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Daniela Krien – Mein drittes Leben

Wie weiterleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Daniela Krien erkundet es in ihrem Roman Mein drittes Leben einfühlsam und erzählt von Trauer und von der Schwere, einen Neuanfang zu wagen.


Den Entschluss seiner Frau zu einem Umzug kann Richard überhaupt nicht nachvollziehen. Ein ödes Dorf mitten im Nirgendwo der Leipziger Peripherie hat sie sich ausgesucht, um dort einen heruntergekommenen Hof zu bewohnen. Außer der Durchgangsstraße mit rauschendem Durchgangsverkehr gibt es dort nichts, was irgendwie von Aufbruch oder Vorankommen zeugt. Dort möchte man nicht begraben sein, wie Lindas Mann Richard bei der ersten Fahrt durch diese reizlose Ansammlung von Häusern bemerkte. Und auch Linda muss ihm beipflichten – und doch wohnt sie nun dort.

Den Grund für den Um- oder besser Rückzug erläutert Daniela Krien in kleinen Erinnerungsfetzen, die immer wieder den neuen Alltag von Linda durchschießen. Denn ihre Tochter Linda ist gestorben, als sie auf ihrem Rad von einem abbiegenden Laster im Leipziger Straßenverkehr übersehen wurde. Diese Tragödie verwinden Linda und ihr Mann auf unterschiedliche Art und Weise. Denn während für ihn das Leben irgendwie weitergeht, er als Künstler um seinen Ausdruck kämpft, lautet Lindas Antwort auf den Verlust – Rückzug.

Rückzug ins Durchgangsdorf

Daniela Krien - Mein drittes Leben (Cover)

Ihre Stelle in einer Kunststiftung gibt sie auf, sie zieht von zuhause aus, sucht im Durchgangsdorf einen Rückzug, um zu trauern und ihren restlichen Lebensmut gleich mitzubegraben. Doch damit wäre Mein drittes Leben ein reichlich kurzes Buch geworden – und auch das titelgebende Leben nach dem Verlust ihres Kindes und der Distanz zu ihrem Mann hätte nicht stattgefunden.

Doch beobachtet Daniela Krien im folgenden, durch die Ich-Perspektive erzählerisch ganz nah dran an ihrer Protagonistin, wie sie sich zunächst im Dorf einen neuen Alltag und neue Kontakte erschließt – und später auch in Leipzig wieder neu Fuß fasst und so vorsichtig ein neues Leben beginnt, das nicht nur Weiterleben ist.

Mein drittes Leben besticht durch seine genaue Auslotung der Seelenzustände und Verheerungen nach der tödlichen Nachricht des Todes eines eigenen Kindes. Ein Umstand, für den die deutsche Sprache gar kein Wort vorsieht, so wenig dieser Fall eigentlich eintreten soll. Und doch ist es für Linda und ihren Mann so. Wie wenig man darüber kommunizieren kann, wie eine solche Nachricht zum Auseinanderbrechen zwischen zwei Partnern führen kann, das beschreibt Krien eindrücklich.

Ein Neuanfang nach dem Ende

Ihre Sprache dabei ist nicht sentimental, sondern sehr präzise und fasst die Erkundungen der Seelenlandschaft in eine klare Prosa.

Ich blicke aus dem Fenster auf einen zur Hälfte gepflasterten, zur anderen Hälfte mit Rasen bewachsenen Hinterhof, der begrenzt wird von einer mit Efeu überwucherten Sichtschutzwand. Das alte Konzept meines Lebens habe ich endgültig aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht, mehr muss es auch nicht sein.

Daniela Krien – Mein drittes Leben, S. 169

Ähnlich wie in diesem Jahr auch Adriano Sack oder Franziska Gänsler hat Daniela Krien ein Buch geschrieben, das der Trauer Raum gibt und das seiner Protagonistin beim Verarbeiten des Verlusts und dem Austesten verschiedener Pfade hin zu einem neuem Stück Lebensweg zusieht. Von Trauer und Schmerz durchsetzt ist der Winter ein starkes Bild, der im Roman nicht nur in Form eines nun anders gefeierten Weihnachtsfestes oder Schuberts Winterreise auftaucht, sondern auch immer wieder ganz konkret auf die Innenwelten Lindas bezogen wird.

Die Sehnsucht nach Sommer ist mir abhandengekommen. Mein innerer Winter lässt sich nicht mit der Leichtigkeit der hellen, warmen Tage in Einklang bringen.

Daniela Krien – Mein drittes Leben. S. 118 f.

Und doch bleibt es auch bei Linda nicht bei einem ewigen Winter. Symbolhaft ist der Garten, in dessen Bewirtschaftung sie einen neuen Lebenssinn findet und der mit seinem Vergehen und Werden auch nach dem scheinbaren Tod im Winter immer wieder die Kraft für einen Wiederbeginn im Frühling findet.

Fazit

Mein drittes Leben zeigt, wie schwer dieser Weg ist – aber dass es ihn gibt, wie verzweifelt und nachtschwarz das Leben auch in Phasen sein mag. Dass das Ganze über Kalendersprüche und banale Binsen hinausgeht, das ist der Verdienst von Daniela Krien, den sie mit diesem Buch leistet. Mit einer stimmigen Dreiklang aus Inhalt, Form und Sprache reiht sich das Buch ein in die Riege bereits genannter Seelenerkundungen, dessen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 durchaus gerechtfertigt ist.


  • Daniela Krien – Mein drittes Leben
  • Artikelnummer 175851 (Buechergilde)
  • 296 Seiten. Preis: 24,00 €
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Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit

Schicksale am Fuße des Dente del lupo. In ihrem mit dem diesjährigen Premio Strega ausgezeichneten Roman Die zerbrechliche Zeit erzählt Donatella di Pietrantonio von prägenden Erlebnissen auf einem Campingplatz in den Abruzzen, die in einer Mutter durch die Heimkehr ihrer Tochter wieder wachgerufen werden.


Dente del lupo, Wolfszahn, so wird der Berg in den Abruzzen geheißen, der in Donatello di Pietrantonios Buch alles überragt. Am Fuße dieses Berges liegt ein Grundstück, das der Vater seiner Tochter Lucia überschreiben will. Früher befand sich auf dem Grundstück ein Campingplatz, nun aber hat die Natur dort am Berg mit der Rückeroberung des Gebiets begonnen. Längst haben die Schäfer und ihre Herden dem Dente del lupo wieder einen Lebensraum abgetrotzt und beweiden Flächen dort oben. Eine Schärfe besitzt der Berg aber immer noch, wenngleich eher in psychologischer Hinsicht. Denn einst schlugen Ereignisse dort oben Wunden in Lucias Seele, die im Lauf des Romans wieder aufbrechen.

Denn nicht nur, dass ihr Vater ihr das fragliche Grundstück mit den Überresten des Campingplatzes vermachen will. Auch ihre Tochter Amanda ist auch Mailand heimgekehrt, kurz bevor die Corona-Pandemie das ganze öffentliche Leben zum Erliegen brachte.

Rückkehr zum Dente del lupo

Ich habe sie zu viel allein gelassen in der Großstadt. Bei ihrer Rückkehr war sie eine andere. Ich glaubte, sie sei von ihren neuen Freundschaften in Anspruch genommen, aber sie existierten nur in meiner Fantasie.

Nach ihrer Abreise füllte ich meine Tage mit Patienten, suchte in der Arbeit Betäubung. Daheim kam zu der kalten Hälfte des Ehebetts Amandas leeres Zimmer. Sie waren im Abstand von wenigen Monaten gegangen, Vater und Tochter. Mein Mann, unser Kind. Im November habe ich den Heizkörper abgestellt und die Tür des Zimmers, in dem sie aufgewachsen war, geschlossen. Habe mich dem Winter gestellt.

Sie muss frei sein, sagte ich mir, deshalb bestieg ich keinen Zug. Innerlich fühlte ich mich schwach, beschränkte mich auf die Alltagsdinge, mehr wagte ich nicht. Ich wollte nicht, dass sie sag, wie es mir ging. Ich habe die Angst gezähmt, die ich um sie hatte. Ein Ort, den sie sich so sehr gewünscht hatte, konnte ihr nichts Böses tun.

Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit, S. 65

Langsam versucht Lucia zu ergründen, was Amandas Heimkehr und ihre charakterliche Veränderung verursacht hat. Die Suche nach den auslösenden Momenten fördert dabei auch aus Lucias eigener Jugend Erinnerungen zutage und bringt Dinge zum Vorschein, die vor allem mit dem Campingplatz zu tun haben, auf dem Lucia einst ihre Sommer verbrachte.

