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Mariette Navarro – Am Grund des Himmels

Endstation Dach. In Mariette Navarros Roman Am Grund des Himmels strandet eine Arbeiterin auf dem Dach ihres Bürogebäudes. Drinnen vermisst sie niemand – aber vermisst sie überhaupt etwas? Einmal mehr schreibt die Französin einen surrealen Roman, der die Arbeitswelt und unser Miteinander in den Blick nimmt – und der doch recht deutlich an den großen Klassiker einer Österreicherin erinnert….


Aus dem Nichts gelang Mariette Navarro und dem herausgebenden Münchner Kunstmann-Verlag im letzten Jahr ein großer Überraschungserfolg mit ihrem Roman Über die See, der von einer ganz besonderen Überfahrt eines Schiffs erzählte. Denn nachdem die Schiffscrew die Kapitänin auf deren Schiff zurückgelassen hat, um eine Schwimmrunde im Ozean einzulegen, kehrt die Besatzung zurück an Bord – hat aber plötzlich ein Mitglied mehr in ihren Reihen. Nicht der einzige surreale Moment der Erzählung, die durch ihre Rätselhaftigkeit viele Leser*innen für sich einnehmen konnte und auch in den sozialen Medien vielfach besprochen wurde.

Mit Am Grund des Himmels liegt nun der zweite Roman der 1980 geborenen Autorin vor, der abermals von Sophie Beese aus dem Französischen übersetzt wurde. Diesmal wendet sich Mariette Navarro der Lebenswelt Büro zu und erzählt schwebend von modernen Arbeitsbedingung und der Vereinzelung am Arbeitsplatz, in der das Individuum trotz seiner Einbindung in komplexe Jobhierarchien und Teamstrukturen so alleine ist wie wohl noch nie zuvor.

Eine Frau auf dem Bürodach

Mariette Navarro - Am Grund des Himmels (Cover)

Ausgangspunkt ist wieder eine dieser ungewöhnlichen Navarro-Ideen. Nach dem Schiff mit seinen ganz eigenen Regeln ist es nun eine Büroangestellte, die der Versuchung einer offenen Dachklappe im Bürogebäude nicht widerstehen konnte. Sie hat sich auf das Dach begeben, doch nun lässt sich die vormals offene Klappe nicht mehr schließen. Und so betrachtet Navarros Heldin Claire das Leben von ganz oben, blickt auf die über sie hinwegziehenden Wolken und Vogelschwärme und bastelt sich aus den übriggebliebenen Folien auf dem Dach eine schützende Hülle, um die Nacht dort oben auf dem Dach zu verbringen, da sie im Gebäude selbst niemand vermisst.

Sie wird sich ihrer eigenen Absonderung und Vereinzelung bewusst, während die Gedanken um sie kreisen wie die Vögel, die den Himmel über ihr Durchpflügen. Der Alltag im Büro, ihre schrittweise Entkapselung von ihrem Tun dort und die unsichtbaren Barrieren sind Thema in ihren Gedanken, die Mariette Navarro auf uns einprasseln lässt.

Eine Frau in Isolation

Dabei weckt die Erzählung über die von allen geschiedene Frau durchaus Erinnerungen an Marlene Haushofers großen Klassiker Die Wand, bei der sich eine Frau ähnlich abgekoppelt von der übrigen Welt wiederfindet. Und auch in Navarros Text ist die unsichtbare Wand ein Thema.

Es stimmt nicht ganz, dass die Mauern, gegen die ich stieß, unsichtbar waren. Manchmal konnte ich sehen, wie sich eine Glasscheibe bildete: Trüb wie eine dünne Eisschicht, kroch sie in mein Sichtfeld und breitete sich dann als einfarbige Fläche vor meinem Gesicht aus. Ich dachte in dem Moment nur, meine Augen wären müde. Oft holte ich dann meine Brille aus der Tasche und putzte sie schnell, aber das änderte nichts. Irgendetwas stimmte nicht. Dann erst wurde mir klar, dass da eine Glasscheibe war, ich prüfte ihre Dicke – ungefähr ein Zentimeter –, ein Rechteck auf Augenhöhe, in dem ich mein Spiegelbild sah, offener Mund, konzentrierter Blick. Ich versuchte mit aller Kraft diese halb transparente Schicht zu durchblicken. Durch das Glas hindurch starrte ich auf den, der weiterredete, lachte und so tat, als hätte er diesen verletzenden Satz gerade eben nicht gesagt, diese noch nicht einmal bewusst geäußerte verächtliche Bemerkung, und ich ließ ihn mir von oben herab Dinge erklären, die ich schon wusste.

