Tag Archives: Afrika

Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

In diesem Bücherherbst ist es noch nicht so oft vorgekommen, dass sich Sprache, Botschaft und Inhalt eines deutschsprachigen Romans auf eine derartig großartige Art und Weise vermengt haben. Umso verblüffender, dass dieses Stück Literatur ein Debüt ist. Geschrieben hat es Christian Torkler und es hört auf den Namen Der Platz an der Sonne.

Auf der Flucht nach Afrika

Torklers Grundidee ist dabei bestechend und macht das Buch zur Pflichtlektüre unserer Tage. Denn er dreht die Fluchtbewegung von Afrika ins wirtschaftlich so prosperierende Europa einfach um. Bei ihm zieht es nun die Deutschen nach Afrika, so auch den Ich-Erzähler Josua Brenner, der sich auf eine unglaubliche Odysee hin zu seinem eigenen Platz an der Sonne macht.

Denn jenen Platz an der Sonne, den Bernhard von Bülow noch 1897 für das aufstrebende Deutsche Kaiserreich forderte, den hat Deutschland in Torklers Buch nicht bekommen. Stattdessen liegt Deutschland im Jahr 1978 in Kleinstaaten zersplittert danieder. Brenner lebt in der Preußischen Republik, die von  großer Armut, einer desolaten Infrastruktur und wild wuchernder Bürokratie gekennzeichnet ist. Mögen auch die Machthaber und ihre Wahlparolen wechseln, die Grundübel einer Nation im Niedergang bleibt. Und so beschließt Brenner, sich auf den Weg ins Gelobte Land zu machen, das hier der Afrikanische Kontinent ist

Nach der klassischen Einführung (Mann legt Beichte ab, die ihn in diese Situation gebracht hat, wir erfahren nach und nach seine Geschichte) formuliert Torkler eine wild wuchernde und überbordende Geschichte. Diese ist genauso eine alternative Geschichtsschreibung wie eine klassische Odyssee. Torkler formuliert einen fantastischen Bilderbogen, mitreißend und nachdenklich stimmend.

Für seinen Ich-Erzähler Josua Brenner findet er genau den richtigen Ton, genauso wie für alle anderen Menschen, denen er begegnet. Dass ein Debütant derart vielgestaltig und -sprachig zu erzählen weiß, das überrascht positiv und nimmt mich noch mehr für das Buch ein.

Ein anderer Blick

Hier zeigt sich wieder einmal was Literatur in ihrem besten Sinne kann. Sie lässt uns unsere Weltbilder hinterfragen, schürt Empathie und unterhält dabei auch noch auf das Beste. Wer Der Platz an der Sonne gelesen hat, der sieht neu auf Fluchtbewegungen und bekommt auch einen neuen Blick auf den Komplex Flucht. Gerade in Zeiten, in denen Diskurse vergiftet, Positionen verschoben und Mitgefühl als Schwäche verleugnet werden, rückt dieses Buch wieder vieles gerade.

Für mich ist Der Platz an der Sonne das Buch der Stunde, die Antwort auf alles fremdenfeindliche Geblöke und eine geistige Kur für alle, die von Wohlstandsflüchtlingen und Ähnlichem schwafeln. Eines der literarischen Highlights dieser Saison. Bitte lesen – danke!

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Kurz und Gut

Heute gibt es wieder eine Fuhre von Büchern, die ich in der letzte Zeit gelesen habe. Kurze Besprechungen neuer Titel – los gehts!

Jacqueline Woodson – Ein anderes Brooklyn

Es sind oftmals die kleinen und unscheinbaren Bücher, die aufgrund ihrer Konzentration dann den größten Eindruck hinterlassen. Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn zählt zu genau diesen Büchern. Bislang trat Woodson als Autorin von Büchern für Kinder und Jugendliche in Erscheinung – nun also ihr Debüt im Erwachsenengenre. Kurz nachdem das Buch im Deutschen erschienen war (Übersetzt von Brigitte Jakobeit), wurde die Autorin mit dem Astrid-Lindgren-Preis geehrt – nach der Lektüre dieses Buchs weiß man warum. Die Held*innen in Woodsons Buch sind August und Clyde, ein Geschwisterpaar, das mit ihrem Vater aus Tennessee nach Brooklyn gezogen ist. In der flirrenden Atmosphäre der Großstadt im Jahr 1973 sitzen die beiden zunächst noch beständig am Fenster, um das Treiben auf den Straßen zu beobachten. Doch bald öffnet sich die Welt der beiden und sie finden Anschluss auf den Straßen Brooklyns.

Auf nicht einmal 160 Seiten gelingt es Jacqueline Woodson, das komplexe Heranwachsen Augusts in einer schwierigen Umgebung zu skizzieren. Das komplexe Innen- und Außenleben der Held*innen wird von der Autorin gut eingefangen und glaubhaft vermittelt. Ein unglaublich präsentes, klares und unsentimentales Buch über die Kindheit. Auch meine geschätzte Mitbloggerin Birgit Böllinger war sehr angetan.

 

Nicolás Obregón – Schatten der schwarzen Sonne

Von Amerika aus geht es mit dem nächsten Buch auf einen ganz anderen Kontinent, nämlich Asien. Diesen bespielt der Debütautor Nicolás Obregón mit seinem Thriller Schatten der Schwarzen Sonne. Das Buch ist der Autakt zu einer geplanten Reihe um den Ermittler Kosuke Iwata. Dieser wurde zur Mordkommission in Tokio versetzt und bekommt es gleich mit einem gerissenen Täter zu tun. Dieser ermordete eine ganze Familie und hinterließ am Tatort eine gezeichnete Schwarze Sonne. Dieses Symbol wird dem Polizeibeamten noch öfter an Tatorten begegnen und führt ihn bis nach Hongkong. Doch die wahren Hintergründe bereiten Iwata  Kopfzerbrechen. Handelt es sich um Taten der Triaden, gibt es im privaten Umfeld der Ermordeten Motive oder steckt etwas ganz anderes hinter den Taten? Um den Täter zu stellen, muss Iwata ein hohes Tempo an den Tag legen – denn der Täter ist mit so ziemlich allen Wassern gewaschen.

Mit Schatten der Schwarzen Sonne hat Nicolás Obregón einen wirklich multikulturellen Thriller geschrieben. Obrégon selbst hat eine französische Mutter und einen spanischen Vater. Sein Buch hingegen wurde in Englisch verfasst, ins Deutsche von Thomas Stegers übertragen und in spielt in Japan und China. Wäre dieses Buch ein Fluggast, es hätte wohl so einige Bonusmeilen gesammelt. Obregón erfindet zwar das Rad nicht neu, bietet dafür aber einige spannende Lesestunden.

 

Horst Eckert – Der Preis des Todes

Horst Eckert schaut dahin, wo wir unseren Blick lieber abwenden. Mit seinen Kriminalromanen spürt er gesellschaftlichen Entwicklungen nach und bringt auch Themen aufs Tapet, die sonst eher unpopulär sind. Zuletzt untersuchte er in Wolfsspinne die Verflechtungen von NSU und den aktuellen rechten Bewegungen. In Der Preis des Todes richtet er seinen Blick von Deutschland aus nach Afrika. Genauer gesagt spielt eine große Stadt Afrikas im Buch eine tragende Rolle – die offiziell nicht einmal eine Stadt ist. Die Rede ist von Dadaab, einem der größten Flüchtlingslager der Welt. Dorthin führen die Spuren, denen die TV-Talkerin Sarah Wolf nachgeht.

Diese moderiert eigentlich im Öffentlich-Rechtlichen Fernsehen eine Talkshow. Privat ist sie mit einem parlamentarischen Staatssekretär liiert, was beide zu einem Versteckspiel zwingt. Dramatisch wird es, als ihr Geliebter tot in seiner Berliner Wohnung aufgefunden wird. Sarah zweifelt am offiziellen Tathergang und beschließt, auf eigene Faust die Hintergründe des Todes aufzuklären. Schließlich versteht sie sich ja qua Job aufs kritisches Nachhaken und Analysen. Und so führen sie die Spuren schon bald ins Flüchtlingslager nach Dadaab, wo sie einem Skandal auf die Spur kommt.

