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Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch

Während die Debatte um das Vorgehen der israelischen Regierung im Gazastreifen heiß läuft und die erschütternden Bilder von dort fast jeden Tag zu neuen Diskussionen führen, kommt dieses Debüt der deutsch-israelischen Autorin Nirit Sommerfeld zur genau rechten Zeit. Denn Beduinenmilch gibt Einblicke in das tägliche Leben und Miteinander in Israel auf israelischer wie palästinensischer Seite . Damit liefert der Roman damit einen wichtigen Beitrag für Verständnis und Versöhnung und damit genau das, was dem Konflikt dort im Nahen Osten gerade so sehr fehlt.


Können Bücher die Welt besser machen? Ich meine eher nein, wie ich es in diesem vor fünf Jahre erschienenen Artikel schon einmal dargelegt habe. Wobei uns die Literatur aber helfen kann, ist ein besseres Verständnis für die Welt und ihre Bewohner*innen zu entwickeln. Geradezu ein Paradebeispiel für diese These liefert der Roman Beduinenmilch der Schauspielerin und Sängerin Nirit Sommerfeld, die damit ihr literarisches Debüt im ars vivendi-Verlag vorlegt.

Bei dem Roman handelt es sich um ein Buch, das sich der Gattung eines sommerlichen coming of age-Romans zuschlagen lässt und das auch als Jugendbuch funktioniert. Die Ich-Erzählerin Talia steht kurz vor ihrem 18. Geburtstag und gedenkt diesen nicht mit ihren Eltern in Berlin zu feiern, sondern stattdessen nach Israel zu fliegen, wo sie ein paar Wochen verbringen will. Ähnlich wie ihrer Erschafferin Nirit Sommerfeld hat auch Talia deutsch-israelische Wurzeln, die sie im Lauf des Romans immer eingehender erkunden wird.

Familiäre Wurzeln in Tel Aviv

Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch (Cover)

Ihr Urgrovater Sigfried Edelman floh einst aus Chemnitz nach Israel. Hatte sein eigener Vater im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft, wurde dieser dennoch kurz darauf von den Nazis in einem Konzentrationslager umgebracht. Sein Sohn entgang der Ermordung durch die Flucht nach Israel.

Dort gründete Talias Großvater dann wieder eine Familie, zu der die junge Frau nun reist. Doch nicht nur das Wiedersehen mit der Familie und die Feier ihres 18. Geburtstags steht auf der Liste von Vorhaben, die Talia dort in Tel Aviv erleben will. Vor allem möchte sie zum Militär, um dort ihren Dienst genauso wie ihre Cousine und ihre Freunde abzuleisten. Zwar kann sie aufgrund ihrer doppelten Staatsbürgerschaft eine Brefreiung vom Dienst an der Waffe vorweisen, dennoch möchte sie diesen Dienst ableisten und fordert so schon bei der Einreise ohne das Wissen ihrer Familie einen Einberufungsbefehl an.

Das Wissen um ihr Vorhaben und die gleichzeitige Unkenntnis ihrer Familie von diesen Plänen bildet für die folgenden Tage in Israel einen moralischen Konflikt, der sich im Lauf des Buchs immer weiter verstärken wird. Während die ersten Tage vor Ort ganz unbeschwert sind, bringen zufällige Begegnungen Talia immer stärker ins Grübeln. Denn obschon ihre Cousine oder ein Schwarm von ihrem letzten Besuch in Israel den Dienst als patriotische Pflicht sehen, lernt Talia während ihrer Tage dort auch den Palästinenser Haytham kennen. Dieser muss sich als illegaler Bauarbeiter in einem Rohbau gegenüber des Hauses von Talias Familie verdingen.

Sie freunden sich an, doch die aufkommende Freundschaft wird rüde durch eine Verhaftung Haythams unterbunden. Ihm soll als illegaler Flüchtling in Israel der Prozess gemacht werden – nur einer von tausenden Illegalen, die zwar rechtlich in Israel unerwünscht sind, aber trotzdem für das Funktionieren der Gesellschaft gebraucht werden.