Mariette Navarro – Am Grund des Himmels, S. 44

Diese Gedanken und Bewusstseinsströme kontrastiert Mariette Navarro mit einer zweiten Erzählinstanz, einem chorischen Wir bei dem es sich um ein Kollektiv von Claires Kolleg*innen handelt, das im Gegensatz zu Claire in der Büroarbeit seine Sinnerfüllung findet und das damit die Dichotomie von Claire als isolierte Einzelkämpferin und dem arbeitsamen Wir bildet. Immer wieder wechselt Navarro im Lauf des Texts zwischen diesen beiden Instanzen hin und her und verstärkt so den Eindruck des unverstandenen Gegeneinanders.

Viele mögliche Lesarten

Am Grund des Himmels ist trotz dieser nun konkret nacherzählten Motive und Spurenlagen sehr deutungsoffen. Worum geht es in Mariette Navarros Roman?

Reflexion über die Benachteiligung von Frauen in der Arbeitswelt? Betrachtungen der sozialen Dynamiken und Ausgrenzungen in Bürogemeinschaften? Hinterfragung der Sinnhaftigkeit moderner Erwerbsarbeit oder eine Bebilderung der These des Soziologen Andreas Reckwitz‘ von der Gesellschaft der Singularitäten? Am Grunde des Himmels ist sehr offen, was eine eigene Deutung und Einordnung des Gelesenen anbelangt.

Und auch ich schwanke in der Bewertung des Gelesenen. Kennt man das Ganze nicht schon von Marlene Haushofer und sie die Erkenntnisse in Sachen Sinnlosigkeit modern Bullshitjobs in Büros nicht etwas auserzählt, ohne an dieser Stelle auch noch auf Melvilles Bartleby den Schreiber als Kronzeugen zitieren zu wollen?

Auf der anderen Seite steht natürlich auch die Surrealität des Ganzen, die Mariette Navarro gelungen einfängt und mithilfe des Bewusstseinsstroms und ihrem chorischen Wir ein schon fast universales Bild der Vereinzelung im immer vernetzter werdenden (Arbeits)Alltag zeichnet.

So oder so: Am Grund des Himmels lädt auf alle Fälle dazu ein, sich selbst Gedanken über das Gelesene zu machen und sich von Mariette Navarro zu Assoziationen und Gedanken über das Arbeiten und die eigene Rolle in der Gemeinschaft hinreißen zu lassen.


  • Mariette Navarro – Am Grund des Himmels
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-649-7 (Kunstmann)
  • 160 Seiten. Preis: 22,00 €

Henning Sußebach – Anna oder: Was von einem Leben bleibt

Ja was ist es, das von einem Leben bleibt? Spuren, Fotos, Vermächtnisse geben Hinterbliebenen eine Ahnung davon, wer der Mensch war, der da gegangen ist. Was aber, wenn der Tod einer Person schon fast hundert Jahre zurückliegt, niemand mehr lebt, der der Toten je begegnet ist und sich so gut wie nichts erhalten hat, das einen Eindruck von der Person geben könnte, die einst gelebt hat?

In seinem Buch Anna oder: was von einem Leben bleibt macht sich Henning Sußebach daran, das Leben seiner 1932 verstorbenen Urgroßmutter zu rekonstruieren, um sie so auch stellvertretend für andere Menschen dieser Generation wenigstens ein Stück weit dem Vergessen zu entreißen. Was er dabei zutage fördert, ist die Biografie einer resilienten Frau, deren Leben von jenem Fortschritt kündet, der die Gesellschaft erst deutlich später erreichen sollte.


Kein Tagebuch, nur ein paar Notizbücher, Fotos, Briefe, Kaffeeservice, Verlobungsring und ein paar weitere Hinterlassenschaften, mehr hat sich nicht erhalten an Spuren von Anna, der Urgroßmutter des Journalisten Henning Sußebachs. Ausgehend von diesen kümmerlichen Spuren begibt er sich auf die Mission, wenigstens in Ansätzen ihr Leben und die Lebenswelt zu rekonstruieren, in der sich diese Frau bewegt hat. Dies tut er immer auch mit dem Blick von heute, der um die Probleme und eigenen Unzulänglichkeiten der Interpretation vergangener Zeiten und vergangener Leben weiß.

Anna lebte in heute schwer fassbaren, unübersichtlichen Zeiten, womöglich zu wirr und widersprüchlich für ein klares Bild, das die Jahre überdauert. Sie war Bürgerin von vier Staaten. Königreich Preußen, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik. Sie durchlebte Währungsreformen, Börsencrashs und Inflation. Sie war Zeugin, als ein großer Krieg den Kontinent verheerte, als Monarchien stürzten und eine junge Demokratie um ihre Existenz kämpfte. Sie erlebte mit, wie die Industrialisierung einigen Wohlstand brachte und andere ins Elend rutschen ließ. Sie las von Männern, die sich in wackligen Fluggeräten an die Eroberung des Himmels machten. Sie sah die ersten Autos fahren. Sie hörte, wie plötzlich Stimmen von Radiowellen übertragen wurden.
Anna war dabei, als die Welt sich weitete, die Räume für eine Frau wie sie aber eng blieben.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 8 f.

Auf den Spuren der eigenen Urgroßmutter

Henning Sußebach - Anna oder: was von einem Leben bleibt (Cover)

Anhand einiger Fotos und den biografischen Spuren fühlt sich Sußebach in das Leben seiner Urgroßmutter ein, das nicht nur von zeitlichen Umbrüchen gekennzeichnet war, sondern in dem sie auch selbst den Zerfall von sicher Geglaubtem erfuhr.

So arbeitete sie in jungen Jahren als Lehrerin im tiefsten Sauerland und trat mit 20 Jahren diesen Dienst im Dörfchen Cobbenrode an, in dem sie als alleinstehende Frau die stete Verfügung durch die Männer des Dorfs erfahren haben muss. Aber durch Heirat und stete Arbeit brachte es die 1867 geborene Frau zur angesehenen Besitzerin des wenige Jahre zuvor errichteten Postamtes, dessen Betreiberin sie wurde. Während in den Ländern Europas langsam eine Frauenbewegung erstarkte und Rechte für sich einforderte, war davon in Cobbenrode noch wenig zu merken.

Und doch setzt sich Anna gegen viele Widerstände durch, die es privat wie auch gesellschaftlich zu dieser Zeit zu überwinden gab – und die auch heute noch nicht ganz verschwunden sind. Eine Ehe, die nur nach 90 Tagen ihr tragisches Ende fand, danach eine unkonventionelle Partnerwahl, auch der Aufstieg zur selbstständigen Unternehmerin, die als Postbevollmächtige die Poststation des Dorfs betrieb – mit all dem zeigte sich Anna als widerstandsfähig und selbstermächtigend, was ihr Leben auch über hundert Jahre nach ihrem Tod so interessant und geradezu zu einem Vorbild macht, was die unbeirrte Verfolgung des eigenen Lebensweges anbelangt.

Fortschritt und Widerstandskraft

Aufstieg und private Schicksalsschläge vermengen sich im Leben Annas, die doch nie aufgibt und sich von Widerständen nicht aufhalten lässt, wie Henning Sußebach in seinem Buch zeigt.

Auch der Zeitkontext spielt eine wichtige Rolle. So bettet der für die Wochenzeitung Die Zeit tätige Journalist das Leben und die wichtigen Schritte in Annas Leben immer wieder in das jeweilige historische Zeitgeschehen ein. Er blickt auf die parallel zum Leben Annas stattfindenden Entwicklungen weltweit, die auch einen Fortschrittsgeist atmen, bei der wie in der übrigen Geschichtsschreibung für Frauen aber nicht viel Platz ist.

1878 – weit außerhalb von Annas Radius bedeutet das:
In Berlin werden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. (…)
In New Jersey an der Ostküste der Vereinigten Staaten arbeitet der Erfinder Thomas Alva Edison an Glühbirnen für elektrisches Licht. In Paris stellt ein Bildhauer den Kopf einer Freiheitsstatue vor, die Frankreich dem Verbündeten jenseits des Atlantiks schenken will.
Ein Baron bricht auf, um als erster Seefahrer das Polarmeer nördlich des russischen Kaiserreichs zu durchfahren, die Nordostpassage.
Im Osmanischen Reich beginnt der Archäologe Carl Humann mit Ausgrabungen auf dem Burgberg der antiken Stadt Pergamon.
Männer, Männer, Männer.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 31 f.

Ergänzt um Dokumente wie die damals geltende Schulordnung in Cobbenrode oder Auszüge aus Schulbüchern entsteht ein dichter, reflektierter Text, der den Geist jener Zeit gut vermittelt. Auch bricht der Text die Männerzentrierung der Geschichtsschreibung auf und zeigt mit dem exemplarischen Blick auf das vergessene Leben von Anna, wie viel Tiefe, Kraft und Fortschrittsgeist auch an Orten und in Leben von heute vergessenen Personen zu finden ist, die die Geschichtsschreibung sonst eher übersieht und wo man es kaum erwartet. Zudem entdeckt Sußebach seine Urgroßmutter als Quelle dessen, was heute unter dem Wort der „Resilienz“ firmiert.

Fazit

Anna oder: was von einem Leben bleibt setzt dem Leben Annas ein Denkmal und zeigt, was wir durch das Vergessen und Nicht-mehr-Erinnern an Personen der Geschichte drei oder vier Generationen vor uns eigentlich verlieren. Sein liebevoller und bedachter Blick auf die eigene Urgroßmutter entreißt diese wirklich dem Vergessen und zeigt sie als widerstandskräftige, bereits damals emanzipierte und unkonventionelle Frau

Nicht zuletzt ist Sußebachs Buch auch eine Einladung zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte und zum Blick auf die Leistungen und Leben der eigenen Vorfahren. Dass sich diese Beschäftigung lohnen kann, das unterstreicht Anna oder: was von einem Leben bleibt auf eindrucksvolle Art und Weise!


  • Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt
  • ISBN 978-3-406-83626-8 (C. H. Beck)
  • 205 Seiten. Preis: 23,00 €

Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Blumenbinderin, Ehefrau, Kranführerin, Mutter, Überlebende. In ihrem Roman Schwebende Lasten setzt die Autorin Annett Gröschner ihrer Heldin Hanna Krause ein literarisches Denkmal und erzählt berührend von einem Leben, in dem sich die Brüche und Systemwechsel der Nachkriegszeit ebenso ablesen lassen, wie das Buch auch Zeugnis von weiblicher Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit ablegt. Großartige Lektüre!


Es könnte schiefgehen, wenn ein Roman mit einem Epitaph beginnt, der eigentlich schon alles vorwegnimmt, was da auf den kommenden 280 Seiten auf die Leser*innen wartet.

Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 7

Was soll da noch kommen, wenn die ersten Zeilen gleich die ganze Geschichte verraten und den biographischen Rahmen abstecken, der die Leser*innen im Folgenden erwartet? Ein herausragendes Leseerlebnis, mit dem Annett Gröschner demonstriert, was lebendiges Erzählen ausmacht, das weit über einen biographischen Rahmen hinausweist. Denn sie verleiht der Lebenserzählung ihrer Heldin Hanna Krause Anschaulichkeit und Tiefe, wie man sie wirklich nicht alle Tage findet.

Das große Leben der Hanna Krause

Annett Gröschner - Schwebende Lasten (Cover)

So folgt sie chronologisch dem Leben Hanna Krauses, die kurz vor dem Kriegsbeginn des Großen Krieges, der später der Erste Weltkrieg heißen sollte, zur Welt kommt. Vaterlos wächst sie im „Knattergebirge“ genannten Armenviertel Magdeburgs im Schatten der Johanniskirche auf. Als Blumenbinderin unterstützt sie ihre Halbschwester Rose, lernt später ihren künftigen Mann Karl kennen und macht sich als Blumenbinderin mit eigenem Laden dort im Knattergebirge selbstständig. Blumig oder farbenreich ist in ihrem Leben allerdings höchstens die Auslage in ihrem Laden. Denn das Leben dort in Magdeburg bedeutet ärmliche Verhältnisse, bei denen immer wieder Hannas Geschick und Findigkeit vonnöten ist, wenn sich mal wieder die Geldsorgen häufen oder sich schon bald die ersten Kinder im Leben der jungen Frau einstellen.

Schwebende Lasten ist das beeindruckende Bild von weiblichem Anpassungswillen und Überlebenskraft, die Hanna an den Tag legt, um ihre Familie um Karl und ihre Kinder zusammenzuhalten. Schon beginnt der Zweite Weltkrieg, der die Armut der Familie noch einmal potenzieren wird. Verluste ihrer Kinder im Zuge der Luftschläge der Alliierte, das Ausgebombt-Werden mit ihren kleinen Kindern, das Hamstern und Überleben der vom Historiker Harald Jähner „Wolfszeit“ getauften Periode, die ständige Not, die Hanna aber nicht brechen kann, davon erzählt Annett Gröschner plausibel und greifbar.

En passant erzählt dieser Roman auch die großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Brüche des 19. Jahrhunderts mit, die immer wieder auf Hannas Leben durchschlagen.

Politische und gesellschaftliche Brüche

So fordert der Zweite Weltkrieg einen hohen Preis von ihr, ihre beständig wachsende Familie muss dramatische Verluste hinnehmen. Später wird sie im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat der DDR entgegen aller Widerstände zu einer Kranführerin, die mit ihrem Kran scheinbar schwebend die schweren Lasten passgenau durch die Maschinenhalle manövriert, obschon Misogynie und Ungleichbehandlung auch dort zum Alltag gehören, ehe sich Hanna auch hier ihren Platz erobert.

In der Nacht bevor Hanna das erste Mal auf den Kran stieg, schlief sie schlecht. Sie hatte Höhenangst, aber das konnte sie nicht zugeben. Sie wollte nicht mimosenhaft sein, auch wenn sie Mimosen mochte. Die Blumen ähnelten ihr, denn sie waren nur scheinbar empfindlich.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 165

Aus den Krupp-Werken wird die Maschinenfabrik Krupp-Gruson im Besitz der sowjetischen Maschinen-Aktiengesellschaft, politische Systeme ändern sich, die Menschen müssen sich anpassen – und mittendrin Hanna Krause, in deren Leben sich all die Veränderungen bis hin zum neuen Deutschland nach der Wende ablesen lassen.

Ein literarisches Kunststück, das zu Verständnis beiträgt

Mit ihrem Roman gelingt Annett Gröschner das Kunststück, dass sich ein fiktives und schicksalsschlagreiches Leben völlig glaubwürdig und schon fast universal anfühlt. Das, was man mit dem schwammigen Schlagwort der „Würdigung von Lebensleistung“ vor allem in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Ost- zu Westdeutschland immer wieder diskutiert, es erhält hier eine (zumindest von mir) selten gelesene Prägnanz und Anschaulichkeit.

Ihr gelingt es, mit Schwebende Lasten literarische Verständigungsarbeit zwischen Generationen und Landesteilen zu schaffen. Sie erzählt von Überleben und Mutterschaft, vom Kampf um Selbstbehauptung und Eroberung von Räumen, die Frauen viel zu lange nicht zugedacht waren. Gröschners Roman gelingt es, die immensen Veränderungen, die das Leben insbesondere in den ostdeutschen und mitteldeutschen Landesteilen bedeutete, vor Augen zu führen und glaubwürdige Porträts ihrer Figuren zu zeichnen, die von Staatsdoping in der DDR bis hin zur Kunst als Kraftquelle aus einer Fülle an Themen schöpft, ohne dabei die Geschichte mit übertriebenem Stilwillen oder literarischer Extravaganz zu überfrachten.

Das macht das Buch im besten Sinne massenkompatibel und setzt dem sachbuchlastigen, von Männern wie Dirk Oschmann bis Jakob Springfeld geprägten Diskurs ein literarisches Kunstwerk entgegen, das Kopf und Gefühl gleichsam anspricht.