Im Gewand des Kriminalromans bietet Horst Eckert eine ungewohnte und betrachtenswerte Perspektive auf die internationalen Fluchtbewegungen. Ist hierzulande die Debatte über Flüchtlinge durch starre Lagerbildung, Meinungskämpfe und viel Geschrei aufgeladen, so bietet dieser Krimi die Gelegenheit, noch einmal einen Schritt zurückzutreten. Eckert bietet Einblicke in das Geschäft mit der Flucht, Lobbyismus und das Treiben hinter den Kulissen einer Talkshow. Relevant und auf Höhe der Zeit!

 

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Deon Meyer – Fever

„Es gab keine Gerechtigkeit im Universum. Als das Fieber kam, stand Dortmund auf dem zweiten Tabellenplatz, sie hätten Meister werden können. Thomas Tuchel war ihr Trainer. Ein verdammtes Genie …“ (Meyer, Deon: Fever, S. 230)

Der BVB und die Frage der Meisterschaft – das kann auch schon einmal in der Apokalypse enden, wie der südafrikanische Starautor Deon Meyer in seinem Buch Fever zeigt. Denn die Welt, wie wir sie kennen existiert im neuen Buch des Krimiautors nicht mehr, Grund dafür ist eine Fieberepidemie, die nahezu die komplette Bevölkerung ausgelöscht hat. Während sich die Flora und Fauna ihre Lebensräume zurückerobert, sind es nur wenige Menschen, die die Katastrophe überlebt haben.

Solche Überlebenden sind Nico und sein Vater Willem Storm, die in einem Truck durch Südafrika reisen, auf der Suche nach anderen Überlebenden und einem Plan in der Hinterhand. So schildert es uns Nico, der als Erzähler fungiert und uns eine Chronik des Untergangs und des Neuanfangs präsentiert. Wer sich hier an Cormac McCarthys Die Straße erinnert fühlt, liegt nicht ganz falsch. Das Thema vom Vater und seinem Sohn und deren Kampf ums Überleben ist identisch, Deon Meyer aber gelingt trotz der ähnlichen Ausgangslage ein ganz eigenständiger, ebenso unterhaltsamer wie nachdenklicher Roman, der Dystopie, Entwicklungsroman und Mad Max gekonnt verquickt.

Für die Erzählung seiner großen Geschichte (der Umfang fällt mit über 700 Seiten weit aus dem üblichen Rahmen, die Übersetzung besorgte Stefanie Schäfer) wählt Meyer einen besonderen Kniff. Der Großteil der Geschichte wird vom 13-jährigen Ich-Erzähler Nico Storm vorgetragen, der durch oftmalige Sprünge in der Chronik und Vorgriffe für Spannung sorgt. Dieser erzählerische Hauptstrang wird durch Berichte und Rückblenden vieler weiterer Charaktere ergänzt, die ebenfalls beständig zu Wort kommen. Denn Nicos Vater begründet im Lauf des Buchs den Ort Amanzi, an dem er einen Neustart der Gesellschaft versucht. Die Bewohner, die nach und nach Amanzi bevölkern, finden durch das sogenannte Amanzi-Projekt Gehör, das Willem Storm unaufhörlich vorantreibt. Er sammelt und konserviert die Eindrücke und Erfahrungen seiner Mitmenschen um ein möglichst umfassendes Bild der Fieberepidemie und dem Überlebenskampf der Menschen zu gewinnen.

Das alles ist wunderbar gemacht und fließt beständig in die Erzählung Meyers ein, was für Abwechslung und einen nie reißenden Spannungsbogen sorgt. Man beobachtet gespannt den Kampf ums Überleben der Amanzi-Gemeinde und die Spannungen, die sich innerhalb der Mikro-Gesellschaft abzeichnen. Dabei kann man Fever als einen spannenden und packenden Roman lesen, der vom Sterben genauso wie vom Überleben erzählt und der sich trotz seines Volumens wunderbar verschlingen lässt.