Das Leben von Mutter und Tochter

Donatella di Pietrantonio - Die zerbrechliche Zeit (Cover)

In zwei Rückblenden verschränkt di Pietrantonio das gegenwärtige Leben von Mutter und Tochter mit dem Sommer vor vielen Jahren, als ein Vorfall im Dorf für Aufsehen sorgte und der Erinnerungen an Fälle männlicher Gewalt wachruft. Diese Gewalt, sie dauert an und setzt sich wie ein Kontinuum bis zum heutigen Tag fort – und das nicht nur in Italien, sondern auch in unserer Gesellschaft. Liest man Die zerbrechliche Zeit, werden Assoziationen geweckt, etwa jüngst an die grauenvollen Ereignisse, die zwei amerikanischen Touristinnen nahe Schloss Neuschwanstein widerfuhr.

Donatello di Pietrantonios Roman öffnet den Raum für derlei Themen und Gedanken. Es ist ein präziser Roman, in dem die schreibende Kinderzahnärztin Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpft und verknotet – und langsam wieder entspinnt. Das erfordert ein langsames und genaues Lesen, denn Die zerbrechliche Zeit ist gesättigt von Atmosphäre und Schwebungen, die zwischen den Charakteren und den Zeilen herrschen (übersetzt von Maja Pflug).

Die Sichtbarkeit des Unsichtbaren

„Es geht nicht nur um das, was du siehst“. Dieser Satz, den Lucias Vater bei der Begehung des familieneigenen Besitzes auf dem Berg äußert, er lässt sich auch auf Pietrantonios Roman übertragen. Denn die äußere Handlung in der Gegenwart ist alles andere als spektakulär, vielmehr geht es um das Innere, um Seelenlandschaften und die Gefahren, die sich Frauen heute wie einst ausgesetzt sehen.

Filigran und durchdacht werden die Themen von di Pietrantonio in einen genauen Erzählton gekleidet, was mich persönlich in einigen Passagen an das ebenfalls so verdichtete Erzählen Maja Haderlaps erinnerte. Mit Sinn für Verletzlichkeit, Präzision und einem Fokus auf den Auswirkungen von Gewalt erzählt Die zerbrechliche Zeit von einer Mutter und Tochter und arbeitet Erinnerungen und kontinuierliche Gewalt als Themen des Romans gekonnt auf.

Die Auszeichnung mit dem Premio Strega ist mehr als gerechtfertigt, vor allem in einer Zeit, in der Frauenrechte und Gleichberechtigung nicht nur in Italien sondern weltweit in Gefahr geraten und die Gesellschaft in alte, patriarchale Rollenmuster zurückzufallen droht. Hier braucht es Romane wie den von Donatella di Pietrantonio, um aufzurütteln, zu sensibilisieren und Diskussionen anzustoßen. Dass die Autorin dabei nicht nur mit der Relevanz ihres Themas sondern auch der literarischen Ausgestaltung überzeugt, macht Die zerbrechliche Zeit noch einmal wertvoller!


  • Donatella di Pietrantonio – Die zerbrechliche Zeit
  • Aus dem Italienischen von Maja Pflug
  • ISBN 978-3-95614-621-3 (Kunstmann)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Tana French – Feuerjagd

Goldrausch im Hinterland von Irland. Davon gehen zumindest ein paar Figuren in Tana Frenchs neuem Roman Feuerjagd aus. Ihr gelingt ein eindrucksvoll ruhiger und dabei stets nervös vibrierender Roman, der sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman balanciert.


Für ihren neuen Krimi wählt Tana French Figuren, die Leser*innen ihres vorhergenden Romans Der Sucher bekannt vorkommen durften. In jenem Roman erzählte sie die Geschichte des Polizisten Cal, der sich für seinen Ruhestand das kleine Dörfchen Ardnakelty im Westen Irlands aussuchte, wo er trotzdem nicht vor dem Unheil verschont blieb. Denn dieses klopfte in Form der jungen Trey an seine Haustür. Ihr Bruder war verschwunden, wovon die Dorfbevölkerung allerdings seltsam unberührt blieb. Allein seine Schwester Trey wollte die allgemeine Passivität nicht hinnehmen und setzt auf Cal als Retter in der Not, der im Lauf des Romans auch zu einer Art Vaterersatz für Trey wurde und mit Beharrlichkeit und Einfühlsvermögen das Rätsel um das Verschwinden des jungen Manns löste.

Tana French - Feuerjagd (Cover)

Nun, zwei Jahre später, steht Trey wieder vor Cals Haustür. Der Ersatzvater hat nämlich Konkurrenz bekommen. Aus dem Nichts taucht Johnny, der eigentliche Vater von Trey, auf dem heimischen Hof auf. Nach seiner Zeit in England ist er heimgekehrt und zeigt sich in puncto charakterlicher Festigkeit und Vertrauenswürdigkeit wenig geläutert. Mit im Gepäck hat er einen Engländer, dessen Vorfahren ebenfalls aus Ardnakelty zu stammen scheinen. Dieser erzählt von einer Goldader, von der schon seine Vorfahren Kenntnis hatten. Die Ader aus Gold soll das Land und den Fluss durchziehen dort in Ardnakelty durchziehen.

Während sich draußen der Landstrich unter der Sommersonne aufheizt, kommt es auch bald zu einem Wettlauf zwischen der Dorfbevölkerung und dem windigen Duo. Wer nimmt hier wen aus und wer spielt welches Spiel? Ist das wirklich möglich, ein Goldrausch wie einst am Klondyke nun im hügeligen Westen Irlands?

Inmitten der unübersichtlichen Gemengelage findet sich Cal, der feststellen muss, dass neben Dorfbewohner*innen und potentiellen Betrügern auch noch Trey ein eigenes Spiel spielt…

Spannungen im Ardnakelty

Wie schon in ihrem ersten Roman um Cal und Trey balanciert Tana French auch hier wieder traumwandlerisch sicher auf dem Grat zwischen Krimi und Roman. Lange Zeit braucht es, bis es zu einem Toten in ihrem Roman kommt. Spannend ist Feuerjagd aber auch ohne diese genretypische Zutat. Denn die irische Autorin schafft es wieder einmal mit psychologischem Feinsinn, die gefährliche Spannung zu schildern, die nach der Rückkehr von Treys Vater im Dorf Einzug hält.

Die meisten Bewohner*innen des Dorfs haben eine eigene Agenda und lassen sich nicht wirklich in die Karten blicken. Ob im Pub oder im Dorfladen – immer schwingt bei allen vordergründigen Aktionen immer noch eine zweite Ebene mit. Man belauert sich, traut sich nicht über den Weg – und in der Frage, wie das Zusammenleben dieser Menschen den Charakter des Dorfs formt, bekommt Frenchs Roman fast noch eine soziologische Komponente.

Sheila sieht sie an. „Das Dorf kennt keine Gnade“, sagt sie. „Sobald du dich mit denen anlegst, fressen sie dich bei lebendigem Leib. Du wärst verloren gewesen, so oder so.“

Tana French – Feuerjagd, S. 480

Psychologische Spielchen und Tricks

Die psychologischen Spielchen und Tricks, die vibrierende Spannung und dazu noch die gekonnt eingefangene Stimmung der glutheißen Tagen in den Bergen Irlands, das alles macht aus Feuerjagd einen packenden Krimi, der durch seine psychologische Stimmigkeit und die genaue Ausleuchtung der Figuren seinen Reiz entfaltet.

Wie schon im ersten Roman dieser Reihe, die hier im Entstehen begriffen ist, ist auch Feuerjagd wieder ein großartig inszenierter, ruhiger und doch untergründig aufgewühlter und aufwühlender Roman. Möchte man den vollkommenen Lesegenuss dieses Buchs erzielen, empfiehlt sich unter Umständen die vorhergende Lektüre von Der Sucher, nimmt das Buch an einigen Stellen doch Bezug auf die Geschehnisse dieses Bandes und verrät auch einige Details der vorangesetzten Handlung.

Doch auch ohne die Lektüre ist dieses von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sauber übersetzte Buch mehr als empfehlenswert, steht hier doch das langsame Erzählen mindestens ebenso im Vordergrund wie die Handlung, die mich wie schon im ersten Band rund um Cal und Trey sehr gefangen genommen hat.

Fazit

Wieder mal gelingt Tana French ein spannender Roman, der in die Kategorie Krimi des Jahres fällt und der auch Verächtern dieses ansonsten gerne einmal recht blutrünstigen Genres auf den Geschmack kommen lassen dürfte. Plausibel gestaltete Figuren, Verzicht auf Metzeleien und Krawall, dafür viel untergründige Spannung, Atmosphäre und sozialer Scharfblick, das kennzeichnet Feuerjagd.


  • Tana French – Feuerjagd
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-949465-10-9 (S. Fischer)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer

Wieder einmal erweist sich der Dumont-Verlag als Hort von wunderbar ausgewogener Unterhaltung zwischen Herz und Hirn, Emotionen und Handlung. Neu im Portfolio ist die Irin Roisin Maguire, die sich mit ihrem Roman Mitternachtsschwimmer auf das Passendste in das Oeuvre des Verlags einfügt. In ihrem Debüt nimmt sie die Leser*innen mit in ein kleines, pittoreskes Küstendorf an der irischen Küste – und lässt einen Mann Erlebtes verarbeiten und nebenbei auch noch Corona über die Welt hereinbrechen.


Mariana Leky, J. L. Carr, Caroline Wahl oder jüngst Ronan Hession (dessen Buch Leonard und Paul zwar strenggenommen nicht von Dumont, sondern vom Dumont-Mitarbeiter Torsten Woywod und seiner Partnerin Frauke Meurer verlegt wurde, nun aber auch in der Taschenbuchlizenz bei Woywods Arbeitgeber vorliegt). Immer wieder stellt der Verlag sein Talent in Sachen Unterhaltungsliteratur unter Beweis, die Kopf und Gefühl anspricht – und viele Leser*innen erreicht.

Doch nicht nur die Leserinnen und Leser überzeugt der Verlag mit dieser Art von Feelgood-Literatur – auch ist der Dumont-Verlag Dauergast bei der Wahl zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels. In dieser Wahl küren Buchhändler und Buchhändlerinnen ihre Lieblingsbücher des aktuellen Jahrgangs zu einer Liste, aus der dann der Siegertitel bestimmt wird. Sämtliche eingangs zitierte Autor*innen fanden sich auf der Nominierungsliste dieses Preises, einige gewannen ihn im Anschluss auch, wie beispielsweise Caroline Wahl im vergangenen Jahr.

Dieser Roman atmet Menschlichkeit

Roisin Maguire - Mitternachtsschwimmer (Cover)

Mit Mitternachtsschwimmer fügt Dumont dieser Riege an gelungener Unterhaltungsliteratur ein weiteres Werk hinzu. Es sollte dabei nicht verwundern, wenn auch Roisin Maguire mit ihrem Debüt in diesem Jahr den Sprung auf die Auswahlliste zum Lieblingsbuch des unabhängigen Buchhandels schafft. Denn ihr Roman punktet mit seiner Geschichte, den ebenso kantigen wie warmherzigen Figuren und der Menschlichkeit, die ihr Debüt auf allen Seiten atmet. In Zeiten von verhärteten Fronten, dogmatisch ausgefochtenen Streits und allgemeiner Dünnhäutigkeit der Menschen ist das eine Wohltat.

Die Geschichte ist des Romans ist schnell erzählt. Evan mietet sich nach einer längeren Phase der Entfremdung von seiner Frau in einem kleinen Cottage in Ballybrady ein. Das an der irischen Küste gelegene Dorf enthält dabei eigentlich alles, was man sich so unter einem irischen Dorf vorstellt. Einen Pub, eine Steilküste mit dem dagegen anbrandenden Ozean, grüne Wiesen und jede Menge skurriler Einwohner*innen. Besonders Grace sticht unter den Originalen hervor. Sie ist die Besitzerin des Cottages, das Evan gemietet hat.

Eigenbrötler, Mitternachtsschwimmer, Whiskeytrinker

Neben dem Quilten ist vor allem das Schwimmen im eiskalten Meer ihr Hobby. Eigenwillig und unabhängig ist sie oftmals Ziel der Pub-Lästereien, bei der Evan auch einer der Einwohner von Ballybrady seine Meinung zur eigenbrötlerischen Frau mitteilt:

„Ach. Sie meinen Grace. Sie heißt Grace Kielty. Wohnt allein, da um die Ecke hinter dem Haus, außerhalb vom Dorf. Mag keine Menschen, wie gesagt. Läuft mit den seltsamsten Klamotten rum, sieht aus wie eine Bettlerin, obwohl sie wohl kaum am Hungertuch nagt. Sucht Aufmerksamkeit, würde ich sagen“.

Sowohl Grace als auch Evan haben Verletzungen erlitten und öffnen sich langsam ihrem Gegenüber. Während der Trinkerchor im Pub alles mit Argusaugen beobachtet und mit whiskeyschwerer, aber doch spitzer Zunge kommentiert, helfen sich die beiden Figuren, lernen sich kennen und es entsteht Raum für Situationskomik, der von Roisin Maguire auf den Punkt geschildert wird. Ihre Figuren haben Ecken und Kanten, mögen Hoffnungen aufgegeben haben – ihre Mitmenschlichkeit haben sie aber allesamt nicht verloren.

Auch ist Corona, deren Ausbruch auch das Sozialleben im kleinen irischen Dorf limitiert, hier nicht erdrückend oder mit schwerer Bedeutung aufgeladen. Vielmehr integriert Maguire das Weltgeschehen hier elegant, konzentriert sich aber ganz auf das Seelenleben ihrer Held*innen und fängt nebenbei die Stimmung rund um Ballybrady vortrefflich ist. Roisin Maguires Buch lesen, ist wie einen gut gemachte englische (beziehungsweise natürlich eher irische) Dramödie im Kopf zu schauen.

Fazit

Mitternachtsschwimmer ist ein Buch, das das Herz mindestens so erwärmt wie ein Schluck Whiskey nach den Bädern im eiskalten irischen Meer, wie sie Grace und später auch Evan nehmen.

Roisin Maguire ist ein Buch gelungen, dem eine möglichst große Leserschaft zu wünschen ist. Das Leichte ist ja oftmals die schwerste Kunst. Die in Nordirland lebende Autorin beherrscht in ihrem Debüt diese Kunst schon ganz vorzüglich.

Mitternachtsschwimmer dürfte nicht nur als ein Lieblingsbuch des Buchhandels Erfolge feiern, sondern auch jede Menge Leserinnen und Leser für sich einnehmen. Angesichts der Aufmachung, dem herausgebenden Verlag, der sicheren Übersetzung durch Andrea O’Brien und dem überzeugenden Inhalt voller Komik, Empathie und raubeiniger Figuren hege ich daran aber keinerlei Zweifel!


  • Roisin Maguire – Mitternachtsschwimmer
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8321-6829-2 (Dumont)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Kristin Höller – Leute von Früher

„Alles Kulisse! Alles Fassade! Alles falsch und verlogen und ohne dich so leer.“ Das stellt Florian Paul und die Kapelle der letzten Hoffnung in seinem Chanson „Bella Maria“ ernüchtert fest. Darin beschäftigt sich der Sänger mit dem mit dem Abgleich von Italiensehnsucht und der Realität vor Ort, die noch einmal trister wird, wenn der richtige Partner an der Seite fehlt.

Von der Entzauberung solcher Paradiese, dem Geschehen hinter den Kulissen und dem Auffinden von Menschen, die vermeintlichen flachen Fassaden Tiefe geben, davon erzählt Kristin Höller in ihrem zweitem Roman Leute von früher.


Strand, so funktional ist die fiktive Nordseeinsel betitelt, auf der das Geschehen von Leute von früher fast ausschließlich spielt. Marlene ist hierhergekommen, im Gepäck nur wenig außer eines Geburtstagskuchen und der Hoffnung, nicht nur räumlich etwas Abstand zu ihrem bisherigen Leben und den erprobten Abläufen darin zu gewinnen.

Sie stand auf und trat dicht an die Fensterscheibe, Zweifachverglasung, frisch gekittet. Davor ein knospender Strauch, der die Fischräucherei gegenüber verdeckte. Der Schornstein raucht schon, vor der Tür stand ein Kreideschild mit den Spezialitäten des Tages. Rechts davon die Webstube und die Tischlerei, weit im Dorfinneren das Teehaus, das Marlene an ihrem ersten Arbeitstag gereinigt hatte. Hinter den Häusern erhob sich der Deich, ein müder, grüner Hügel.

Kristin Höller – Leute von früher, S. 40 f.

Maritimes Lagerleben

Als Saisonarbeitskraft ist sie Teil eines großen Schauspiels, das für die Besucherinnen und Besucher der Nordseeinsel aufgeführt wird. Innerhalb eines Radius tragen alle Arbeitskräfte Kostüme und wirken an einer Art historischen Re-Enactment mit, das auf Geheiß des lokalen Patrons Jahr für Jahr gegeben wird. Die Regeln des Spiels erinnern dabei fast an die Amish-Gemeinde. Keine Handys oder moderne Technik vor den Augen der Gäste, kein Ablegen des Kostüms innerhalb des Bannkreises, Begegnungen mit anderen Arbeitenden nur außerhalb des normalen Betriebs. Alles soll eine perfekte Fassade sein, Brüche sind hier nicht erwünscht.

Kristin Höller - Leute von früher (Cover)

Und so wird auch Marlene Teil des maritimen Lagerlebens, der dieser Job angesichts einer großen Orientierungslosigkeit in ihrem momentanen Leben gerade recht kommt. Gemeinsam richten die Inselbewohner*innen alles her, schrubben und stellen die Stühle auf, damit das Bild für die Gäste möglichst perfekt ist.

Gewandet in eine Kostüm aus dem Fundus der Ausstatterin fügt sie sich in das Bild ein. Mit der Funktionsbezeichnung Kramladen Verkauf/Bäuerin versehen, soll Marlene in einem Laden Fruchtgummis, Cookies und Sirup verkaufen. Dass das alles ebenso wenig authentisch wie die Bezeichnung selbstgemacht ist, ist dabei eigentlich nur zweitrangig. Es geht ja um die stimmige Simulation – oder in den Worten Florian Pauls und seiner Kapelle: Alles Kulisse! Alles Fassade!

Tiefe bekommt diese platte Kulisse erst durch das Auftauchen von Janne. Sie, die in der gegenüberliegenden Räucherei arbeitet, kennt Strand schon von Kindesbeinen an und ist jenes Teil des Bildes, das aus dem Ganzen herausragt. Immer mehr nähern sich Marlene und Janne an – und beginnen eine Romanze, die allerdings auch den wahren Charakter von Strand offenlegen wird.

Gestrandet auf Strand

Kristin Höller gelingt mit Leute von früher ein Roman, der wie ein Gegenentwurf zu Möwen- und Reetdachkitsch der Nordsee wirkt. Sie blickt hinter die Seele der Dinge, indem sie von der Sinnlosigkeit des Theaterzaubers für Touristen erzählt. Die ganze Leere, der hinter der Folklore des historischen Erlebnisdorfs aufscheint, wird bei ihr ebenso erfahrbar wie die neue Welt, die mit dem Auftauchen Jannes Einzug hält.

Mit großem Gespür für Sinnlichkeit und alle Formen von Texturen erzählt die 1996 geborene Autorin vom Annäherungsprozess von Janne und Marlene, von der Aufregung des Umeinanderwerbens und auch von den Brüchen, die schon zu Beginn einer solchen Romanze immer wieder auftreten.

Ganz oft wird hier Begehren und Aufmerksamkeit ins Essen übersetzt, ist Kulinarik die Sprache der Romantik und können die ganzen Nahrungsmittel dort im Norden, angefangen vom Seespargel bis hin zur geräucherten Makrele, noch so viel mehr als reine Speisen darstellen.

Höller verbindet diese Kulinarik Strands mit der queeren Romanze mit der maritimen Folklore bis hin zur Sage um Rungholt und dessen Auswirkungen, die auch heute noch Touristen und Einheimische umtreiben. So gelingt ihr ein Roman irgendwo zwischen norddeutschem Schauermärchen, Theaterzauber, Sinnlosigkeit und den Möglichkeiten, die aus der Begegnung der zwei Frauen dort erwachsen. Aus der Ferne grüßt Theodor Storm ebenso wie C Pam Zhang, ist die Klimakrise ebenso eingeschrieben wie die Lebens- und Erfahrungswelt der Millenials

Fazit

Mit ihrem zweiten Roman Leute von früher gelingt Kristin Höller eigenwilliges, hervorragend zu lesendes und vielstimmiges Buch voller Kulissen und Risse in den Fassaden, die auch schon das grandios gestaltete Cover vorwegnimmt.


  • Kristin Höller – Leute von früher
  • ISBN 978-3-518-47400-6 (Suhrkamp)
  • 316 Seiten. Preis: 22,00 €
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