Sorj Chalandon – Wilde Freude

Von einer niederschmetternden Diagnose, einem riskanten Plan und einer Frauenfreundschaft erzählt der französische Schriftsteller Sorj Chalandon in seinem neuen Roman „Wilde Freude“ (Originaltitel „Une Joie féroce“, Deutsch von Brigitte Große).


Es ist eine Diagnose, die ein ganzes Leben auf links dreht. Bei einer Untersuchung stellt der Arzt der Buchhändlerin Jeanne die Diagnose Krebs. Eine Chemotherapie muss schnellstmöglich begonnen werden. Nicht nur ihr Körper wird dabei an die Grenzen der Belastbarkeit geführt. Auch die Beziehung zu ihrem Partner überlebt diese Diagnose nicht. Schon einmal stand die Beziehung kurz vor ihrem Ende, als das gemeinsame Kind starb. Und nun ist die Partnerschaft mit Jeannes Mann endgültig an ihrem Ende angekommen.

Sorj Chalandon - Wilde Freude (Cover)

Allerdings findet die Buchhändlerin schon bald eine andere Form der zwischenmenschlichen Beziehung. Bei der Chemotherapie macht sie die Bekanntschaft mit drei Frauen. Da sind Brigitte und Assia, die in einer luxuriösen Pariser Wohnung zusammenleben. Die dritte im Bunde ist Eva, deren Schicksal auch Jeanne eingedenk der eigenen Biographie sehr anrührt. So hat Evas Partner ihr gemeinsames Kind entführt. Er verlangt von ihr eine Auslöse von 100.000 Euro, damit sie ihr Kind wieder in die Arme schließen kann.

Doch woher sollte man 100.000 Euro bekommen? Die vier Frauen schmieden einen riskanten Plan. Und plötzlich gibt es eine eigene französische Version von Thelma & Louise, diesmal allerdings zu viert.

Zwischen Krebsdiagnose und Polar noir

Es ist eine außergewöhnliche Mischung, die den Reiz von Wilde Freude ausmacht. So kombiniert Sorj Chalandon in diesem Roman ein Frauenschicksal mit Elementen aus dem Polar-Noir á la Jean-Patrick Manchette und einem klassischen Heist-Roman. Der Roman oszilliert zwischen Mitgefühl für Jeannes Schicksal und der Spannung eines geplanten Raubüberfalls. Wie es Chalandon hier schafft, bei einer Laufzeit von gerade einmal 288 Seiten diese Elemente glaubhaft zu verquicken und auch noch einen überraschenden Twist einzubauen, das ist beeindruckend.

Toll, wie er auf wenigen Seiten das Schicksal von Jeanne, ihre Zweifel und Kämpfe und Belastungsproben schildert. Bei diesem Roman komme ich zum selben Urteil, die am 9. August des letzten Jahres die vier Kritiker*innen des damaligen Literarischen Quartetts fällten. So rühmten sie die Fähigkeit Chalandons, Charaktere im Spannungsfeld von Gut und Böse zu zeichnen, mitreißend zu erzählen und Anteilnahme für die Figuren zu erwecken. Das 4:0 vom damals besprochenen Am Tag davor würde man Chalandon auch in diesem Falle wieder wünschen. Denn wie er in die Haut seiner Heldin schlüpft, Spannung serviert, die Leben der vier Frauen skizziert und überrascht, das hat Klasse.

Hier schreibt ein wirklicher Könner (der ebenso könnerhaft von Brigitte Große übersetzt wurde)!


  • Sorj Chalandon – Wilde Freude
  • Aus dem Französischen von Brigitte Große
  • ISBN 978-3-423-28237-6 (dtv-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 288 Seiten

Bild Sorj Chalandon: Par S. Veyrié — Travail personnel, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=17536422

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42 Grad und es wird noch heißer

Wolf Harlander – 42 Grad

36 Grad und es wird noch heißer, so geht der Refrain des Sommerhits von 2Raumwohnung. Was aber, wenn es wirklich noch heißer wird und keine Abkühlung in Sicht ist? Dieses Szenario entwickelt Wolf Harlander in seinem Öko-Thriller 42 Grad. Der Journalist skizziert in seinem Buch den kurzen Weg von der Ordnung ins Chaos. Blockbuster-Literatur mit Schwächen, aber durchaus auch Realitätsbezug.