Man kann in Fever allerdings noch eine weitere, faszinierende Ebene entdecken, wenn man denn möchte. Denn Fever ist von einem großen Humanismus durchwirkt, der sich vor allem in der Figur des Willem Storm ausdrückt. Wie er zusammen mit seinem Sohn um das eigene Überleben und das der Menschheit kämpft, das gestaltet Deon Meyer eindringlich. Storm glaubt unverrückbar an das Gute im Menschen und die Fortschritte, die die Zivilisation bewirkt hat, auch wenn viele Geschehnisse in Amanzi dieser Hoffnung spotten. Seinem Sohn (und damit auch dem Leser) vermittelt Willem Storm eine nachahmenswerte Philosophie und viel Wissen, das sich wunderbar in den Gesamtkontext einfügt. Denker wie Baruch Spinoza, Yuval Noah Harari oder John Bowlby und deren Theorien sind Antriebsfedern, die Willem Storm und damit auch Amanzi am Laufen halten. Hier zeigt sich, wie Denken und Wissen Zivilisationen voranbringen kann, auch wenn häufig der Nutzen von Philosophie und Ethik in utilitaristischen Kreisen in Abrede gestellt wird. Meyer sieht das allerdings nicht so und bietet dabei am Ende einen interessanten Denkansatz: Ist es vielleicht am Ende eher jene die Philosophie und Ethik, die unsere Gesellschaften bewahren kann, als das technische Wissen und Know-How, das so leicht verlorengehen kann?

Man könnte Deon Meyers Fever fast als eine Art Versuchsanordnung betrachten. Da ist ein Dorf, das im Lauf des Buches wächst, es gibt verschiedene Einflussfaktoren, die das Vorankommen der Gesellschaft mal behindern und mal fördern. Geradezu analytisch ist man als Leser dabei, wenn man beobachtet, wie es sein könnte, nach einem Zusammenbruch den Resest einer Gemeinschaft oder im größeren gedacht, den Neuanfang einer Zivilisation zu versuchen. Dabei ergeben sich viele Fragen, deren Beantwortung nicht Ziel des Buchs ist, sondern nur der Denkanstoß. Wer möchte, kann unzählige dieser Fragen und Dilemmata entdecken: Was macht eine Gesellschaft aus? Was lässt Zivilisationen wachsen, welche Faktoren können die Entwicklung ausbremsen oder zurückwerfen?

Auch wenn ich die Mehr-als-Phrase eigentlich verabscheue (Mehr als ein Krimi oder Mehr als eine Dystopie …), da sie so unspezifisch wie (meist) unzutreffend ist. Hier möchte ich sie trotzdem zur Anwendung bringen. Fever ist mehr als ein Endzeitroman, mehr als ein Thriller. Der Verlag hat dies auch dankenswerterweise erkannt, schlicht prangt das Label Roman auf dem Cover. Natürlich bietet Fever viel Action und Spannung, all das ist unzweifelhaft vorhanden und gut gemacht, allerdings eben auch weit mehr als das. Eine wirkliche Empfehlung und ein wunderbarer Buchtipp für das kommende Weihnachtsfest.

P.S.: Gute Nachrichten gibt es an dieser Stelle auch für alle Bennie-Griessel-Fans. Der neue Band der Reihe mit dem Titel Die Amerikanerin erschient schon im März des kommenden Jahres. Ich bin gespannt, wie es mit Bennie nach dessen Absturz in Icarus weitergeht.

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Kurz und gut

Gael Faye- Kleines Land

Was passiert, wenn man den Ort seiner Kindheit hinter sich lassen musste und in einem anderen Land erwachsen wird? Davon erzählt Gael Fayes Debüt Kleines Land. Sein Protagonist Gabriel, genannt Gaby, wächst in Burundi mit seiner Schwester auf. Sein Vater ist Franzose, seine Mutter stammt aus Burundi und gehört der Ethnie der Tutsi an. Die unbeschwerte Kindheit endet aber recht bald, als nach einem Militärputsch die Auseinandersetzungen von Hutu und Tutsi zunehmen und schließlich in einem brutalen Bürgerkrieg münden. Nach der Flucht aus diesem sich selbst zerstörenden Land lässt Gaby die Erinnerung allerdings nicht los und er beschließt, noch einmal nach Burundi zurückzukehren.

Ein Buch, das ordentlich beginnt und dann immer faszinierender und besser wird, ehe es in einen packenden Schluss mündet. Faye erzählt bildstark und sehr farbig. Literatur über Afrika und dessen Menschen und Länder fristet in unserem literarischen Bewusstsein doch eher ein Nischendasein, umso schöner, dass uns hier ein junger frankophoner Autor in die wechselvolle Geschichte Burundis eintauchen lässt. (Übersetzung von Brigitte Große und Andrea Alvermann)

 

Hari Kunzru – White Tears

Hari Kunzru erschafft mit White Tears einen reizvollen Bastard aus Musikgeschichte, magischem Realismus und amerikanischer Gesellschaftsanalyse. Ähnlich wie Grégoire Hervier in Vintage ist es bei Kunzru auch die Musik, die einen Strudel aus Tod und Verderben auslösen wird. Dabei beginnt bei Kunzru eigentlich alles recht unscheinbar, und zwar mit der Freundschaft von Seth und Carter. Jene freunden sich auf dem Campus an und halten ihre Freundschaft auch nach dem Studium aufrecht. Ein von ihnen aufgenommenes und verfremdetes Musikstück wird dann allerdings zum Wendepunkt, an dem sich ihre Freundschaft und schon bald ihre Leben scheiden. Denn dieses Musikstück führt zu einem schweren Angriff auf Carter – und Seth beschließt, dem von ihnen produzierten Musikstück auf den Grund zu gehen. (Übersetzung von Nicolai von Schweder-Schreiner)

Kunzru schickt seinen Helden auf einen düsteren Trip in den (musikalischen) Süden der USA. Dabei stößt er an die Wurzeln von Rassismus, Blues und kultureller Aneignung vor. Ein Buch, das sich einer Einordnung konsequent entzieht, und das durch seine flirrende Art zu den eindrücklichsten und originellsten Büchern dieses Bücherherbstes gezählt werden darf.

 

Sarah Perry – Die Schlange von Essex

In ein unbekanntes England entführt die Autorin Sarah Perry in ihrem wirklich wunderbar gestalteten Buch Die Schlange von Essex. Ihre Geschichte spielt im ländlichen Essex gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Während sich zu dieser Zeit Sherlock Holmes bereits durch ein rasch wandelndes und von der Industrialisierung gekennzeichnetes England ermittelt, herrscht bei Perry noch höchste Entschleunigung. Ihre Heldin ist Cora Seaborne zieht sich aus Land nach Essex zurück, nachdem ihr Mann verstorben ist. Dort kollidiert sie mit dem ansässigen Pfarrer, der einen Gegenpol zu Cora bildet. Denn die Leidenschaft der jungen Frau gilt den Naturwissenschaften und dem Kampf um Selbstbestimmung. Punkte, die zu Konfrontationen mit William Ransome, so der Name des Pfarrers, führen. Doch lauert unter allem Streit auch eine starke Anziehungskraft zwischen beiden Parteien. (Übersetzung von Eva Bonné)

Leider konnte der von Sarah Perry entfachte Funke bei mir nicht überspringen. Über allen eigenwilligen Figuren vergisst Perry für meinen Geschmack etwas zu sehr, die Handlung zu strukturieren und voranzutreiben. Stattdessen dominiert das Figurenensensemble, was bei mir für einige Lesedurchhänger sorgte. Mehr Esprit und Agilität hätten dieser Schlange gut getan!

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Franzobel – Das Floß der Medusa

Sehenden Auges ins Verderben

Franzobel traut sich mit seinem neuen Roman etwas – er entwirft ein barockes, schon fast überbordendes Gemälde in Schriftform. Dreh- und Angelpunkt ist der Untergang der Medusa, eines großen Schiffes, das von Frankreich aus eigentlich den Senegal ansteuern sollte. Doch Egoismus, Verblendung und Geltungssucht sorgen dafür, dass aus dem Unternehmen schnell ein Desaster wird und sich ein Reigen der Eitelkeiten und Hybris entwickelt.

Vor der Küste Afrikas läuft der Master auf die Arguin-Sandbank auf. Der Kapitän rettet sich mit der Oberschicht auf die zu klein skalierten Rettungsboote – doch für 200 Menschen wird die Medusa zur Falle und sie schaffen es nicht von Bord. Man behilft sich kurzerhand, indem man aus den Schiffsteilen ein Floß für die restlichen Passagiere zimmert und mithilfe dieses Floßes die afrikanische Küste erreichen will. Der Plan ist gut, die Seewelt allerdings noch nicht bereit dafür. So treten schon bald die Schwächen des Plans zu Tage – und auf dem Floß entfesselt sich ein Überlebenskampf.

Franzobel erzählt seine Medusa-Parabel eng am historischen Kontext entlang (so versichert er dies zumindest im Nachwort seines fast 600 Seiten dicken Schmökers – bei allem detailliert geschilderten Kannibalismus an Bord der Medusa möchte ich mir den Begriff Schinken ersparen). Als besonderen Kniff dieses im 19. Jahrhundert spielenden Romans ist die Sprache Franzobels allerdings gar nicht historisch. Immer wieder flicht er postmoderne Manierismen ein. Der Erzähler wendet sich direkt an den Leser, korrigiert sich manchmal selbst und Besetzungsvorschläge für die Charaktere liefert Franzobel auch gleich selbst mit (von Lino Ventura bis Scarlett Johannsen reichen die Ideen des Österreichers). Dies sprengt manchmal wohltuend, manchmal irritierend den Fluss der Geschichte auf und sorgt für die nötige ironische Brechung, die dem Floß der Medusa gut zu Gesicht steht.

Mit großer Lust und Verve betrachtet Franzobel auch die Ausscheidungen und Auswüchse, als der Firnis der Zivilisation immer fadenscheiniger wird (an dieser Stelle sei nur an die Operation des Juden Kimmelblatt oder an das nutritive Treiben auf dem Floß erinnert, bei dem der Österreicher den Lesern nichts erspart).  Doch gelingt ihm auch, den Spagat zwischen Derbheit und möglichen Zumutungen zu halten und das Erträgliche nicht zu überreizen. Auch wenn der Roman nach der Schilderung des Schiffbruchs ebenfalls von einer kleinen Flaute erwischt wird, so trägt sich die Geschichte doch dann auch durch einige Sprünge und Szenenwechsel gut ins Ziel.

Das gelingt auch deshalb so gut, weil Franzobel wunderbare Stützpfeiler für sein Epos gefunden hat – die einzigartigen Figuren. Franzobel verleiht dem wirklich überbordenden Personaltableau eine formidable Gestalt. Alle Charaktere werden gut eingeführt und erhalten unverwechselbare Gesichter, Marotten und Schicksale (Clutterbucket! Schmaltz! Charlieee! Die Lafitte-Schwestern!). Wie sich diese Figuren auf dem Schiff bewegen, welche Welten dort aufeinanderprallen und wie man gemeinsam sehenden Auges ins Verderben steuert, das ist große Kunst und fürwahr eine ganze Zivilisation in nuce.

In meinen Augen ist Das Floß der Medusa ein wirkliches Epos, ein fantastischer Wurf und ein barock-modernes Drama, das weit über seinen historischen Kontext hinausweist. Völlig zu Recht ist das Buch für den Deutschen und nun auch für den Bayerischen Buchpreis nominiert. Ein Sieg wäre dem Buch zu gönnen!

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