Sandra Gugić – Zorn und Stille

Blickt man auf die Veröffentlichungen der Verlage in diesem Herbst und achtet auf Themencluster, ist die Fülle an Büchern, die sich mit der Geschichte Jugoslawiens beschäftigen, frappant. So hat David Grossman mit Was Nina wusste einen Familienroman über drei Generationen verfasst, der im Tito-Regime und einer während dieser Zeit gefällten Entscheidung wurzelt. Ebenfalls (leider nicht so gelungen) thematisiert Zora del Buono diese Zeit in ihrem Buch Die Marschallin. Sie kreist in ihrem Buch um die Figur ihrer eigenen Großmutter, die im Lauf ihres Lebens fünf Pässe besaß und sich in den Partisanenkriegen und im Tito-Regime engagierte.

Und nun liegt auch von Sandra Gugić ein Roman vor, der sich der wechselvollen Geschichte Serbiens widmet und der die Auswirkungen der Geschichte im Privaten untersucht.


1976 in Wien geboren verfügt Sandra Gugić selbst über serbische Wurzeln. Mittlerweile lebt sie mit ihrer Familie in Berlin. Seit ihrem Debüt Astronauten im Jahr 2015 hat sie sowohl Prosa als auch Lyrik vorgelegt. Zorn und Stille ist nun der zweite Roman von ihr, der sich mit einer in Wien lebende Migrantenfamilie beschäftigt.

Eine Familiengeschichte aus drei Perspektiven

Die Erzählung setzt im September 2016 ein. Die Ich-Erzählerin Billy Bana erzählt ihre Geschichte. Eigentlich trägt sie den Namen Biljana Banadovic. Sie hat allerdings beschlossen, sich von ihrer Herkunft ebenso wie von ihrem Namen zu emanzipieren. Als Billy Bana ist sie als Fotografin tätig und hat die Flucht von Zuhause angetreten.

Sandra Gugic -Zorn und Stille (Cover)

Eine Nachricht reißt sie aus dem Leben, das sie sich aufgebaut hat. Ihr Vater ist tot. Folglich fliegt sie in die Heimat ihres Vaters, aus der er und seine Frau damals aufbrachen, um nach Wien zu gehen. Die Lebensgeschichten der beiden ist dann Thema der beiden anderen Teile, die Gugić zunächst aus Sicht von Billys Mutter im Juli 2008 erzählt, ehe dann ihr Vater Sima im Jahr 1999 Thema ist.

Aus diesen Teilen ergibt sich das Bild einer zerrissenen Familie. Eine, in der sich die Geschichte und die Verwerfungen des Balkans abbildet. Ein verschwundener Sohn, viele Kompromisse, nicht Ausgesprochenes und Verdrängtes. Dazu ständig die Unsicherheit, in einem Land zu leben, das einen nicht wirklich wollte:

Zuhause war damals die Vorstadt von Wien, dieses Zuhause mit seinen strengen Regeln holte uns jedes Jahr nach den Ferien zuverlässig wieder ein. Das oberste Gebot meiner Eltern war das aller braven Migranten: um keinen Preis auffallen oder Aufsehen erregen, unsichtbar und unangreifbar sein vor den Blicken und dem Urteil der Anderen. Sie waren Gastarbeiter, ihr Bleiben war nicht vorgesehen. Wir lebten in einem Häuserkomplex aus roten Backsteinen, in einer Substandardwohnung im zweiten Stock, die aus einem Zimmer und einer Küche bestand.

Gugić, Sandra: Zorn und Stille, S. 25

Drei Perspektiven, aber ähnlicher Sound

Gugić erzählt ihre Geschichte in einem schlichten Ton, der – und das wäre mein einziger Kritikpunkt an diesem Buch – bei allen drei Erzähler*innen relativ gleich bleibt. Zwar ändert sich die Erzählperspektive von Billy hin zu ihren Eltern. Klingen tun sie allerdings recht ähnlich, was sich aber durch einen Hinweis auf die Familienbande auch ein Stück weit erklären ließe. Abgesehen vom gleichen Sound ist Zorn und Stille ein konzentriertes Buch, das Einblick in das Seelenleben einer „Gastarbeiterfamilie“ gewährt. Das zeigt, wie die Konflikte des Balkan in der Familie fortwirken. Und das innerfamiliäre Konflikte aus mehreren Perspektiven beleuchtet. Das lässt sich nicht viel meckern.

Besondere Erwähnung muss an dieser Stelle natürlich auch das Cover finden. Ein echter Eyecatcher, der auch tatsächlich auf das Buchgeschehen anspielt. Da greift man gerne zu.

  • Sandra Gugić – Zorn und Stille
  • ISBN 978-3-455-00976-7 (Hoffmann und Campe)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €

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On the road

Jacques Poulin – Volkswagen Blues

Unter dem Motto All together Now ging am Sonntag die als Special Edition betitelte Frankfurter Buchmesse zuende. Eine Buchmesse, die anders war als alle zuvor erlebten. Keine Besucher, keine Aussteller in den Hallen, gerade mal in der Festhalle zeichnete die ARD das Begegnungsformat der Blauen Couch auf. Ansonsten ein unübersichtliches, chaotisches Programm, bei dem Verlage, Zeitungen, Messe und Autor*innen alle über diverse eigene Kanäle kommunizierten. Interviews, gefilmte oder gestreamte Lesungen, Zoom-Meetings. Ein Angebot, das mich etwas ratlos zurückließ und bei dem mit einer gebündelten Darstellung oder einer gemeinsamen Plattform sicher eine bessere Auffindbarkeit und Übersichtlichkeit zur Folge gehabt hätte. Aber es ist, was es ist.

Auch der Auftritt des diesjährigen Gastlandes Kanada auf der Frankfurter Buchmesse entfiel und wurde ins nächste Jahr verschoben. Eine etwas ungünstige Lösung, da viele Verlage nun schon freie Programmplätze für Kanada freigeräumt hatten. Inwieweit sich dise verlegerische Aufmerksamkeit für die kanadischen Autor*innen übertragen lässt, bleibt abzuwarten.

Auch auf dem Blog habe ich unter dem Motto #kandaerlesen schon einige Perlen aus den Programmen der Verlage in diesem Bücherherbst gesammelt. Ein weiterer Roman, der nun zu entdecken ist, ist Jacques Poulins Volkswagen Blues. Ein Buch, das laut dem Hanser-Verlag in Kanada Kultstatus genießt.

Ein seltsames Paar

Es ist ein äußerst seltsames Paar, das da in Poulins Roman zusammenfindet. Er, der Schriftsteller Jack Waterman, auf der Suche nach seinem Bruder. Und sie, Pitsémine, genannt Große Heuschrecke. Eine junge Frau mit indigenen Wurzeln, die von ihrer jungen Katze begleitet wird.

Dise beiden treffen auf den ersten Seiten des Romans aufeinander – und tun sich für den Rest des Romans zusammen. Denn Pitsémine stellt sich mit ihrem logischen Verstand und ihrem Aplomb als die passende Ergänzung für Jack und seine Mission heraus. Denn dieser hat durch Zufall eine Karte seines Bruders entdeckt. Jener Bruder, den Jack seit Dutzenden von Jahren nicht mehr gesehen hat. Doch nun ist es doch an der Zeit, dass man diesen Spuren nachgeht, so beschließt es Jack.

Zusammen mit Pitsémine und dem Kater namens Chop Suey begibt er sich auf eine Schnitzeljagd, die sie vom Norden Kanadas bis nach St. Louis und entlang des Oregon Trails in den Westen der USA führen wird. Eine turbulente Schnitzeljagd beginnt. Und damit auch ein Roadtrip durch ein Amerika, das wie aus einer anderen Welt scheint.

Aus der Zeit gefallen

Volkswagen Blues erschien 1984 in Kanada. Das Alter merkt man dem Roman auch an, der völlig aus der Zeit gefallen wirkt. Da tut sich ein widersprüchliches Pärchen zusammen, da fährt man im VW Bulli mitsamt durchrostenden Bodenblech durch ein Kanada und eine USA, die unserer heutigen Lebenswelt nicht ferner sein könnte. Love, Peace and Happiness. Der Geist der Hippiebewegung durchweht diesen Roman. Und natürlich muss der Roman auch dort enden, wo schon Scott McKenzie das Paradies aller Hippies besang: San Francisco.

Jacques Poulin - Volkswagen Blues (Cover)

Man begegnet sich respektvoll, ist neugierig aufeinander und kennt keine gesellschaftlichen Barrieren. Die soziale Wirklichkeit in diesem Roman ist größtenteils eine, die mit Blick auf die heutigen Zustände in Amerika völlig absurd wirkt. In diesem Sinne ist Volkwagen Blues für mich auch ein Stück bittersüße Nostalgie, da hier eine Welt gefeiert wird, die noch in Ordnung ist, wenngleich Poulin auch die Gräuel an der indigenen Bevölkerung nicht verschweigt und während der Reise thematisiert.

Generell verfestigte sich aber für mich der Eindruck einer nostalgischen Lektüre. Fernab von sozialen Spaltungen, ökologischen Sorgen und materiellem Auskommen reist man da einfach mal ein paar tausend Kilometer quer durch die kanadische und amerikanische Landschaft und macht sich keine gesteigerten Sorgen um die eigene Existenz.

Höchster Akt der Anarchie sind Diebstähle von Büchern aus Bibliotheken oder Buchhandlungen, die die lesehungrige Pitsémine begeht. Ansonsten ist dieses Buch geradezu unschuldig, was auch seinen Status als Kultroman in Kanada erklären könnte.

Fazit

Zu einem Kultroman in Deutschland wird es zwar nicht reichen. Aber Volkswagen Blues nimmt doch mit auf eine toll erzählte Reise quer durch Kanada und Amerika und ist somit die ideale Möglichkeit einer „Lehnstuhlreise“. Ein leichtes Buch, das das Fernweh und die Sehnsucht nach einer anderen Zeit befeuert. Und das ein wirklich seltsames Paar in den Mittelpunkt rückt, das in diesem Bücherherbst zu den skurrilsten Paarungen der Literatur zählen dürfte. Von Jan Schönherr wurde der Roman aus dem Französischen ins Deutsche übertragen und ist damit eine schönes Beispiel für #kanadaerlesen.


  • Jacques Poulin – Volkswagen Blues
  • Aus dem Französischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-446-26761-9 (Hanser)
  • 256 Seiten. Preis: 23,00 €

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Libertatia in der DDR

Mondschein liegt um Meer und Land 
dämmerig gebreitet, 
in den weißen Dünensand 
Well‘ auf Welle gleitet.

Unaufhörlich bläst das Meer 
eherne Posaunen; 
Roggenfelder, segenschwer, 
leise wogend raunen.

Hauptmann, Gerhart: Mondscheinlerche

Manchmal braucht es etwas länger, bis ich ein Buch aus meinem Regal in die Hand nehme und lese. Ich will es unbedingt zu einer bestimmten Zeit lesen, komme dann nicht dazu, sortiere es erst in den Bücherstapel, irgendwann ins Regal – und die mögliche Lektüre verschiebt sich immer wieder. Auch Lutz Seilers Debütroman Kruso fiel bislang in diese Kategorie. 2014 einmal zur Besprechung erhalten, verharrte es doch bis jetzt ungelesen in meinem Regal. Und das, obwohl Seiler 2014 sogar den Deutschen Buchpreis für seinen Erstling erhielt.

Doch nun war die Zeit gekommen. Vor kurzem las ich das mit dem Preis der Leipziger Buchmesse gekrönte Stern 111. Nachdem mir die Lektüre gekonnt ein Zeifenster ins Ostberlin des Jahres 1990 auftat, entsann ich mich des Seiler’schen Debüts, das so lange geduldig auf mich gewartet hatte. Würde es dem Buch gelingen, meine hohen Ansprüche, die Stern 111 bei mir geweckt hatte, einzulösen? Ja! Denn Seiler schafft hier schon einmal etwas, was er im zweiten Roman seines Lebens noch vergrößern sollte: ein sprachmächtiges, genau beobachtetes und mit Worten gebanntes Bild einer Welt im Umbruch. Eine starke Milieugeschichte, eine Hiddensee-Hommage und eine Vermessung der DDR in ihren letzten Tagen.

Willkommen auf Hiddensee

Hiddensee. Das birgt schon das Verborgene, Versteckte, das der Welt Enthobene im Namen. Hidden. Das scheint auch für Ed Bendler genau das Richtige zu sein. Denn er will weg. Seine Freundin hat er auf tragische Art und Weise verloren, der Halt in seiner bisherigen Welt ist ebenfalls nicht mehr gegeben. Und so sehnt er sich nach Entgrenzung und dem Ausbrechen aus der bisherigen Welt. Als geeignete Destination für sein Unterfangen erscheint ihm die Insel Hiddensee.

DDR-Reiseführer für die Insel Hiddensee

Diese im Westen von Rügen gelegene Insel faszinierte schon einst Gerhart Hauptmann, der auf ihr ein Domizil bezog. Auch schrieb er bei seinem ersten Aufenthalt auf der Insel jenes eingangs zitierte Gedicht Mondscheinlerchen als Hommage an die Insel. An ihrer dünnsten Stelle nicht einmal 250 Meter messend, liegt sie in der Ostsee wie ein dünner Strich, der sich zum Süden hin verjüngt. Carl Zuckmayr, Asta Nielsen, Hans Fallada, Gottfried Benn – sie alle zog es nach Hiddensee. Doch nicht nur sie.

Auch für Aussteiger – und den Tourismus der DDR war Hiddensee gelobtes Land oder vielmehr gelobte Insel. Beide Gruppen finden im legendären Ausflugslokal Zum Klausner zusammen, auf dessen Terrasse sich im Sommer die Arbeiter*innen der DDR tummeln. Während sie auf der Terrasse die Aussicht genießen und es sich gut gehen lassen, wird drinnen im Klausner unter Hochdruck geschuftet. Zwischen Blauer Würger, Jägerschnitzel und Exlepäng-Duft hasten die Kellner hinter her, brutzelt der Koch und fließt der Schweiß.

Kruso trifft seinen Freitag

Ed wird bald ein Teil der Arbeiterbrigade und verdingt sich als Spüler. Zusammengehalten wird die Mannschaft von ihrem Fixstern Alexander Krusowitsch, genannt Kruso. Ein Hiddenseer Urgestein, das die Inseleinsamkeit schon im Namen trägt. Doch dieser Kruso ist so einsam gar nicht, vielmehr sorgt er für den Zusammenhalt der Saisonarbeitskräfte, Esskaas getauft. Er organisiert das alljährliche Fußballturniert und kümmert sich um die Unterbringung der gestrandeten Aussteiger und Gäste, für die Hiddensee nur eine Station ihrer Reise weit weg ist.

Lutz Seiler - Kruso (Cover)

Mit Ed trifft Kruso seinen ganz eigenen Freitag. Dieser Mann, der mit Geschick und Präzision den Klausner am Laufen hält, verstopfte Ausflüsse geschickt zu reinigen weiß und immer vom Nimbus des Geheimnisvollen umgeben ist, er fasziniert Ed. Und auch umgekehrt scheint zwischen beiden Figuren die Chemie zu stimmen. Wie bei einer der dutzendfach im Buch verspeisten Zwiebeln öffnen sich allmählich die Schichten der beiden Charaktere. Kruso und Ed fassen Zutrauen zueinander und erzählen sich die Geschichten des Lebens.

Wobei die deutlich interessantere Figur die des Kruso ist, nicht nur aufgrund der Mehrzahl an gelebten Jahren. Die Brüche in seiner Biographie, die untergründigen Geheimnisse, sein Wirken auf der Insel. Mit diesem Kruso hat Seiler eine faszinierende Figur geschaffen, die aufgrund ihrer Undurchsichtigkeit auch nach der Lektüre bei mir als Leser blieb.

Drei Komponenten guter Literatur

Die Figur Kruso ist eine der Komponenten, die aus diesem Buch ein starkes Stück Literatur machen. Die zweite Komponente ist die Insel Hiddensee selbst und die Sprachmacht, mit der Seiler diese schildert. Ihre Vergangenheit, ihr soziales Gefüge, ihre Schönheit. Kruso ist auch eine Verneigung vor diesem flächenmäßig nicht großen, dafür aber umso geschichtsträchtigeren Eiland

Geschichtsträchtiges Hiddensee

Und die dritte Komponente, die aus Kruso ein so starkes Stück macht, ist die Doppelbödigkeit der Erzählung. Denn natürlich ist die Insel und der Klausner nur ein Symbol für die Deutsche Demokratische Republik. Während am Beginn des Romans noch alles verlockend und idyllisch erscheint, bröckelt die Steilküste, der Zusammenhalt und das System Klausner immer mehr. Bis hin zum reichlich enervierend und gestreckten Ende, bei dem dann nur noch Ed als letzter Inselbewohner im Klausner verharrt, ist der Roman immer eine Blaupause des Niedergangs der DDR. Auch wenn mich dieses gestreckte Ende und die immer stärker werdende Einöde und Monotonie gegen Ende zusehends anstrengten, ist das natürlich auch literarisch gut gefügt.