Fazit

Diesem Buch sind ebenso viele Leser*innen wie Nominierungen und Besprechungen zu wünschen, schließlich gelingt der Autorin hier ein kleines, großes Kunstwerk, das in Zeiten erhitzter Ost-West-Debatten Bewusstsein für die Brüche und Leistungen jenseits der damals existenten Mauer schafft und nicht zuletzt exemplarisch ein Frauenleben schildert, wie es für das Funktionieren des Landes über alle Staatsformen hinweg unerlässlich war, und das doch noch immer viel zu oft übersehen wird. Insofern leistet Annett Gröschner mit ihrem Roman wichtige Arbeit und unterhält auf erhellende und begeisternde Weise. Dieses Buch ist keine Last, sondern die reine Freude!


  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten
  • ISBN 978-3-406-82973-4
  • 280 Seiten. Preis: 26,00

Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €

Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch

Wenn es ein literarisches Trendthema in diesem Herbst gibt, dann ist das unzweifelhaft das des Meeres. Fast ein Dutzend Romane erschienen in den letzten Monaten, die sich mit dem Leben auf oder am Meer beschäftigen (Auf See von Theresia Enzensberger, Zur See von Dörte Hansen, Über die See von Mariette Navarro, und so weiter und so fort). Nun gibt es mit Die Meerjungfrau von Black Conch einen Roman zu entdecken, der auch das Leben unter dem Meer in den Blick nimmt, indem Monique Roffey den Meerjungfrauenstoff feministisch neuinterpretiert und auf eine abgelegene Karibikinsel verlegt.


Black Conch heißt die kleine Insel, auf der David Baptiste lebt und als Fischer arbeitet. Mit Gitarre und Spliff ausgerüstet will er einen entspannten Tag auf dem Meer verbringen, als er zum ersten Mal die Bekanntschaft mit der Meerjungfrau namens Aycayia macht, die angezogen von seinem Gesang nahe seines Bootes auftaucht.

Die Meerjungfrau in der Badewanne

Dass das Ganze nicht auf einer drogeninduzierten Wahrnehmungsstörung beruht, das stellt sich spätestens dann heraus, als er im Gefolge von amerikanischen Touristen deren Angelausflug begleitet. Denn dort geht den Männern gerät anstelle eines stattlichen Fisches die Meerjungfrau an den Haken gerät. Was bei Ernest Hemingway der Marlin des alten Mannes war, das ist den Männern jetzt die Meerjungfrau, die sie in einen epischen Kampf verwickelt und aus dem die rohen Männer am Ende als Sieger herausgehen.

Monique Roffey - Die Meerjungfrau von Black Conch (Cover)

Als die Männer in einer Kneipe ihren Sieg über das weibliche Wesen feiern wollen, nutzt Baptiste die Gelegenheit und entwendet die Jagdtrophäe namens Aycayia, um sie aus der Macht der Männer zu befreien und bei sich zuhause in der Badewanne zu parken. Diese Notlösung erweist sich als Herausforderung, denn langsam transformiert sich die Meerjungfrau in Baptistes Badewanne.

Sie verliert ihren Fischschwanz und wird unter den staunenden Blicken Baptistes wieder zu der Frau, die sie einst war. Doch natürlich kann man so eine Meerjungfrau natürlich nicht einfach so bei sich zuhause unterbringen, selbst wenn der Schauplatz der Geschichte eine dünne besiedelte Karibikinsel ist. Das muss auch David erfahren, denn eine übergriffige Nachbarin und uralte Kräfte haben auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und so kommt es zu Fischregen, einem Polizeieinsatz und mehr, stets mit dem Ziel, wieder Macht über die Meerjungfrau zu erlangen.

Eine Neuinterpretation mit feministischem Einschlag

Die Meerjungfrau von Black Conch ist aus zwei Gründen eine interessante Lektüre. Zum Einen ist es der feministische Aspekt der Geschichte, der vom Versuch der Domestizierung, weiblicher Anpassung und Widerstandskraft erzählt – wenngleich manchmal auch etwas brachial (und für mein Empfinden gerade im ersten Teil des Buchs zu brachial, wenn die Männer gnadenlos geifernd zur Jagd auf die Meerjungfrau blasen).