Was passiert eigentlich, wenn es in Deutschland immer heißer wird? Wenn der Klimawandel fortschreitet und die Wasserversorgung nicht mehr gewährleistet werden kann? Aus dieser Prämisse heraus ist 42 Grad entstanden. Darin erzählt Harlander von einem Hitzesommer, der ganz Europa in die Knie gehen lässt. Ausgangspunkt sind die Erlebnisse mehrerer Figuren über ganz Deutschland verteilt.

Da ist ein Hydrologe, der bei einem Unfall auf der Autobahn nahe Freiburg ein gefährliches Absinken des Grundwasserspiegels bemerkt. Eine Datenanalystin, die bei ihren Recherchen feststellt, dass Europa auf eine dramatische Wasserknappheit zusteuert. Ein Spezialist für Wasserversorgung, der zu mehreren mysteriösen Zwischenfällen in Wasserwerken in Nizza, Dresden und anderswo beordert wird. Oder ein THW-Mitarbeiter, der es mit einer Reihe gefährlicher Waldbrände zu tun bekommt. Alle diese Figuren müssen schnell feststellen, dass da etwas in Deutschland und in der ganzen Europäischen Union vorgeht, das die Gesellschaft an den Rand des Kollaps zu bringen droht.

Eine Ökothriller in der Tradition von Elsberg und Co.

42 Grad ist ein Öko-Thriller in der Tradition von Marc Elsberg und Andreas Eschbach. Während sich diese beiden Autoren mit dem Verschwinden des Stroms (Marc Elsberg Blackout) oder dem Ende des Benzins (Andreas EschbachAusgebrannt) beschäftigten, ist es nun bei Harlander eben das Wasser, das verschwindet. Wie schnell ein solcher Mangel eine Gesellschaft ins Chaos stürzt, das exerziert der Journalist hier durch.

Wolf Harlander - 42 Grad (Cover)

Seinen beruflichen Hintergrund als Journalist kann er dabei allerdings nicht verbergen. Dieser scheint in vielen Erklärdialogen zu den Themen Wasseraufbereitung, Gesteinsschichten oder Funktionsweisen von Wasserkraftwerken auf. Auch sind die Figuren doch holzschnittartig geraten und sind eher Funktionsträger, denn wirklich glaubhafte Figuren. Die Handlung und der Plot stehen im Vordergrund, eine plastische Skizzierung des Personals fällt da hintenüber. Hacking löst alle Probleme und trotz geschlossener Grenzen zu reisen oder unterzutauchen ist im Buch auch kein großes Problem. Ebenso verweisen die klar gezogenen Fronten zwischen Gut gegen Böse in ihrer Schematik auf den klar auf Unterhaltung und Effekt angelegten Charakter des Buchs.

Es ist ja eine starke Grundidee, die 42 Grad zugrundeliegt. Durch die arge Schablonenhaftigkeit von Plot und Figuren wird diese Idee leider etwas gemindert. Persönlich hätte auch auf die angelegte Liebesgeschichte, den Terrorismus-Twist oder die so manches Mal an ein B-Movie erinnernde Action und Dialoge im Buch nicht gebraucht. Da man bei der Lektüre von Harlanders Thriller aber wirklich etwas lernt und gut sich auch Bezüge zur Gegenwart in Pandemiezeiten ergeben, sei dieses Buch allen Spannungsfans mit Einschränkungen empfohlen. Nur ein Glas Wasser sollte man sich während der Lektüre besser neben den Stuhl im Schatten stellen. Man wird es brauchen.


  • Wolf Harlander – 42 Grad
  • ISBN: 978-3-499-00046-1 (Rowohlt Polaris)
  • 528 Seiten. Preis: 15,00 €
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Thilo Krause – Elbwärts

Von der Heimkehr in die ostdeutsche Provinz, von der schwierigen Vaterrolle und von einer bedrohlichen Flut: Thilo Krause in Elbwärts über die späte Aufarbeitung der eigenen Kindheit.


Der Rückzug in die ostdeutsche Provinz als Handlungsort für die Aufarbeitung der eigenen Kindheit – er hat in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Konjunktur. Neben ellenlangen Titeln ist diesen Büchern eine recht ähnliche thematische Gemengelage zueigen. Medial breit (und etwas am Thema vorbei) besprochen wurde zuletzt Lukas Rietzschels Debüt Mit der Faust in die Welt schlagen. Auch Manja Präkels Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß wäre in dieser Reihe zu nennen, das 2018 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet wurde.

Und nun legt der in Zürich lebende Lyriker Thilo Krause einen weiteren Roman vor, der sich nahtlos in das Strickmuster der obigen Romane einpasst. Zwei Freunde, die in der ostdeutschen Provinz (hier in der Sächsischen Schweiz) aufgewachsen sind. Eine schleichende Entfremdung, ein Wegzug des erzählenden Protagonisten. Nun eine Rückkehr an den Ort der Kindheit. Die Konfrontation mit der eigenen Geschichte, das Offenlegen der Brüche in der eigenen Biografie und der Versuch der Ergründung, was da so alles schiefgelaufen ist. Im eigenen Leben, in dem der Freunde und vor Ort, wo meist die Themen Landflucht, der Niedergang der Wirtschaft und das Erstarken von Neonazis dominieren.

Diesen Musters bedient sich auch Elbwärts. Dabei ist Krauses Erzähler einer, der in der erzählten Gegenwart für mich merkwürdig schwammig bleibt. Er hat zusammen mit seiner Frau Christina und „Der Kleinen“ ein altes Haus in seinem Heimatort bezogen. Im Garten rauschen die Obstbäume, drunten im Dorf die Elbe. Einen Job hat er keinen, vielmehr streift er barfuß durchs Dorf und die umliegenden Wälder. Seine Frau renkt die Knochen und Wirbel der Dorfbewohner ein, er bringt die gemeinsame Tochter in den Kindergarten. Trotz des beschaulichen Aufgabenumfangs ist er dieser Aufgabe allerdings nicht gewachsen. Er vergisst die Tochter im Kindergarten, während er die Wälder und Gesteinsformationen durchstreift und beklettert. Immer wieder imaginiert er sich bei diesen weltvergessenen Ausflügen zurück in seine Kindheit.

Erinnerungen an eine Kindheit in der Sächsischen Schweiz

Von dieser erzählt Krause mithilfe von Rückblenden. Von Vito, seinem besten Freund damals, mit dem er die Berge der Sächsischen Schweiz erklomm. Mit dem er sich die Zeit bei den Pionieren vertrieb oder Kaulquappen aus dem örtlichen Teich rettete. Und davon, wie Vito sein Bein verlor. Wie dieser blieb. Und wie sich der Erzähler davonmachte, weg von diesem Ort, der mit so vielen Erinnerungen versehen ist.

Thilo Krause - Elbwärts (Cover)

Nun ist er wieder da. Entzweigerissen vom Wunsch nach Kontakt mit Vito und der Angst genau davor. Er durchwandert die Wälder, philosophiert mit dem tschechischen Busfahrer und versteckt sich vor den Neonazis, die in den Wäldern ihre Lager abhalten. Während er in der Natur wie in seinem Element scheint, entgleitet ihm sein Familienleben aber zusehends. Und dann ist da auch noch die Elbe, die anschwillt und nicht nur viel Wasser mit sich führt, sondern auch die Verhältnisse vor Ort durcheinanderwirbelt.

Elbwärts ist im Kern ein nostalgisches Buch, das noch einmal die Gefährlichkeit einer Kindheit in der Provinz heraufbeschwört. Damals, als man ganze Nachmittage nur mit seinem besten Freund Abenteuer erlebte. Als die Eltern nicht wussten, wo man sich herumtrieb und in welche Gefahren man sich begab. Und demgegenübergestellt die Frage nach Vaterschaft heute.

Dabei arbeitet Krause die ganzen Paradoxien im Wesen des Erzählers (und damit in fast aller unser Wesen heraus). Früher durchlebte man diese Abenteuer, setzte sich und anderen beim Spielen großer Gefahren aus und berauschte sich daran. Eine solche Gefahr würde man seinen eigenen Kindern heute freilich verbieten. Auch der Erzähler würde es kaum zulassen, dass sich seine Tochter jemals in eine solche Lage brächte, wie er es tat.

Im Gegenteil, er überbehütet sein Kind fast, nimmt es extra aus der Kindergartengruppe heraus, um mit ihm zu Mittag zu essen. Dann aber wieder vergisst er die Schließzeiten der Kita, schläft beim Klettern ein. Eine widersprüchliche Figur, schwankend irgendwo zwischen Nostalgie, dem Wunsch nach Versöhnung und einer Depression. Die Frage nach Vaterschaft verhandelt Elbwärts auf interessante (und manchmal anstrengend) Art und Weise.

Bildstarke Prosa von Thilo Krause

Gesellschaftlich ist Elbwärts wohl wenig relevant beziehungsweise kann außer den eingangs bereits abgesteckten Themenfelder wenig Neues erzählen. Für die Situation vor Ort interessiert sich der Erzähler nicht wirklich. Er versteht auch die Bewohner vor Ort nicht und umgekehrt. Das gesellschaftliche Setting ist hier einfach gesetzt (und schon vorher ähnlich behandelt worden). Vom Land und von der Zeit erzählt Elbwärts in meinen Augen weniger, wenngleich das der Klappentext suggeriert.

Malerisches Vorbild: Caspar David Friedrich

In der Zeichnung der widersprüchlichen Figur des Erzählers hingegen ist Krause stark, genauso wie in puncto Sprache, in die das Buch gekleidet ist. So ist sein Erzählton von lokaler Verbundenheit geprägt (häufig etwa das regionale Verb krauchen). Seine Sätze sind zumeist kurz und präzise. Die voherigen lyrischen Veröffentlichungen merkt man dieser Prosa an. Seine Schilderungen der Felslandschaft und der darin erlebten Abenteuer lesen sich (unterstützt durch das tolle Cover) bildstark. Nicht zuletzt erzeugt das Krause auch dadurch, dass er das Kopfkino dadurch anwirft, indem er selbst auf die Romantik und Maler rekurriert, die ähnliche Beschreibungen wie er selbst schufen, allen voran Caspar David Friedrich.

Sprachlich ordne ich Elbwärts klar vor den Werken Rietzschels und Präkels ein. Und auch in Belang auf Vaterschaft, Nostalgie und Sehnsucht ist Krauses Buch in meinen Augen interessant. Für mich funktioniert die (wahrscheinlich bald wieder einsetzende) mediale Überformung dieses Romans hin zu einem Erklärbuch der ostdeutschen Zustände nicht. Was aber die sonstigen Aspekte des Werks angeht, ist das hier wirklich gut gemacht und hat mich überzeugt.


  • Thilo Krause – Elbwärts
  • ISBN 978-3-446-26755-8 (Hanser)
  • 208 Seiten, Preis: 22,00 €
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Augustus Rose – Philadelphia Underground

Kann das gutgehen? Ein Thriller über Kunst, eine junge Ausreißerin, Lost Places, Drogen, Diebstahl und Marcel Duchamp? Was nach einer zugegeben recht wirren Mischung klingt, geht im Fall von Augustus Rose‚ Debütroman Philadelphia Underground dann doch wirklich gut. Ein Roman, der auch Leser von Donna Tartt oder A. G. Lombardo interessieren dürfte.


Der Weg des großen Künstlers von morgen, er führt ihn in den Untergrund. Dieses Zitat wird Marcel Duchamp zugeschrieben. Visionärer Künstler, Schöpfer von sogenannten Readymades (wie etwa dem berühmten Urinal), Gemälden und Installationen wie seinem letzten Werk Etats Donnés, der seine Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Jener Duchamp scheint auch immer wieder den Weg Lees zu kreuzen. Diese lebt entfremdet von ihrer eigenen Familie in Philadelphia. Untergeschobene Drogen haben sie ins Jugendgefängnis gebracht. Von dort bricht sie aus – und wählt den Weg in den Untergrund. Sie taucht unter, bricht in Wohnungen ein, verdingt sich als Diebin und kommt schließlich in einer Wohngemeinschaft unter. Dort lernt sie Tomi kennen, der sie in die Gemeinschaft der Urban Explorer, kurz Urbex, einführt. Gemeinsam durchstreifen sie verlassene Gebäude, auch Lost Places genannt, und brechen unter anderem in das Kunstmuseum von Philadelphia ein. Dort lernt Lee durch Tomi die Kunst Marcel Duchamps kennen.