Eine Ende mit Twist

Mir gefällt auch die Idee, im Epilog noch eine ganz andere (oder eher einen anderen Aspekt der) Geschichte mitzuerzählen. So bekommt das Buch nochmals ein Mehr an Tiefe und lässt Vorwürfe, hier würde nur eine vergangene Geschichte erzählt, ins Leere laufen.

Auf eine schöne Ergänzung der Lektüre sei an dieser Stelle noch hingewiesen. Der Suhrkamp-Verlag hat zusammen mit Lutz Seiler dieses Video produziert, das an die Schauplätze des Romans nach Hiddensee entführt und in dem Seiler Einblick in seine Poetologie gewährt:

Bildquellen. Cover By BK1950 – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=81813975

Video: Suhrkamp-Verlag

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Lyrik-Corner: Caspar David Friedrich, Gedichte von Frauen & Romantik

Machen wir uns nichts vor. Selbst wenn mit Louise Glück mal wieder eine Lyrikerin den Literatur-Nobelpreis gewonnen hat: das Geschäft mit der Lyrik ist schwyrik. Gedichte und Poesie haben es auf dem Buchmarkt nicht leicht, in Büchereien und Buchhandlungen fristen Gedichte oftmals ein Schattendasein, wenn sie überhaupt angeboten werden. Allerdings brauche ich nicht mit dem Finger auf andere zu zeigen. Auch in der Buch-Haltung ist Lyrik so gut wie gar nicht präsent. Deshalb feiert hier der Lyrik-Corner Premiere. Ein loses Format, in dem aktuelle Erscheinungen aus dem Bereich Lyrik besprochen werden sollen. Den Auftakt macht ein Doppel aus dem Reclam-Verlag.

Frauen | Lyrik

Ein Buch mit stolzem Umfang ist der Band Frauen | Lyrik. Dieser wurde im Auftrag der Wüstenrot-Stiftung von Anna Bers herausgegeben. In diesem Buch lassen sich über 500 Gedichte von Frauen und/oder über Frauen entdecken. Gedichte, deren Zeitraum von den Merseburger Zaubersprüchen über die lateinische Lyrik Hildegard von Bingens bis in unsere Tage reicht. Dichterinnen wie Safiye Can, Sabine Scho oder Ursula Krechel finden sich mit Werken aus unserer Epoche im Buch.

Man kann dieses Mammutwerk natürlich als Kompendium über mehrer Jahrhundert weiblicher Lyrik rezipieren. Frauen | Lyrik kann man ebenso als notwendiges Korrektiv zum männlich geprägten Kanon lesen. Man kann aber, eingeladen durch die vierteilige Gliederung des Buchs, die weibliche Lyrikgeschichte in all ihren Facetten entdecken. Denn das Buch vereint archetypische weibliche Dichtung, kanonisierte Gedichte, besonders emanzipatorische Werke, aber auch Gedichte von Männern, die sich in ihrer Lyrik die Perspektive von Frauen zueigen gemacht haben.

So entsteht in der Gesamtheit in vielfältiges, widersprüchliches und hochinteressantes Bild. Gedichte, die eine zeittypische Verehrung Adolf Hitlers im Dritten Reich zeigen. Poeme, die vom Kampf gegen tradierte Rollenbilder erzählen. Aber auch Gedichte, die zunächst wenig zugänglich und reichlich kryptisch erscheinen. Hierfür sei besonders das Nachwort des Buchs empfohlen, das solche Gedichte einordnet und kurze Biographien der Autor*innen gibt.

Wäre ich Deutschlehrer, dieses Gedichtesammlung wäre zumindest in Teilen ein Muss in meinem Unterricht. Hier lassen sich Autor*innen entdecken, von denen man bislang selten gehört hat. Formenreiche und archetypische Gedichte, die zeigen, dass sich weibliches Schreiben und Dichten nie hinter dem der Männer verstecken musste. Oder kurzum: ein spannender Streifzug durch die weibliche Lyrik – und ein wohltuendes Gegengewicht zu den herkömmlichen Lyrik-Kanons.

Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik

Gibt es einen deutscheren Maler als Caspar David Friedrich? Mit seinen Bilder von Wäldern, Wanderern und Naturszenen hat er die Seele der Deutschen maßgeblich geprägt. Einzelne Bilder des 1774 in Greifswald geborenen Künstler haben einen geradezu ikonographischen Wert, beispielsweise sein Wanderer über dem Nebelmeer oder seine Ansichten der Kreidefelsen von Rügen. Auch meine Deutschlehrerin nutzte zur Einführung in die Epoche der Romantik ein Gemälde Caspar David Friedrichs, nämlich das Werk Frau am Fenster. Sinnig lassen sich über dieses Gemälde die zentralen Signa jener Epoche deutscher Dichtung herleiten. Die Sehnsucht nach der Ferne, die Hinwendung zur Natur. Das Wandern, die Suche nach dem Locus amoenus. Posthorn, Kutschfahrt und Entgrenzung. Das alles steckt nicht nur in den poetischen Werken jener Zeit, sondern eben auch in den Werken des Greifswalder Malers.

Wie stark die gegenseitige Beeinflussung von Malerei und Text tatsächlich ist, das zeigt der von Michael Grus herausgegeben Band Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik. In ihm werden die Werke Caspar David Friedrichs Gedichte von Joseph von Eichendorff, Bettina von Arnim, Novalis oder Karoline von Günderrode gegenübergestellt. Faszinierend die Wechselwirkung zwischen Bildern und Texte, die geradezu gegenseitig in Dialog zu treten scheinen. Geordnet nach Themenkreisen wie Meer, Gebirge, Fremde oder Wandel der Zeit ergibt sich hier eine Werkschau der Kunst Friedrichs und ein repräsentativer Querschnitt der Poesie der Romantik.

Auch ein hinführendes Vorwort, dass das Leben Caspar David Friedrichs zeigt und einordnet, bereichert die Monographie. Ein Band zum Blättern und Staunen, der Kunst und Poesie auf das vortrefflichste vereint. Ein kenntnisreiches Vorwort und ein Verzeichnis der Werke rundet diesen Buch ab. So ist Lyrik alles andere als schwyrik.


  • Frauen | Lyrik
  • Herausgegeben von Anna Bers
  • ISBN: 978-3-15-011305-9 (Reclam)
  • 879 Seiten. Preis: 28,00 €
  • Caspar David Friedrich trifft Dichter der Romantik
  • Herausgegeben von Michael Grus
  • ISBN: 978-3-15-011310-3 (Reclam)
  • 144 Seiten. Preis: 20,00 €

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Die Baden-Württembergische Literaturtage 2020

Alles ist in diesem Jahr irgendwie anders. Keine Buchmesse, zeitweise geschlossene Buchhandlungen, wenig Systemrelevanz des gesamten Kultursektors. Literaturfestivals in der ersten Jahreshälfte wurden zumeist abgesagt und sorgten damit für Einbußen bei Künstler*innen und Veranstalter*innen. Und nicht zuletzt auch beim Publikum, das auf anregende Lesungen, Diskussionen oder Performances verzichten musste.

Die Macher*innen der Baden Württembergischen Literaturtage haben sich von den zahlreichen Fährnissen, die Kulturveranstaltungen gerade bedrohen, nicht abschrecken lassen. Sie veranstalten trotz aller Widrigkeiten die 37. Ausgabe dieses Festivals an verschiedenen Orten im Allgäu. Leutkirch, Isny und Wangen sind Austragungsorte der Veranstaltungen. Dort lesen Autor*innen wie Volker Demuth, Vincent Klink, Karen Köhler, Nora Gomringer oder Denis Scheck. Auch ein Programm für Kinder und Jugendliche gibt es. Es reicht von einer Drei !!!-Lesung bis hin zu Mangazeichnen. Insgesamt dauert das Festival vom 17.10 bis zum 14.11.2020.

Lesungen im ganzen Allgäu

Isny liest ein Buch (Sungs Laden von Karen Kalisa), Karl-Heinz Ott denkt in Leutkirch über Hölderlin nach, Saša Stanišić erhält in Wangen den Eichendorff-Preis und Rufus Beck liest die Bibel vor (zumindest in Teilen).

Viel und ambitioniertes Programm also, über das man sich hier einen genauen Überblick verschaffen kann.

Wer jetzt neugierig geworden ist und sich auf das Festival vorbereiten möchte: es gibt auch etwas zu gewinnen! Und zwar Bücher von drei beim Festival auftretenden Künstler*innen. Als da wären:

Kommentiert einfach unter dem Beitrag, welches Buch euch interessieren würde. In einer Woche wird dann unter allen Einsendungen ausgelost.


Copyright Bilder: Baden-Württembergische Literaturtage

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