Eine Greisin und eine Schönheit, beide ausgestoßen. Frau zu sein war gefährlich, wenn man irgendetwas nicht richtig machte.

Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch, S. 212

Hier ist es eben nicht nur eine Geschichte von Männern, die über den weiblichen Körper verfügen, sondern auch die weibliche Perspektive kommt zu Gehör. Immer wieder erzählt Aycayia selbst von ihrem Leben und ihrer äußeren und insbesondere inneren Zerrissenheit – und zwar in der Form von Lyrik.

Das ist dann auch der zweite Punkte, der Monique Roffeys Buch zu einer intereressanten Lektüre werden lässt. Denn statt für eine normale Schriftsprache entscheidet sich die auf Trinidad geborene Autorin für karibisches Englisch, das sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, darunter etwa kreolisches Englisch und lokaler Slang, was zu einer starken Mündlichkeit der passagenweise eingesetzten Sprache führt.

Wie übersetzt man karibisches Englisch?

Ähnlich wie zuletzt die Übersetzerin Karin Diemerling, die den auf der Karibikinsel Camaho spielenden Krimi Die Knochenleser von Jacob Ross ins Deutsche übertrug, entscheidet sich auf die Übersetzerin Gesine Schröder im vorliegenden Fall, diese im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Sprachfärbung durch einen künstlich nachgebildeten Slang abzubilden, oder wie sie es im Nachwort zu ihrer Übersetzung schreibt:

Es gibt gewichtige Argumente dafür, bei der Übersetzung auf Abweichungen von der Standardsprache in Satzbau und Wortbildung zu verzichten- sie werden von Leser:innen oft schlicht als Fehler empfunden. Die Unterschiede einzuebnen würde andererseits dem Roman eins seiner wesentlichen Gestaltungsmittel nehmen. Die Sprechweise jeder Figur lässt ihre Gruppenzugehörigkeit, ihren sozialen Status und ihre Haltung zum Geschehen erkennen. (…) Und schließlich haben die trinidadischen Passagen einen charakteristischen Rhythmus, einen Singsang, der dem Erzählten eine besondere Färbung verleiht.

All das ginge verloren, wenn die Unterschiede im Deutschen nicht deutlich sichtbar wären.

Gesinde Schröder in ihrem Nachwort zu „Die Meerjungfrau von Black Conch“, S. 237 f.

Das macht aus dem Roffeys Roman ein außergewöhnliches, man könnte auch sagen eigenwilliges Erlebnis, wenn der Fischer David Baptiste in seinem Tagebuch des Jahres 2015/16 von den Ereignissen berichtet, die sich damals im Sommer des Jahres 1976 abgespielt haben. Aber das alles bleibt trotz lyrischer Passagen und fiktivem Slang dann doch gut lesbar, da dieser immer wieder zugunsten von Schriftdeutsch abgelöst wird.

Zudem ist Schröders Idiom auch deutlich dezenter eingesetzt als beispielsweise das fiktive schwarze Amerikanisch, das Werner Löcher-Lawrence seine Figuren in James McBrides Der heilige King Kong sprechen lässt, das die Figuren fast entstellt. Hier ist alles dezenter eingesetzt und verleiht der Neuinterpretation durchaus Charme, indem die Figuren trotz der eigenwilligen Sprache nicht als Simpel karikiert werden.

Fazit

Diese übersetzerische Entscheidung und der Aspekt einer mutigen Neuinterpretation eines schon fast zum Märchenkitsch geronnenen Mythos holen Die Meerjungfrau von Black Conch in die Gegenwart und machen aus dem alten Stoff eine ambitionierte Erzählung auf Höhe des Zeitgeists, die von Zerrissenheit, männlichem Eroberungsdrang und einer ungewöhnlichen Liebe erzählt. Mit exotischem Schauplatz versehen fernab jeder Märchenstunde ist hier ein eigenwilliges Buch zu entdecken, in das man abtauchen kann.


  • Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch
  • Aus dem Englischen von Gesine Schröder
  • ISBN 978-3-608-50522-1 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €