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Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island

In dieser Familie ist wohl wirklich der Dibbuk drin. Taffy Brodesser Akner schildert nach Fleischmann steckt in Schwierigkeiten in ihrem zweiten auf Deutsch vorliegenden Roman Die Fletchers von Long Island das Unglück, das sämtliche Mitglieder der Familie Fletcher erfasst, nachdem das Familienoberhaupt entführt wurde. Ein jüdischer Familienroman in der Tradition des Great American Novel.


Seit der Entführung des Familienoberhaupts Carl Fletcher vor der Haustür seines Anwesens in Middle Rock, einem Vorort von Long Island, scheint irgendwie der Wurm in der Familie drin zu sein – oder besser gesagt der Dibbuk.

Nach der Überlieferung ist ein Dibbuk eine elende Seele, die nicht in den Himmel aufsteigen kann, um Ruhe zu finden, sondern auf der Erde wandelt und in den Körper eines anderen Menschen schlüpft, dessen Seele sie verdrängt, um ihre letzten Aufgaben zu verrichten. Wenn in der Fabrik ein Kessel ausfiel, sagte Zelig, es sei ein Dibbuk im Getriebe. Wenn mehrere Kabel in kurzem Abstand rissen, war ein Dibbuk im Getriebe.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 40 f.

Dabei scheint von derlei Ungemach zunächst noch jegliche Spur zu fehlen. Denn die Entführung des Patriarchen geht einigermaßen glimpflich aus. Zwar ist das Lösegeld verschwunden, dafür kehrt Carl Fletcher wieder in die Arme seiner Frau Ruth und der drei Kinder heim. Doch dass so ein Dibbuk auch seine Zeit braucht, bis er sich bemerkbar macht, das beobachtet Taffy Brodesser Akner im Folgenden dieses von Sophie Zeitz übersetzen Romans ausgiebig.

Ein Dibbuk im familiären Getriebe

Taffy Brodesser Akner - Die Fletchers von Long Island (Cover)

Denn nach dem vorangestellten Prolog mit der Entführung von Carl steigt Brodesser Akner mit einem Zeitsprung von gut vierzig Jahren in die erzählte Gegenwart ein. Carls Mutter Phyllis ist tot – und langsam beginnen die Fliehkräfte im Familiengefüge zu wirken, das eigentlich nur durch das Geld aus den Einnahmen der im Familienbesitz befindlichen Polystyrolfabrik zusammengehalten wird, das den Familienmitgliedern ein einigermaßen sorgenfreies Auskommen ermöglicht.

Doch die Sorgen nehmen zu. Denn Bernard, genannt Beamer, hat sich zum erfolglosen Drehbuchautor gemausert, der in seinen Werken stets das Thema der Entführung umkreist und nach einigen wenigen B-Movies mit immer weniger Erfolg nun im Stadium der völligen Antriebslosigkeit angelangt ist. Von Dominas lässt er sich malträtieren, balanciert aber auch haarscharf am Rande eines Nervenzusammenbruchs.

Seiner Schwester Jenny und seinem Bruder Nathan geht es da nicht unbedingt besser. Letzterer hat sich infolge der Entführung vollends zum Kontrollfreak und Versicherungsfetischisten gemausert, dem die Ruhe und Übersichtlichkeit seiner eigenen Existenz über alles geht. Und Jenny, die in Studienzeiten durch schiere Abwesenheit zur Revolutionärin wird und deren Schulaufsatz über das Schicksal eines Mastkalbs Ruth die passende Analogie zur Betrachtung ihrer Kinder liefert.

Plötzlich wurde Ruth klar, dass ihre Kinder wie dieses Kalb waren.

Sie waren ihr Leben lang gemästet worden, aber sie waren nie zu voll entwickelten Erwachsenen gereift. Sie hatten die Schwelle des Lebens erreicht, aber sie konnten nicht laufen. Und Ruth hasste sie dafür – sie hasste ihre Kinder auf eine Art, wie sie sie nur hassen konnte, weil sie sie liebte -, und jetzt erkannte sie, wie unausweichlich alles war. Nein, schlimmer: Sie erkannte, dass sie selbst die Urheberin ihrer Inkompetenz war.

Als Ruth im Wagen vor dem Brownstone saß, starrte sie ins Nichts.

Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island, S. 480

Ein jüdischer Familienroman

Die Fletchers von Long Island ist ein klassischer amerikanischer Familienroman, der im Fahrwasser von Jonathan Franzens Die Korrekturen, Paul Murrays Der Stich der Biene oder Ann Napolitanos Hallo, du Schöne schwimmt. Diese jüdisch-amerikanische Familie bestätigt zum wiederholten Male das klassische Tolstoi’sche Verdikt der Familie, die auf ihre eigene Art traurig ist.

Nacheinander beobachtet Bordesser Akner das Taumeln und Fallen ihrer Figuren, verbunden durch das mehrmals ans Kapitelende gesetzte, fragende Mantra: Was willst du machen? So sind die Reichen eben.

Besonders erkenntnisstark ist das freilich nicht und reicht kaum über eine Binse hinaus. Auch sind nicht alle Teile gleich gut geraten und sind qualitativ etwas unproportional. An manchen Stellen ruckelt es auch etwas vor sich hin – eben wie ein Dibbuk im Kessel. Dennoch folgt man dem Niedergang der Familie gerne und wohnt dem Wüten des Dibbuks bei, der hier recht unterhaltsam in der Familie Fletcher sein Unwesen treibt.


  • Taffy Brodesser Akner – Die Fletchers von Long Island
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sophie Zeitz
  • ISBN 978-3-8479-0211-9 (Eichborn)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €

Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Blumenbinderin, Ehefrau, Kranführerin, Mutter, Überlebende. In ihrem Roman Schwebende Lasten setzt die Autorin Annett Gröschner ihrer Heldin Hanna Krause ein literarisches Denkmal und erzählt berührend von einem Leben, in dem sich die Brüche und Systemwechsel der Nachkriegszeit ebenso ablesen lassen, wie das Buch auch Zeugnis von weiblicher Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit ablegt. Großartige Lektüre!


Es könnte schiefgehen, wenn ein Roman mit einem Epitaph beginnt, der eigentlich schon alles vorwegnimmt, was da auf den kommenden 280 Seiten auf die Leser*innen wartet.

Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 7

Was soll da noch kommen, wenn die ersten Zeilen gleich die ganze Geschichte verraten und den biographischen Rahmen abstecken, der die Leser*innen im Folgenden erwartet? Ein herausragendes Leseerlebnis, mit dem Annett Gröschner demonstriert, was lebendiges Erzählen ausmacht, das weit über einen biographischen Rahmen hinausweist. Denn sie verleiht der Lebenserzählung ihrer Heldin Hanna Krause Anschaulichkeit und Tiefe, wie man sie wirklich nicht alle Tage findet.

Das große Leben der Hanna Krause

Annett Gröschner - Schwebende Lasten (Cover)

So folgt sie chronologisch dem Leben Hanna Krauses, die kurz vor dem Kriegsbeginn des Großen Krieges, der später der Erste Weltkrieg heißen sollte, zur Welt kommt. Vaterlos wächst sie im „Knattergebirge“ genannten Armenviertel Magdeburgs im Schatten der Johanniskirche auf. Als Blumenbinderin unterstützt sie ihre Halbschwester Rose, lernt später ihren künftigen Mann Karl kennen und macht sich als Blumenbinderin mit eigenem Laden dort im Knattergebirge selbstständig. Blumig oder farbenreich ist in ihrem Leben allerdings höchstens die Auslage in ihrem Laden. Denn das Leben dort in Magdeburg bedeutet ärmliche Verhältnisse, bei denen immer wieder Hannas Geschick und Findigkeit vonnöten ist, wenn sich mal wieder die Geldsorgen häufen oder sich schon bald die ersten Kinder im Leben der jungen Frau einstellen.

Schwebende Lasten ist das beeindruckende Bild von weiblichem Anpassungswillen und Überlebenskraft, die Hanna an den Tag legt, um ihre Familie um Karl und ihre Kinder zusammenzuhalten. Schon beginnt der Zweite Weltkrieg, der die Armut der Familie noch einmal potenzieren wird. Verluste ihrer Kinder im Zuge der Luftschläge der Alliierte, das Ausgebombt-Werden mit ihren kleinen Kindern, das Hamstern und Überleben der vom Historiker Harald Jähner „Wolfszeit“ getauften Periode, die ständige Not, die Hanna aber nicht brechen kann, davon erzählt Annett Gröschner plausibel und greifbar.

En passant erzählt dieser Roman auch die großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Brüche des 19. Jahrhunderts mit, die immer wieder auf Hannas Leben durchschlagen.

Politische und gesellschaftliche Brüche

So fordert der Zweite Weltkrieg einen hohen Preis von ihr, ihre beständig wachsende Familie muss dramatische Verluste hinnehmen. Später wird sie im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat der DDR entgegen aller Widerstände zu einer Kranführerin, die mit ihrem Kran scheinbar schwebend die schweren Lasten passgenau durch die Maschinenhalle manövriert, obschon Misogynie und Ungleichbehandlung auch dort zum Alltag gehören, ehe sich Hanna auch hier ihren Platz erobert.

In der Nacht bevor Hanna das erste Mal auf den Kran stieg, schlief sie schlecht. Sie hatte Höhenangst, aber das konnte sie nicht zugeben. Sie wollte nicht mimosenhaft sein, auch wenn sie Mimosen mochte. Die Blumen ähnelten ihr, denn sie waren nur scheinbar empfindlich.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 165

Aus den Krupp-Werken wird die Maschinenfabrik Krupp-Gruson im Besitz der sowjetischen Maschinen-Aktiengesellschaft, politische Systeme ändern sich, die Menschen müssen sich anpassen – und mittendrin Hanna Krause, in deren Leben sich all die Veränderungen bis hin zum neuen Deutschland nach der Wende ablesen lassen.

Ein literarisches Kunststück, das zu Verständnis beiträgt

Mit ihrem Roman gelingt Annett Gröschner das Kunststück, dass sich ein fiktives und schicksalsschlagreiches Leben völlig glaubwürdig und schon fast universal anfühlt. Das, was man mit dem schwammigen Schlagwort der „Würdigung von Lebensleistung“ vor allem in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Ost- zu Westdeutschland immer wieder diskutiert, es erhält hier eine (zumindest von mir) selten gelesene Prägnanz und Anschaulichkeit.

Ihr gelingt es, mit Schwebende Lasten literarische Verständigungsarbeit zwischen Generationen und Landesteilen zu schaffen. Sie erzählt von Überleben und Mutterschaft, vom Kampf um Selbstbehauptung und Eroberung von Räumen, die Frauen viel zu lange nicht zugedacht waren. Gröschners Roman gelingt es, die immensen Veränderungen, die das Leben insbesondere in den ostdeutschen und mitteldeutschen Landesteilen bedeutete, vor Augen zu führen und glaubwürdige Porträts ihrer Figuren zu zeichnen, die von Staatsdoping in der DDR bis hin zur Kunst als Kraftquelle aus einer Fülle an Themen schöpft, ohne dabei die Geschichte mit übertriebenem Stilwillen oder literarischer Extravaganz zu überfrachten.

Das macht das Buch im besten Sinne massenkompatibel und setzt dem sachbuchlastigen, von Männern wie Dirk Oschmann bis Jakob Springfeld geprägten Diskurs ein literarisches Kunstwerk entgegen, das Kopf und Gefühl gleichsam anspricht.

Fazit

Diesem Buch sind ebenso viele Leser*innen wie Nominierungen und Besprechungen zu wünschen, schließlich gelingt der Autorin hier ein kleines, großes Kunstwerk, das in Zeiten erhitzter Ost-West-Debatten Bewusstsein für die Brüche und Leistungen jenseits der damals existenten Mauer schafft und nicht zuletzt exemplarisch ein Frauenleben schildert, wie es für das Funktionieren des Landes über alle Staatsformen hinweg unerlässlich war, und das doch noch immer viel zu oft übersehen wird. Insofern leistet Annett Gröschner mit ihrem Roman wichtige Arbeit und unterhält auf erhellende und begeisternde Weise. Dieses Buch ist keine Last, sondern die reine Freude!


  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten
  • ISBN 978-3-406-82973-4
  • 280 Seiten. Preis: 26,00

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Was bleibt von einem Namen, wenn man stirbt? Wenn das Zuhause aufgelöst und das Klingelschild abgelöst wird, das einst vom Namen kündete? Ricarda Messner lässt ihre Protagonistin in Wo der Name wohnt in einen Trauer-, aber vor allem einen Erinnerungsprozess eintreten, während sie die Wohnung ihrer Großmutter leert. Mögen die physischen Spuren auch schwinden, so werden sie doch durch das Erzählen konserviert. Nur die Bewahrung des Namens, er stellt sich als das wahre Hindernis heraus.


Welch bürokratischer Akt ein Namenswechsel sein kann, das erfährt der geneigte Leser in Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt eindrücklich. Denn die verschiedenen Kapitel ihres Buchs werden durchs bestes Amtsdeutsch eingeleitet, in dem erklärt wird, welche Notwendigkeiten für und welche Gründe gegen einen Namenswechsel sprechen. Immer wieder unterbrechen und strukturieren diese bürokratischen Einschübe die sonst so angenehm dahinfließende und mit fremdsprachigen Bruchstücken durchsetzte Sprache Messners und holen zurück auf den Boden juristischer Tatsachen.

Die Verwaltungsgebühr für die Änderung von Familiennamen beträgt gem. §3 Satz 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 07.01.1938 (Reichsgesetzblatt I S. 12/Bundesgesetzblatt III Nr. 401-1-1), in der jeweils aktuellen Fassung – NamÄndVo 2,56 bis 1022,00 €

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Bemühungen um die Bewahrung eines Namens

Der Grund für diesen behördlichen Schriftverkehr begründet Messners Erzählerin schon auf den ersten Seiten dieses schmalen Romans. Denn die namenlose Erzählerin ist darum bemüht, den Namen ihrer verstorbenen Großmutter anzunehmen, um so die Erinnerungen an das familiäre Erbe wachzuhalten und zu bewahren.

Und irgendwo zwischen den beiden Häusern, ich zählte während der Wohnungsauflösung zum ersten Mal die Schritte, überkam mich eine Sehnsucht. Ich wollte den Nachnamen wieder tragen, sehnte mich nach ihm wie nach Großmutters Gesicht, das ich nicht mehr sehen würde. Es waren ungefähr vierzig Schritte von Tür zu Tür.

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt, S. 14

Einst lebte sie in der Wohnung des Hauses Nummer 37, ihre Großmutter quasi nebenan im Haus, das die Nummer 35 trägt.

Nun blickt die Erzählerin zurück. Auf das Ausräumen der Wohnung, die eigene Geschichte und die Risse, die sich nicht nur in Großmutters Wohnung, sondern auch der familiären Biografie zeigen. Denn die Familie Levitanus ist nicht das, was man im rechten Dumpfdeutsch aktuell als „biodeutsch“ bezeichnet. Vielmehr ist sie Teil der fünfundzwanzig Millionen Menschen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund besitzen. Und dieser im Falle der Erzählerin ein durchaus illustrer.

Migration nach Deutschland

Ricarda Messner - Wo der Name wohnt (Cover)

So reisten die Mutter und Großmutter 1971 aus Lettland als Staatenlose nach Deutschland ein und begannen hier ein neues Leben. Schon mehrfach zählten Neuanfang und Anpassung zu den erforderlichen Fähigkeiten, die die Familie Levitanus beweisen musste.

Beim sogenannten Rigaer Blutsonntag überlebte die Großmutter das Rigaer Ghetto, in dem lettische Jüdinnen und Juden getötet wurden, um Platz für deutsche Jüdinnen und Juden zu schaffen. Auch ihr Großvater floh 1941 vor den herannahenden Deutschen, ganze 4200 Kilometer maß seine Fluchtroute. Später studierte er in Moskau, die Großmutter musste als Staatlose 1971 mit ihrer Tochter aus Lettland in der damaligen Sowjetunion fliehen.

Sprachfetzen, Gerichte, Rituale sind es, die über das Lebensende der Großmutter mit 95 Jahren hinaus blieben und die die Erzählerin in ihrem Erinnern bewahrt. Eine besonders große Rolle für sie nimmt der Familienname ihrer Großmutter ein. Er ist es, der als abstrakter und doch konkreter Besitz die Flucht überstand und nun zum Orientierungspunkt der Erzählerin wird. Ihn möchte sie mit ihrer Namensänderung bewahren und so die Erinnerungen an die familiäre Identität wachhalten.

Es sind die Erinnerungen, plötzlich aufblitzenden Gedanken und die in der Familie gesprochenen Sprachen und Wortfetzen, die sie in ihren Erinnerungen wachruft und damit auch noch einmal tief in die eigene Familiengeschichte zwischen Baltikum und Deutschland, Flucht und Neuanfang, Judentum und familiären Erbe vordringt. Doch in Reiner Geistesarbeit verharrt dieses Erinnern nicht. Auch physisch leistet die Erzählerin diese Arbeit. So sondert sie nicht nur den großmütterlichen Besitz aus, der eng mit den Erinnerungen verknüpft ist, auch begibt sie sich auf familiäre Spurensuche, die sie bis nach Lettland und damit auch gewissermaßen wieder an den Anfang ihrer Geschichte zurückführt.

Fazit

Wo der Name wohnt ist ein reduzierter Familienroman, der vom Ende und den Erinnerungen her den familiären Bezug denkt und der den Rissen in den Biografien nachspürt. In Zeiten, in denen Migration verteufelt und Einwanderung zur Mutter aller Probleme erklärt wird, zeigt Richarda Messner, was Migration und Ankommen eigentlich bedeutet. Dass man das 20. Jahrhundert und seine Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein gar nicht ohne migrationsbedingte Brüche denken kann, das lässt sich aus Wo der Name wohnt eindrücklich erfahren.

Der Mitbegründerin und Herausgeberin des Flaneur-Stadtmagazins gelingt mit ihrem Roman ein ruhiger und knapper Roman, der das in der Gegenwartsliteratur kaum behandelte Schicksal lettischer Juden in den Blick nimmt. Ihr Debüt passt sich auch gut in die Riege junger Suhrkamp-Autor*innen ein, die mit ähnlichem sprachlichen Zugriff den Beziehungen zu Eltern und Großeltern oder dem jüdischem Familienerbe nachspüren.

Weitere Meinungen zu Ricarda Messners Buch gibt es unter anderem auf dem Blog Poesierausch.


  • Ricarda Messner – Wo der Name wohnt
  • ISBN 978-3-518-43232-7 (Suhrkamp)
  • 170 Seiten. Preis: 23,00 €

Annegret Liepold – Unter Grund

Braun ist hier nicht nur der Grund der Weiher, in dem die Karpfen in Annegret Liepolds Roman Unter Grund gründeln. Der Autorin gelingt mit ihrem Debüt ein Roman, der vom verdeckten und offenen Rechtsradikalismus auf dem Land erzählt, und der erzählerisch das liefert, was der Titel schon verheißt. Eine Tiefenbohrung in Sachen Familie, Jugend und den Verstrickungen in rechtes Gedankengut.


Himmelsweiher, so werden die Teiche im Fränkischen genannt, die für Franka ein Stück Heimat sind. Tausende dieser für Fischzucht genutzten Teiche liegen in der Region Aischgrund in Mittelfranken zwischen Erlangen und Würzburg. Ihren Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie an keine fließenden Gewässer angeschlossen sind, sondern nur durch Regenwasser befüllt werden.

Die Kontrolle der familieneigenen Teiche war einst Sache ihre Vaters, die er zusammen mit der jungen Franka an seiner Seite durchführte. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Der Vater ist tot, sie selbst inzwischen eine Referendarin in München, weit weg von den Himmelsweihern. Als sie nun Hals über Kopf zurückkehrt nach Franken, muss sie feststellen, dass sich vieles verändert hat. Die Teiche sind verkauft und auch das Haus ihrer „Fuchsin“ geheißenen Großmutter, der Fuchsbau, steht zum Verkauf. Für Franka, die nach ihrer überstürzten Flucht aus München sowieso schon höchst erregt ist, sind es Hiobsbotschaften, die dazu angetan sind, die Idylle ihrer Jugendjahre dort in der fränkischen Provinz endgültig zu zerstören.

Eine Flucht aus München in den Aischgrund

Dazu kommt es dann auch in diesem ebenso souverän erzählten wie geschickt montierten Roman, was allerdings weniger mit dem Abschied von familiären Besitztümern zu tun hat. Vielmehr sind es die Erinnerungen, die durch den Besuch des in München stattfindenden NSU-Prozess ausgelöst werden, den Franka mit ihrer Schulklasse besucht. Ein Wort dort lässt Franka nicht nur zurück aus München fliehen, sondern sie vor allem tief in die eigenen Erinnerungen eintauchen. Tiefer noch, als es jeder Himmelsweiher sein könnte.

„Hey“, sagt Hannah, „was ist denn los? Warum bist du weggerannt?“

Hannah wartet, aber Franka weiß nicht, was sie sagen soll.

Was sie weiß, ist: Sie hätte nie zum Prozess gehen dürfen.

„Jaros hat Zschäpe eine Nazischlampe genannt“, sagt sie stattdessen.

Hannah sieht sie verständnislos an. Franka sucht nach weiteren Worten, aber es fehlt ihr an allen. Jede Erklärung würde eine neue Erklärung verlangen. Wo soll sie anfangen, hier und jetzt an diesem zugigen U-Bahngleis, wo alle Fäden lose sind, und egal, an welchem sie zöge, immer nur ein weiterer einzelner Satz hervorkäme, der noch mehr Unverständnis bei Hannah hervorriefe.

„Und das findest du unangemessen?“

Franka schüttelt den Kopf. Wie sollte sie erklären, dass es nicht um Jaros oder Zschäpe geht. Am besten wäre, sie würde sagen: Lass uns Leben tauschen, ich nehme deine Vergangenheit und du meine. Nur dann könnte Hannah verstehen, was los ist.

Annegret Liepold – Unter Grund, S. 7f.

Unter Grund tut im Folgenden genau das, was Franka hier noch hypothetisch beschreibt. Annegret Liepold zieht an den Erinnerungsfäden und entwirrt diese Stück für Stück. Tieft taucht sie dabei in die Vergangenheit von Franka ein, die bis in die Gegenwart fortwirkt, wie das Wort der „Nazischlampe“ deutlich zeigt. Denn einst geriet die junge Frau in Kontakt mit rechtsradikalen Kreisen dort auf dem Land, wo sich die unter den schulterzuckenden bis goutierenden Blicken der restlichen Dorfbevölkerung die NPD zu Stammtischen im Dorfwirt traf.

Erstarkender Nationalismus – und erstarkender Rechtsradikalismus

Annegret Liepold - Unter Grund (Cover)

Ähnlich wie bei Luca Kiesers Roman Pink Elephant ist es auch hier der WM-Sommer 2006, der den erzählerischen Hintergrund der Rückblenden bildet. Als plötzlich Deutschlandfahnen in Autoscheiben klemmten, Nationalfarben auf Rückspiegeln und in Gesichtern prangten und die Welt zu Gast bei Freunden sein sollte – da rollte sie durch Deutschland, eine neue Welle des Patriotismus.

Vielfach wurden erregte Diskurse geführt, wie dieser neue Nationalstolz einzuordnen sein. Ob man das einfach dürfe, stolz auf sein Land zu zeigen. Ob nach all der Zeit nicht gut sei, mit dem verdrucksten und verschämten Patriotismus und ob man das nicht zeigen dürfe. Eine gehisste Deutschlandfahne mache einen nicht gleich zu einem Nazi, so der Tenor vieler Debatten. Eine durchaus richtige Feststellung, auf die Annegret Liepold allerdings gar nicht zielt. Vielmehr blickt sie auf die Phänomene, die im Windschatten der Schland-Euphorie jenes Sommers wieder offen zutage traten.

Denn das Sommermärchen geheißene Event führte nicht nur zu einem Erstarken des Nationalismus – auch dem Rechtsextremismus und seinem völkischen Denken kam die nun wieder stolz gezeigte Zuneigung zum eigenen Land zupass. Sinnbildlich für das Spannungsfeld der damaligen Debatten steht Frankas linker Positionen zuneigende Jugendfreund Leon. Dieser wendet sich angesichts von Schlagzeilen wie „Ihr Deutschen seid schwarz-rot-geil“ und dem allgegenwärtigen Fahnenwahnsinn mit Grausen ab, während Franka kurz nach dem Abiball die Bekanntschaft mit Patrick macht.

Dieser ist ganz anders als Leon, der mit seinen Ansichten dort auf dem Land in der Minderheit ist. Patrick nimmt sie mit auf eine Tagung der NPD ins Wirtshaus und bringt sie in Kontakt mit Janna, die Franka von Beginn an fasziniert. Lagefeuerabende und Hauspartys folgen, bei denen sich die Gäste als textsicher erweisen, was Lieder von den Böhsen Onkelz bis zum Horst Wessels-Lied anbelangt. Zum Unverständnis von Leon versinkt Franka binnen kurzem immer tiefer in diesem braunen Sumpf- mit fatalen Folgen.

Das Abgleiten in den braunen Sumpf

Das schnelle Abgleiten in die rechtsextreme Szene und die Verankerung von deren Gedankengut auf dem Land zeichnet Liepold ebenso nach, wie sie auch familiäre Verstrickungen in die Nazizeit aufarbeitet. Zusammengesetzt aus Frankas gegenwärtigem Aufenthalt dort im Dorf und den Geschehnissen im Sommer 2006 fügt sich ein Bild zusammen, das vom Fortwirken des Nationalsozialismus erzählt.

Wenn Liepold nur mit kurzen Szenen die heute immer noch geführten Debatten um Schlussstriche, Reparationen, notwendigem Landesstolz und die Umbenennung von Straßen antippt, dann zeigt sich ein zutiefst beunruhigendes Bild von rechtem Denken, dass immer noch im Untergrund lauert und von dem man sich besonders auch Franken nicht wirklich frei machen konnte. Sinnbildlich hier der im Roman geschilderte Ausflug der Clique nach Gräfenberg, in dem noch 2008 ganze 18 Demonstrationen von Neonazis innerhalb eines Jahres stattfanden.

Überhaupt, der Untergrund, er gibt dem Buch nicht nur den Titel, sondern ist auch ein hervorragend eingebundenes Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht. Vom Beginn, in dem Franka getriggert vom Begriff der „Nazischlampe“ unter der Erde am U-Bahnhof sitzt, über die Teiche, in deren braunen Morast die Karpfen gründeln, bis hin zum gesellschaftlichen Erbe der Zeit des „Dritten Reichs“, das unter der Oberfläche brodelt. Mal verharrt es subkutan, mal tritt es offen zutage, etwa auch in der Namenswahl der Neonazis, so auch beim eingangs erwähnten Prozess um Beate Zschäpe, die sich ja als Teil des rechtsradikalen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ versteht.

Fazit

Unter Grund ist ein eminent politischer Roman, der der Verankerung des Rechtsradikalismus in Gesellschaft, auf dem Land und in Familien nachspürt und der Franka tief in den eigenen Erinnerungen versinken lässt. Und auch wenn die AFD zum damaligen Zeitpunkt noch kein Thema war, hat dieser Roman doch ein Gespür für Kontinuitäten und Entwicklungen, in deren Lichte das heutige Erstarken der extrem Rechten konsequent erscheint.

Dass der Roman dabei ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, literarisch hervorragend gearbeitet ist, Rückblenden und erzählte Gegenwart klug miteinander verschränkt und erst langsam die ganzen Facetten seiner Figuren und der Geschehnisse freischält, wobei das Buch stets wohltuend vielschichtig und genau beobachtend vorgeht, das steigert die Qualitäten von Unter Grund gleich noch mehr. Es lohnt sich, dieses Buch ebenso aufgrund seiner Literarizität als auch seiner politischen Botschaften zu lesen.

Man wünscht Annegret Liepolds Debüt in diesen oftmals so geschichtsvergessenen Zeiten viele LeserInnen. Besonders als Schullektüre könnte sich die Betrachtung des Buchs lohnen, ist Liepolds Debüt doch eng an seinen jugendlichen Figuren dran und weist eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz auf, die viele (schulischen) Diskussionen und eine breite Rezeption verdient – und das weit über Franken hinaus.


  • Annegret Liepold – Unter Grund
  • ISBN 978-3-89667-766-2 (Blessing)
  • 255 Seiten. Preis: 24,00 €