Es wird nicht der einzige Konflikt und Widerspruch bleiben, auf den Talia während ihrer Zeit dort stößt. Und auch die anfängliche Euphorie über den Wehrdienst soll im Laufe des Romans einer immer größeren Skepsis weichen. Das hat mit dem Geschehen vor Ort, aber auch ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun. Denn diese hängt mit einem palästinensischen Geisterdorf in der Wüste zusammen, auf das die junge Frau per Zufall stößt…

Tiefe und Erkenntnisreichtum

Beduinenmilch ist ein Roman, der aufgrund seiner Erzählhaltung und der unbedarften Erzählerin Talia zunächst leicht daherkommt. Dennoch entfaltet Sommerfelds Roman schnell eine Tiefe und Erkenntnisreichtum, weil man mit Sommerfelds Heldin Talia dazulernt und neue Einsichten gewinnt. Zwischen radikalen Siedlern, gegängelten Palästinensern, Erinnerungen an die Nakba wie auch die Perspektive der jüdischen Zivilbevölkerung gelingt es Nirit Sommerfeld, die vielen widersprüchlichen, geschichtlich gewachsenen und ihrer Komplexität nicht immer leicht zu durchdringenden Gemengelagen dort in Israel zwischen Palästinensern und Israelis verständlich zu schildern.

Ähnlich wie zuletzt Dana Vowinckels Gewässer im Ziplock bricht auch in Nirit Sommerfelds Roman eine junge Frau von Berlin aus nach Israel auf, um im Kulturclash vor Ort neue Perspektiven zu gewinnen und sich auch mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Bei Sommerfeld hat das Ganze auch noch eine historische Komponente, denn immer wieder unterbrechen Briefe von Talias Großvater den Lesefluss, deren Schilderungen sich mit der Gegenwart (vielleicht eine Spur zu gerade und glatt, aber durchaus sinnreich) mit den aktuellen Geschehnissen verbinden.

So entsteht ein Roman, der einen historisch informierten und angenehm differenzierten Blick auf das Miteinander von Palästinensern und Israelis wirft. Das Ganze mag manchmal im Erzählton eine Idee zu didaktisch und zu plakativ sein, doch solcherlei Kritik verstummt angesichts des Leids und der teilweisen Ignoranz im Israel-Gaza-Konflikt dieser Tage wieder schnell.

Fazit

Auch wenn Beduinenmilch hauptsächlich 2014 spielt, ist Sommerfelds Roman aber ein Buch, das über diese konkrete Jahreszahl hinaus auf das grundsätzliche Miteinander und viel zu oft auch Gegeneinander der Völker dort blickt. Themen wie Raketenangriffe auf Israel, Sympatie für die Agitationen der Hamas, Hass und Hetze sind eben leider 2025 genauso präsent wie im von Nirit Sommerfeld beschriebenen Jahr 2014.

Diese traurige Aktualität und Zeitlosigkeit der Themen macht das Buch zu einem wichtigen und höchst niedrigschwelligen Beitrag, der neben seiner literarischen Unterhaltung auch unangestrengt viel Wissen und Perspektiven vermittelt, hin zu einem hoffentlich besseren Miteinander, das von Verständnis geprägt ist, ganz wie es Sommerfelds Protagonisitin Talia vormacht. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…


  • Nirit Sommerfeld – Beduinenmilch
  • ISBN 978-3-7472-0716-1 (Ars Vivendi)
  • 344 Seiten. Preis: 22,00 €

Nicolás Ferraro – Ambar

Roadtrip, Coming of Age und Gangsterballade. Das alles mischt der Argentinier Nicolás Ferraro in seinem Thriller Ambar zusammen, in dem er eine junge Teenagerin zusammen mit ihrem Vater, einem Auftragsmörder, quer durch Argentinien schickt. Nun liegt das Buch in der Übersetzung von Kirsten Brandt im Pendragon-Verlag vor.


Meine Kindheit ist ein unvollendetes Tattoo, weil irgendjemand beim Stechen ständig das Design verändert hat. Oder ich habe beschlossen, es nicht weiter stechen zu lassen, weil ich den Schmerz nicht mehr ertrage.

Nicolás Ferraro – Ambar, S. 230

Das Tattoo, es ist ein Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman des argentinischen Autors und Bibliothekars Nicolás Ferraro zieht. So ziert ein Tattoo mit der Inschrift ÁMBAR den Unterarm von Ambars Vater, der sich die Erinnerung an seine Tochter unter Schmerzen auf seinen Körper hat schreiben lassen. Im Gegensatz zu anderen tätowierten Männer sind es aber auch zahlreiche Narben, die seine Haut zieren, denn Ámbars ist nicht wie andere Väter. Ámbars Vater ist ein Killer.

Die Tochter eines Killers

Ruhe, ein stabiles Zuhause oder Schule, das alles gibt es für seine Tochter nicht, denn mit seiner Tochter an seiner Seite ist ihr Vater unterwegs durch ganz Argentinien. Für seine Aufträge reist er in Autos umher, bringt Menschen um und ist auf der Flucht. Seit Kindesbeinen an sind so die Erinnerungen von Ámbar an ihren Vater von Wunden und der damit verbundenen Gewalt geprägt.

Als ich zwölf war, hat Papá mir beigebracht, Kugeln zu entfernen und Wunden zu nähen. Mit dreizehn habe ich schießen gelernt und ein paar Monate später, wie man ein Auto kurzschließt.

Nicolás Ferraro – Ámbar, S. 8

Doch auch Ámbar hat Ziele, die sich in Form eines Tattoos ausdrücken. Denn darauf spart das Mädchen schon seit langer Zeit, während es mit seinem Vater durch Argentinien zieht und immer wieder die Identität wechselt, mal Alejandra heißt oder auf den Tarnnamen Delfina hört und ihren Vater bei seiner Arbeit unterstützt, indem sie Orte und Menschen ausspioniert oder seine erlittenen Wunden versorgt.

Unterwegs durch Argentinien

Nicolás Ferraro - Ámbar (Cover)

Doch nun ist alles anders. Denn jemand möchte Ámbars Vater tot sehen. Dieser dreht allerdings den Spieß um und macht Jagd auf die Menschen, die seinen Tod wollen. Und so beginnt ein Roadtrip, der von Gewalt. immer neuen Identitäten und Schauplätzen geprägt ist, während das Mädchen und ihr Vater auf der Reise über ihren Musikgeschmack streiten und eigentlich nur aus der Geschichte herauswollen, in die sie geraten sind. Doch dabei rückt eine Frage immer weiter in Ámbars Fokus: kann sie ihrem Vater überhaupt trauen?

Ámbar kennzeichnet eine Mischung aus Elementen eines klassischen Road Novels, die manchmal schon fast spaltterhaften Gewalt vor allem im letzten Teil des Buchs sowie dem Grundmotiv eines Coming of Age-Romans, in dem sich Ámbar zum ersten Mal verliebt und eigentlich andere Ziele hat, als das Überleben ihres Vaters zu sichern. Es ist ein Roman, der an seiner disparaten Motivlage scheitern könnte, es aber nicht tut. Denn all diese Elemente fügen sich sehr gut zusammen und lassen den Roman immer weiter vorantreiben, während Ámbars Vater nacheinander alle Verdächtigen auf seiner Liste abklappert, um seinen Gegnern näher zu kommen.

Und auch wenn sich die Schauplätze Argentinien und Chile nicht ganz die gleichen sind, so ist doch auch die Ähnlich zu María José Ferradas Roman Kramp unübersehbar. War es bei ihr ein Handelsvertreter, der zur Zeit der Pinochet-Diktatur mit seiner Tochter auf Reisen durch das Land ging, ist Ámbar gewissermaßen die große Schwester zu diesem Roman. Auch hier dominiert die Reise eines Vaters mit seiner Tochter und deren Erwachsenwerden den Roman, wenngleich Nicolás Ferraros Erzählung genrebedingt deutlich gewalthaltiger und ohne große politische Bezüge daherkommt.

Fazit

Ein dunkler Roadtrip und das spannungsgeladene Verhältnis einer Tochter zu ihrem Vater stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich aus ganz verschiedenen Genres und Stilistiken speist und doch zu einem wohlgetakteten und pulsierenden Noir findet. Mit Nicolás Ferraros mit dem Premio Hammett ausgezeichneten Kriminalroman ist dem Pendragon-Verlag eine interessante Entdeckung gelungen, deren eher an ein Jugendbuch erinnernde Aufmachung fast ein wenig am Charakter des Buchs vorbeigeht. Das Erscheinen von Ámbar auf der Krimizeit-Bestenliste des Jahres würde mich nicht verblüffen.


  • Nicolás Ferraro – Ámbar
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • ISBN 978-3-86532-901-1
  • 312 Seiten. Preis: 22,00 €

Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €

Robbie Arnott – Limberlost

Literatur aus Tasmanien findet sich gar nicht so häufig in den hiesigen Buchläden. Richard Flanagan dürfte der bekannteste Vertreter der Literaturszene auf der australischen Insel sein. Doch mit Robbie Arnott hat der Berlin-Verlag nun einen weiteren Vertreter aus Down Under in seinem Portfolio. Dieser macht mit seinem deutschsprachigen Debüt Limberlost gleich einmal auf sich aufmerksam.


Limberlost, so heißt jene Plantage, auf der der junge Ned West aufwächst. Seine beiden großen Brüder Bill und Toby sind verdingen sich als Rekruten irgendwo im Zweiten Weltkrieg. Da zu jung, ist Ned der einzige männliche Spross, der zusammen mit seiner Schwester Maggie bei seinem Vater auf der Plantage zurückgeblieben ist.

Während der schweigsame Vater mit dem Ertrag der Apfelplantage kämpft, durchstreift Ned die paradiesische Natur Tasmaniens, die vor seiner Haustür beginnt. Dabei treibt ihn ein bestimmtes Ziel an. Denn seit er im Alter von fünf Jahren von einem Wal hörte, der im nahegelegenen Fluss für Zerstörung und vor allem viel Gerüchte gesorgt hatte, ist er von der Welt des Wassers fasziniert. Mit einem eigenen Boot könnte er den Fluss vor der Haustür bereisen, selbst auf Fahrt gehen und so dem Trott zuhause entfliehen.

Der Traum vom eigenen Boot

Robbie Arnott - Limberlost (Cover)

Doch für einen Jungen mit keinem nennenswerten Einkommen liegt der Traum eines eigenen Boots natürlich in weiter Ferne. Doch Ned ist erfinderisch und beginnt, die Kaninchen zu jagen, die das Gelände um die heimische Farm zu Hunderten bevölkern. Er wird zu einem geschickten Jäger und Fallensteller, der die Kaninchen erlegt, um ihre Felle dann einem Krämer im nahegelegenen Beaconsfield im Norden der Insel zu verkaufen. Aus den Fellen werden Mützen für die Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und Ned erhält für die abgenommenen Felle ein Honorar, das er eisern spart, um seinem Traum so näherzukommen.

Limberlost erzählt die Geschichte eines Sommers, der an einigen Stellen von Rückblenden des Lebens des erwachsenen Ned durchbrochen wird. Es ist ein Sommer, in dem Ned an der Schwelle vom Jungen zum Mann steht, was auch durch die Rückblenden so noch einmal betont wird. Dadurch fällt Arnotts Roman in die Gattung des klassischen Coming of Age Novels.

Genauso ist sein Roman aber auch eine Feier der überwältigenden Schönheit der Natur Tasmaniens, die Arnott ebenso vorzüglich wie seine Landsmänner Richard Flanagan oder auch Kyle Perry in Prosa zu bannen weiß (die Nikolaus Hansen ins Deutsche übersetzt hat):

ein Wald voll großer Farne und heller Pilze, mit ebenem Boden und dickstämmigen Bäumen, klaren Bächen und kühlem Schatten, ein Wald von unergründlichen, geheimnisvollen Tiefen. Ein Ort mit dunkeläugigen Wallabys und feistgesichtigen Possums und flackernden Zaunkönigen und adlergroßen Raben und vorstellbaren Mengen von Kaninchen. Ein Ort, so gänzlich anders als Weideland, Flusslandschaft und Obstplantagen, dass Ned, als er anfing, sich seinen Weg durch diese Natur zu bahnen, die belaubte Erde hinter sich ließ und jener Version der Welt, wie er sie kannte, entschwebte.

Robbie Arnott – Limberlost, S. 98

Blut und Sonnenschein

Dass dieses Buch allerdings keineswegs die Verklärung einer Kindheit oder einer unberührten, romantischen Naturidylle ist, das macht Arnott auch klar. Wenn es in einer Passage des Buchs heißt, dass Blut und Sonnenschein Neds Tage erfüllten, dann bringt das auch die Programmatik dieses Romans gut auf den Punkt. Denn neben der jugendlichen Begeisterung für das Boot und das Tom Sawyer-artige Durchstreifen der Landschaft erzählt Limberlost auch von den Brüchen, von der Allgegenwart des Todes, etwa in Form des blutigen Handwerks der Kaninchenjagd oder des aus der Ferne grüßenden Geschehens auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

So muss Ned im Lauf seines Lebens nicht nur den Traum des eigenen Schiffes beerdigen, ohne an dieser Stelle weitere Volten der Handlung vorwegnehmen zu wollen. Ebenso wie Limberlost von Idealen und Paradiesen erzählt, findet auch eine Zerstörung dieser Paradiese statt. Immer wieder bricht die erwachsene Welt des Abschieds in die kindliche Welt der Idylle dort in Tasmanien ein.

Das verleiht dem Buch Tiefe und kontrastiert die Welt Neds auf hervorragende Art und Weise, sodass dieses Buch für eine wirklich große Leserschaft eine Empfehlung verdient

Fazit

Robbie Arnotts Einstand namens Limberlost ist ein bittersüßes, melancholisches, lebenspralles, ebenso sinnliches wie luzides Werk, mit dem er sich schon jetzt einen Platz auf der literarischen Landkarte Tasmaniens sichert. Eine wirklich Entdeckung, die Lust macht auf weitere Titel aus seiner Feder!


  • Robbie Arnott – Limberlost
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1490-0 (Berlin-Verlag)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €

Lion Christ – Sauhund

Monaco Flori. In seinem Debüt Sauhund schickt Lion Christ den jungen Flori Anfang der 80er Jahre aus Wolfratshausen nach München , wo dieser in die schwule Welt der Landeshauptstadt eintaucht und sich durchs Leben schlägt, immer auf der Suche nach seinem Platz im Leben.


München, das ist Oktoberfest, Englischer Garten, Monaco Franze, Frauenkirche und Biergartenbehaglichkeit. So zumindest, wenn man Klischees über die bayerische Landeshauptstadt und das dortige Lebensgefühl bemüht.

Neben derlei Allgemeinplätzen gab es aber auch immer eine queere Subkultur in dieser sonst so heteronormativen Welt, die sich zwar weltoffen nennt, in der aber kein Regenbogen am weiß-blauen Horizont zu sehen ist und in der eine queere Kinderbuchlesung in einer Stadtbücherei schon einmal zu Shitstorms, Demonstrationen und Drohungen führt.

Will man das queere Leben in der München sucht, dann wird man im Glockenbachviertel fündig. Hier schlägt das Herz einer Stadt, die schwule Künstler wie Rainer Werner Faßbinder ebenso wie internationale Stars wie Freddie Mercury in den 80er Jahren anlockte (worüber, nebenbei bemerkt, dem Münchner Autor Nicola Bardo im vergangenen Jahr ein veritabler Bestsellererfolg gelang). München, das ist auch die Lebenswelt von Flori, den es nach seinem Zivildienst im Wolfratshauser Altenheim und einer anschließend unrühmlich zu Ende gegangenen Episode im Loisachkaufhaus in den Nachbarlandkreis in die große Landeshauptstadt verschlagen hat.

Aus Wolfratshausen nach München

Dort hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser, kommt erst bei einer Freundin unter, rutscht dann aber immer weiter auf der sozialen Ebene nach unten. Während er sich im schwulen Nachtleben ausleben möchte, wie es ihm im kleinen Sonnkirchen mit seinen sozialen Kontrollmechanismen und der landläufigen Homophobie nicht möglich war, ist ihm auch beruflich eine „normale“ Rolle suspekt. Lieber schnorrt er sich durch, muss sich in schlechten Phasen selbst prostituieren, um irgendwie durchzukommen. Aber sein Wille zum Glück ist ungebrochen, auch wenn er sich selbst oft genug im Weg steht.

Lion Christ beobachtet seinen Ich-Erzähler dabei, wie er die Flucht aus der Enge der Heimat antritt, die Verheißung Münchens aber auch nicht wirklich in eigenes Glück umzumünzen vermag. Schon früh treibt die Mutter die Sorge um, was aus diesem Jungen einmal werden soll. Nach der Lektüre von Sauhund vermag man es auch noch nicht zu sagen, hat aber einen guten und interessanten Roman über einen Stolperer im Leben gelesen, weil er eben auch sehr hell das ausleuchtet, was im heterosexuellen Kontext sonst weniger Thema ist, sei es auch nur das Geschehen in öffentlichen Toiletten, in denen sich Flori des Öfteren herumtreibt.

Der Sauhund schlägt sich durch

Lion Christ - Sauhund (Cover)

Dieses Debüt ist reichlich explizit, schildert das Treiben in den mit Plüsch ausgekleideten Bars und Kneipen des Glockenbachviertels genauso wie Cruising und schwulen Sex. Was in eine plumpe und voyeuristische Heinz-Strunk-haftigkeit abrutschen könnte, entgleitet dem Autor allerdings dadurch nicht, da er auch großes Talent für die zarten Momente, für die Sehnsüchte und die Unmöglichkeit der Kommunikation eigener Gefühle und Bedürfnisse an den Tag legt.

So ist Sauhund ein Buch, das die in den 80ern weit verbreitete Tabuisierung homosexuellen Lebens in der Stadt und besonders auf dem Dorf in treffenden Bildern zeigt. Zu den berührendsten Szenen des Romans zählt, wie Christ das absehbare Coming Out des Jungen beschreibt, zu dem es in Floris Elternhaus in Wolfratshausen allerdings nicht kommt. Der zuoberst auf dem Lesestapel der Mutter liegende Spiegel, der mit der AIDS-Krise aufmacht, ist da noch die größte Andeutung des Wissens um die Queerness ihres Sohnes – wirklich ausgesprochen werden die Wünsche und Sorgen allerdings erst reichlich spät in diesem Roman.

Coming of Age – aber in gut

Lion Christs Debüt reiht sich ein die Riege dutzender Coming of Age-Romane, die seit einiger Zeit den Buchmarkt überfluten. Aber ähnlich wie zuletzt Charlotte Gneuß mit ihrem Debüt Gittersee gelingt es auch Christ dem eigentlich schon recht auserzählten Genre eine interessante und lesenswerte Facette abzuringen, indem er ein schwules Coming of Age erzählt, das der sonst sehr heteronormativ geprägten Gattung zuwiderläuft.

Und ähnlich wie Charlotte Gneuß muss man auch Lion Christ großen Respekt zollen, wie er es schafft, eine Milieu zu einer Zeit zu beschreiben, die er selber so gar nicht miterlebt haben kann. Christ, der nach Angaben seines Verlags Ende der 90er Jahre geboren wurde, kam damit erst zwanzig Jahre nach den im Buch beschriebenen Ereignissen zur Welt, legt aber großes literarisches Geschick in Sachen milieu- und zeitgeschichtlicher Präzision an den Tag, eingekleidet in eine klar bayerische Diktion, die sich gut in die Geschichte einfügt, ohne zu künstlich oder aufgesetzt zu wirken.

Dabei rückt er den Roman sogar in die Tradition oder viel mehr Gegentradition des Monaco Franze, jenes legendären Schürzenjägers aus Helmut Dietls Fernsehserie, der ebenfalls Anfang der 80er Jahre allerdings die Damenwelt Münchens unsicher machte. Hier ist es nun Monaco Flori, der sich durch das Nachtleben der Stadt treiben lässt, bei verschiedenen Männern sein Glück versucht und der auf dem Gärtnerplatz schon einmal eine Dialoghommage belauscht, die das Provinzielle, den rechten Scheißdreck der Darbietung im nebenan gelegenen Theater verdammt, wenn man sich mal nicht als „Spatzl“ tituliert.

Fazit

Ein prima Debüt, das sich mit einer Coming of Age-Geschichte im schwulen München einem Milieu verschreibt, das sonst nicht allzu häufig erzählerisch beleuchtet wird. Explizit, bayerisch, hoffnungslos und hoffnungsvoll, berührend und komisch ist diese Geschichte Floris, die Lion Christ in Sauhund präsentiert.


  • Lion Christ – Sauhund
  • ISBN 978-3-446-27747-2 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €