaus mit den beiden Antipoden des horoskopbegeistern Vaters und der bigotten Mutter keinerlei Hilfe ist, beschreibt Merle Kröger eindrucksvoll.

Literarisch höchst souverän

Überhaupt – die literarische Souveränität, mit der Merle Kröger erzählt, ist unbedingt preiswürdig. So schafft sie es beispielsweise in einem Kapitel eine tiefgründige Charakterisierung der Familie Hellberg, indem jedes der vier Familienmitglieder einfach einen Brief verfasst. Alleine über diese vier Briefe zeigen sich so unterschiedliche Figuren, wie sie andere Autor*innen nicht einmal in einem ganzen Roman beschreiben könnten. Ihr gelingt eine glänzende Psychologisierung ihrer Figuren.

Allerdings sind Absätze das Ding der 1967 geborenen Autorin nicht. Sie wechselt die Perspektive innerhalb von drei Zeilen, treibt das Geschehen voran, rhythmisiert ihre Erzählung und erschafft so einen manchmal schon fast an Spoken-Word-Lyrik erinnernden Erzählfluss.

Neben den raschen Perspektivwechsel, Seitenblicken oder Rückblenden sind es auch die zahlreichen Dokumente, die die Prosa von Die Experten kennzeichnen. Immer wieder verwendet Merle Kröger Original-Zeitdokumente. Fetzen aus Spiegel-Stories, Geheimdienstberichte oder Dokumentation über die Zeit des Dritten Reichs, die sie in den Roman hineinmontiert. So entsteht eine reizvolle Mischung aus Fiktion und Dokumentarischen. Der Anhang gibt Auskunft über die zahlreichen Quellen, die in den Roman eingeflossen sind.

Fazit

Es wäre Merle Kröger zu wünsche, dass ihr nun mit Die Experten der große Durchbruch gelänge. Das Buch hat die Adelung durch einen Platz im Suhrkamp-Programm (ohne den famosen Ariadne-Verlag an einer Stelle kleinreden zu wollen) absolut verdient. Ihre Prosa besitzt einen eigenen Sound, die Themen sind großartig gewählt und haben allesamt gesellschaftliche und zeitgeschichtliche Relevanz. Ihre Figuren sind glaubhaft entworfen, die Wiederauferstehung des Ägyptens der 60er Jahre ist geglückt. Zwar sträube ich mich etwas gegen das aufgedruckte Label Thriller, dennoch ist das Buch neben all den bereits genannten Vorzügen natürlich auch spannend und zeigt die geheimdienstlichen und politischen Fehden, die in den 60er Jahren dominierten. Für mich ist dieses Buch absolut preiswürdig. Es sollte Merle Kröger hoffentlich in die vordere Reihe deutscher Autorinnen katapultieren.

Zudem wäre es schön, wenn durch einen Erfolg dieses Buchs auch die Ariadne-Backlist dieser deutschen Autorin wieder entdeckt wird, die nur alle paar Jahre ein Werk vorliegt, das dann aber den Rest der zeitgenössischen Krimiproduktion im Staub zurücklässt. Das ist ganz große deutsche Literatur!


  • Merle Kröger – Die Experten
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-46997-2 (Suhrkamp)
  • 688 Seiten. Preis: 20,00 €
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Callan Wink – Big Sky Country

Football, Burger, Farmleben und die unendlichen Weiten Montanas. Callan Wink erzählt in seinem ersten Roman von der Mannwerdung eines Jungen in der amerikanischen Provinz. Und liefert dabei wenig Erhellendes.

Gäbe es einen Bausatz für einen Coming of Age-Roman, die Zutaten Sommer, Liebe, Unsicherheit, eine bevorstehende richtungsweisende Entscheidung und nächtliche Partys gehörten sicher zu den unverzichtbaren Ingredienzen eines solchen Bausatzes. Und auch der Amerikaner Callan Wink bedient sich dieser Elemente in seinem ersten Roman Big Sky Country ausgiebig. In jenen im Volksmund so betitelten amerikanischen Bundestaat zieht der junge Protagonist August mit seiner Mutter.

Callan Wink - Big Sky Country (Cover)

Nachdem sie sich mit ihrem Mann auseinandergelebt hat, beschließt Augusts Mutter, sich in Montana eine neue Arbeitsstelle in einer Bibliothek zu suchen. Ihren Mann, der eine Milchwirtschaft in Michigan betreibt, lässt sie dort mit seiner Geliebten allein. Nach der Kindheit im Mittleren Westen findet sich August so in einem ihm unvertrauten Landstrich wieder, der von Weite, Farmen und wenigen Menschen geprägt ist.

Anschluss findet er dort zunächst kaum. Er ist Teil des örtlichen Football-Teams und schließt erst allmählich Kontakt zu anderen Jugendlichen. Während sich Schulkameraden zum Krieg im Irak verpflichten – das Buch spielt um das Jahr 2001 herum – weiß August nicht so wirklich etwas mit sich anzufangen. Er angelt, feiert ein Sommerfest zu Ehren eines gefallenen Mitschülers, lässt sich treiben und besucht in losen Abständen seinen Vater auf der heimischen Farm. So richtig weiß August nicht, wie sein weiterer Lebensweg aussehen soll. Studium am College, Übernahme des väterlichen Hofs oder etwas völlig anderes? Seine Eltern und Freunde sind ihm bei diesen Fragen auch keine wirkliche Hilfe.

Wohin mit mir im Leben?

Diese Frage umkreist Callan Wink in seinem Buch. Etwas antriebslos lässt er August über die endlosen Straßen Montanas radeln und einsam an Ufern fischen, während er sich zunehmend von seinen Eltern entfremdet. Das alles schildert Callan Wink in einer ruhigen Prosa, die auch die nicht so schönen Seiten in Augusts Leben in den Blick rückt. Nicht alles ist so sommerhell, wie es uns das Feld auf dem Buchcover glauben machen will. Die düster dräuenden Wolken, es gibt sie auch im Text selbst.

So schildert Wink mit großer Genauigkeit, wie August von seinem Vater beauftragt wird, die sich wild vermehrenden Katzen auf dem Hof zu töten. Die Sommerparty der Jugendlichen kippt dann in eine Gruppenvergewaltigung, in der Einöde Montanas sind auch neurechte Spinner und Verschwörungstheoretiker zuhause. Das alles lässt Wink in seinen Roman einfließen und erschafft so Tiefe im Buch. Dennoch macht die manchmal an John WilliamsStoner erinnernde Sprache und die Genauigkeit des Blicks allein noch kein gutes Buch aus.

Denn thematisch weiß das Buch nichts Neues zu erzählen. Machte man sich die Mühe, und fertigte für Big Sky Country einen thematischen Thesaurus an, dann sähe dieser ungefähr so aus: Mittlerer Westen, Montana, Farmen, College, Umzug, Football, Rodeo, Burger, Bier, Freundschaften, rechte Hillibillys, Pick-Up, Feldarbeit.

Wenig Überraschendes

Dass ein Buch über einen Jungen in der amerikanischen Provinz von diesen Themen erzählt, das ist wenig überraschend. Und genau das war, was mich an Callan Winks Buch auch störte. Er weiß der ganzen Fülle an thematisch ähnlich gelagerten Büchern nicht Neues hinzuzufügen. Big Sky Country liest sich, wie ein dutzendfach gesehener Film oder ein ebenso oft gelesenes Buch über einen Jungen in der amerikanischen Provinz. Natürlich spielt August Football, cruist mit seinem Auto ziellos durch die Gegend, trinkt Bier, futtert Burger oder sucht beim Tanz den Kontakt mit Mädchen (und zimmert dem Nebenbuhler dann natürlich an der Bar die Faust ins Gesicht). Das ist solide erzählt, aber es reicht nicht, um etwas Besonderes aus dem Buch zu machen.

August bleibt ein blasser Held, dessen Erlebnissen und Aventüren es an Außergewöhnlichem, Besonderem oder Unerhörtem gebricht. Alles ist so, wie man es sich von einem Teenager in der amerikanischen Provinz vorstellt. Die erzählerischen Figuren bleiben so blass und oberflächlich wie die Telefonate, die August mit seinem Vater führt. Und das genügt mir dann leider nicht, um als gutes Buch durchzugehen.

Nach der Lektüre von Big Sky Country bleibt für mich die Erkenntnis, dass Callan Winks Form doch vielleicht eher die der Kurzgeschichte ist. Sein Erzählungsband Der letzte beste Ort hat die Qualitäten, die ich in seinem Roman vermisste. So gibt es von mir die Empfehlung, sich eher an diese Storys zu halten, wenn man einen tollen amerikanischen Erzähler entdecken will. Big Sky Country bietet nicht viel Neues unter dem weiten Himmel Montanas.

Weitere Stimmen zum Buch gibt es hier: Meike Feßmann in der SZ und Jana vom Blog Wissenstagebuch.


  • Callan Wink – Big Sky Country
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-518-42983-9 (Suhrkamp)
  • 378 Seiten. Preis: 23,00 €

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