Auf den Spuren der Société Anonyme

Augustus Rose - Philadelphia Underground (Cover)

Doch es ist nicht nur die Kunst Duchamps, die Lee beschäftigt. Auch die sogenannte Société Anonyme treibt sie um. Jene Gesellschaft, die ursprünglich von Duchamp, Man Ray und Katherine S. Dreier gegründet wurde, scheint dieser Tage in Philadelphia auferstanden zu sein. Immer wieder tauchen Jugendliche völlig abgestumpft und entrückt nach Drogenexzessen auf. Die Société scheint hinter diesen Vorkommnissen zu stecken. Und Lee ist ebenfalls in ihr Visier geraten. Die Mitglieder jener omniösen Organisation haben die Jagd auf Lee eröffnet. Doch was wollen sie von ihr? Der Gang in den Untergrund scheint für die junge Frau angeraten.

Es ist eine wirklich wilde Mischung, die Augustus Rose in seinem Debüt hier anrührt. Eine Geheimgesellschaft, drogenvernebelte Kinder, die in Philadelphia auftauchen, eine Ausreißerin auf der Flucht, eine Schnitzeljagd durch und unter der Stadt und über allem schwebend Marcel Duchamp. Wie soll so etwas zusammenfinden? Nach der Lektüre von Philadelphia Underground kann ich konstatieren, dass Rose das Kunststück gelingt, ähnlich wie in der Kunst Marcel Duchamps, scheinbar Widersprüchliches zusammenzufügen, sodass ein überzeugendes Kunstwerk entsteht.

Ein Kunstwerk, zusammengebaut aus Widersprüchlichem

Im Kern ist Philadelphia Underground eine wilde Räuberpistole, an der man sich die Freude über den Text durch ein genaues Überprüfen der Realität verleidet. Vielmehr sollte man sich wie bei der Betrachtung von Kunst einfach einlassen auf Lee und das große Abenteuer, das ihr bevorsteht. Dieses Buch ist Konzeptkunst im Sinne Duchamps, die mitreißt, die in Bunker und Röhren unter Philadelphia entführt. Die eine Coming of Age-Geschichte ist, ein großes Abenteuer mit einer Prise Momo gegen die grauen Männer. Action gepaart mit Kunstbetrachtungen, die Stadt Philadelphia als großes Abenteuerspielplatz und nicht zuletzt auch eine etwas unorthodoxe Einführung in das Schaffen Duchamps. Was hier vielleicht etwas theoretisch klingt, wird im Buch zu einer spannend zu lesenden und immer wieder überraschenden Geschichte, die zum originellsten gehört, das ich dieses Jahr bislang in die Finger bekam. Und einer, die ich bei nächster Gelegenheit gleich noch einmal lesen möchte.

Fazit

Was ist nun Philadelphia Underground von Augustus Rose? Wie sollte man es auf einen Nenner bringen? Ich würde sagen, dieses Buch ist originell, eigen, eine Hommage an die Kunst Marcel Duchamps – literarische Konzeptkunst, leicht zugänglich, inspirierend. Ein Buch, das sich dem Thema der Kunst und der Kunstvermittlung auf außergewöhnlichen Wegen nähert.


  • Augustus Rose – Philadelphia Underground
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-492-05797-4 (Piper-Verlag)
  • 464 Seiten, Preis: 22,00 €

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Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst

Es könnte nicht passender sein: der dritte Roman des Übersetzers und Schriftstellers Kristof Magnusson heißt Ein Mann der Kunst. Dieser erscheint bei Kunstmann. Dort veröffentlichte der deutsch-isländische Autor bereits seine Bücher Arztroman und Das war ich nicht. Nun wendet er sich dem Genre des Künstlerromans und der Persiflage des Bildungsbürgertums zu. Gelingt Kristof Magnusson hier große Kunst?


Es hätte alles so schön sein können. Zusammen mit dem Direktor des kleinen, aber feinen Frankfurter Museums Wendevogel macht sich der illustre Förderkreis des Museums auf eine Busreise zur Burg Ernsteck. Dort lebt zurückgezogen von der Welt der Malerfürst mit dem großartigen Namen KD Pratz. Ein gefeierter Künstler, der irgendwo zwischen Richter, Baselitz und Polke changiert. Legendenumwoben und seit einer kurzen Liason mit Marina Abramovic auch in den Klatschspalten zuhause.

Dass KD Pratz dem Museum Wendevogel fast freundschaftlich verbunden war, war außergewöhnlich, galt er doch gemeinhin als schwieriger Mensch. Inzwischen Ende sechzig, war er einer der letzten verbliebenen Old-School-Künstler, der sich von Anfang an jeglicher Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb verweigert hatte und allgemein als sperrig galt und zu keiner Gefälligkeit bereit, kurz: er war offenbar ein ziemliches Ekel.

Magnusson, Kristof: Ein Mann der Kunst, S. 9

Jenem KD Pratz möchte das Museum einen eigenen Anbau widmen, in dem die Werke des renommierten Malers präsentiert werden. Doch zuvor gilt es neben der Förderung durch Bund und Land auch den Förderkreis ins Boot zu holen. Und so hat der Direktor (beziehungsweise seine Assistentin) eine Reise für die Mitglieder des Vereins organisiert. Ein Ausflug ins sommerliche Rheingau, bildungsbürgerliche Ausflüge und als Höhepunkt ein Blick ins Atelier auf des Meisters Burg. Jede Menge Goethe-Zitate und erlesene Gespräche inklusive. So der Plan.

Doch dass ein solches Wochende auch eskalieren kann, ganz egal wie gut es geplant ist, das erfahren auch die Mitglieder des Fördervereins rasch. Denn KD Pratz stellt eindrücklich unter Beweis, dass die Gerüchte über seine Weltabgewandheit und Misanthropie alles andere als Gerüchte sind.

Ein Wochenende eskaliert

Erzählt wird die Reise von einem der Gruppe relativ außenstehenden Mann: Constantin Marx. Dieser ist eigentlich Architekt und nutzt das geplante Wochenende, stressigen Abstimmungen mit Bauherren und Firmen zu entkommen. Seine Mutter ist wie er selbst Mitglied im Förderverein und bewundert seit jeher KD Pratz. Als Ideengeberin eines eigenen KD-Pratz-Anbaus ist sie nun natürlich Feuer und Flamme, ihr Idol einmal aus nächster Nähe zu erleben.

Kristof Magnusson - Ein Mann der Kunst (Cover)

Die Turbulenzen und Komiken, die diese Reise birgt, schildert Constatin aus der Ich-Perspektive. Er wirft einen sezierenden Blick auf die Reisegesellschaft, die aus einem gescheiterten Kurator, einer überqualifizerten Assistentin, einem pensionierten Pfarrersehepaar oder auch einem millionenschweren Finanzier mit Einstecktuch besteht. Die Eigenheiten dieser Menschen und das hochkomische Zusammenwirken zwischen Bildungsbeflissenheit und gegenseitiger Ablehnung birgt jede Menge komisches Potenzial. Und Magnusson schöpft das voll aus.

Wie sich die Gruppe selbst zerlegt, wie der schwierige Malerfürst die Ansichten der Förder*innen erschüttert, wie sich das Bildungsbürgertum teilweise selbst demaskiert – hier lässt es sich mit großer Lust und Laune geschildert beobachten. Als Persiflage auf den Künstlerroman und das Bildungsbürgertum funktioniert Ein Mann der Kunst ganz hervorragend. Dass Magnusson dabei eher mit dem großen Pinsel malt, das ist bei seinem Thema verständlich. Seine Figuren sind größtenteils eher Karikaturen – aber diese sind wirklich gut gezeichnet. Der deutschen Literatur gebricht es eh an Autor*innen, die niveauvolle und lustige Satiren schreiben können. Hier liegt nun endlich wieder ein gelungenes Beispiel vor, wie das gehen kann. Keine ganz große Kunst. Aber mindestens mittelgroße!


  • Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst
  • ISBN 978-3-95614-382-3 (Kunstmann)
  • 236 Seiten, 22,00 €
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