Monthly Archives: September 2021

Kyle Perry – Die Stille des Bösen

Krimis aus Übersee findet man in den Buchhandlungen en masse, auch Australien als Handlungsort ist schon gut erschlossen. Krimis aus Tasmanien hingegen sind bislang Mangelware. Generell ist Tasmanien ja ein literarischer Schauplatz, der außer von Richard Flanagan zumindest auf dem hiesigen Buchmarkt kaum bespielt wird. 68.000 Quadratmeter umfasst die Insel, deren größter Teil unter Naturschutz steht und die zumindest für uns Europäer schon fast den Rand der Welt darstellt. Nun betritt mit Kyle Perry ein Krimiautor die Bühne, der mit Die Stille des Bösen ein formidables Debüt vorlegt. Ein Debüt, dessen nichtssagender deutscher Titel noch der schwächste Aspekt des Buchs ist.


Im Original trägt Perrys Buch den Titel The Bluff. Ein stimmiger Titel, geht es doch um Täuschung, Manipulation und das Spiel mit Erwartungen und Öffentlichkeit. Ausgangspunkt ist der Schulausflug einer Gruppe von Schüler*innen in die Great Western Tiers, eine im Herzen Tasmaniens gelegene Region. Bei diesem Ausflug verschwinden vier Schülerinnen spurlos, eine betreuende Lehrerin wird vor Ort verletzt. Die beiden Polizisten Cornelius „Con“ Badenhorst und Gabriella Pakinga übernehmen die Ermittlungen und versuchen den Verbleib der Mädchen in der Wildnis Tasmaniens zu klären.

Besonders brisant wird das Verschwinden durch die Legende des „Hungermanns“. Dieser forderte schon einmal im Jahr 1985 Opfer, als Schülerinnen ebenfalls verschwanden. Seitdem wurde ein Mantel des Schweigens über die Geschehnisse gebreitet und die Legende des „Hungermanns“ war tabu. Doch mit dem Verschwinden der jungen Frauen taucht die Legende wieder auf, befeuert durch das Agieren ihrer Mitschülerin Madison. Diese betätigt sich als reichweitenstarke Influencerin und verfügt dadurch über ein nicht zu unterschätzendes Machtinstrument, nämlich die öffentliche Wahrnehmung.

Gezielt streut sie Informationen und hält andere wichtige Beobachtungen zurück, mobilisiert durch ihre Videos die lokale Bevölkerung in Limestone Creek und manipuliert ihre Mitmenschen und die Polizei. Eine echte Blufferin also, die die Suche nach ihren Mitschülerinnen als Spiel begreift.

Aufruhr in Tasmanien

Kyle Perry - Die Stille des Bösen (Cover)

Um seinen Krimi zu erzählen wählt Kyle Perry drei Perspektiven, aus denen er hauptsächlich erzählt. So erlebt man die Ermittlungen aus Sicht von Con Badenhorst. Für den Aspekt der lokalen Bevölkerung ist Murphy zuständig, er ist der Vater eines der verschwundenen Mädchen versorgt als Drogenproduzent halb Limestone Creek. Und einen Einblick in die Schulklasse erhält man durch die Lehrerin Eliza, die beim Klassenausflug niedergeschlagen wurde und die vier Mädchen als letzte Zeugin sah. Diese drei Personen sind aufeinander angewiesen, um das Verschwinden der Mädchen zu klären. Doch nicht jeder von ihnen ist ein verlässlicher und ehrlicher Zeuge, auch hier greift der Originaltitel des des Buchs.

Kyle Perry gelingt es, Stück für Stück die Wahrheit über das Verschwinden der Mädchen zu enthüllen. Er schildert die von Madisons Agieren ausgelösten Dynamiken und treibt das Buch in gutem Tempo voran. Immer wieder wechselt er die Blickwinkel, erzählt von der komplizierten Suche im unzugänglichen tasmanischen Hinterland und inszeniert diese Kulisse mit tollen Bildern. Man meint förmlich, sich in dort in den Great Western Tiers zu befinden, die dschungelartige Natur dort voller Berge, Grünzeug und Gumpen gemeinsam mit Badenhorst und Co zu durchstreifen. Das, was das Cover verheißt, liefert Kyle Perry dann im Inneren uneingeschränkt. Suspense und Natur, es ist hier alles drin.

Fazit

Vertrügen auch einige der Figuren noch ein Mehr an Profil und Hintergrund, ist das Buch doch ein erstaunlich souverän erzählter Krimi, dessen Taktung und Wendungen routiniert wirken. Themen wie das Aborigine-Erbe Tasmaniens, gefährliche Dynamiken der Sozialen Medien und der lokale Drogenhandel werden von Kyle Perry gestreift, ohne dass sie die Handlung beschweren. Der Plot ist gut entworfen, der Schauplatz plastisch eingefangen und die Lektüre von Die Stille des Bösen macht Lust auf mehr. Hier schreibt ein echtes Krimitalent, das Tasmanien mit Verve auf die kriminalliterarische Landkarte packt. Bravo!


  • Kyle Perry – Die Stille des Bösen
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-117-6 (Atrium)
  • 460 Seiten. Preis: 22,00 €
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Benjamin Myers – Der perfekte Kreis

Es war einer der großen Überraschungshits des vergangenen Jahres: aus dem Nichts gelang dem Briten Benjamin Myers mit Offene See ein durchschlagender Erfolg, der das Buch bis in die Top10 der Bestsellerlisten katapultierte. Ein Buch, das in der Tradition der Romantik stand, in der die Natur das Seelenleben des Protagonisten abbildete und das von Entgrenzung und der Sehnsucht nach Individualität erzählte. Ein Buch, das einen Nerv traf und sogar zum Lieblingsbuch des Unabhängigen Buchhandels 2020 gewählt wurde.

Nachdem auch ich dem Buch viel abgewinnen konnte, herrschte bei mir große Vorfreude, als ich die Ankündigung für Benjamin Myers neues Buch entdeckte. Ebenso schön gestaltet wie der erste Roman des Briten kommt nun auch Der perfekte Kreis daher. Darin erzählt Myers die Geschichte zweier gegensätzlicher Freunde und ihrer großen Mission: den perfekten Kornkreis anzulegen.


Benjamin Myers - Der perfekte Kreis (Cover)

Redbone und Calvert sind gegensätzliche Freunde. Der eine Kriegsveteran mit vielen Erlebnissen, über die er sich ausschweigt. Der andere ein Hippie mit einer Schwäche für halluzinogene Drogen, der Cider schätzt und die Polizei verachtet. Sie beide verbindet die Leidenschaft für Kornkreise beziehungsweise eher Korngemälde. Nachts ziehen die beiden los, um im ganzen Landstrich ihre Kreationen in die Felder zu walzen. Planvoll drücken sie im Schutz der Nacht die Ähren nieder und erschaffen so ausgefeilte Kunstwerke. Was zunächst als spleeniges Hobby beginnt, beschert den beiden Freunden schon bald viel Aufmerksamkeit. Im Laufe des Sommers werden die beiden zu einer Art Banksy der Kornkreise.

Wie schon im ersten Roman von Benjamin Myers spielt auch hier die Natur wieder eine entscheidende Rolle. Auch hier verheißt sie den beiden Männern Erlösung und Freiheit. Während Calvert in einem Häuschen lebt, in dem man nicht einmal wirklich aufrecht stehen kann, ist es bei Redbone ein zugemüllter Bus, in dem sich der Hauptteil seines Lebens abspielt. Während der Nacht ist dann allerdings alles anders, wenn sie sich die Natur untertan machen, Eindrucksvoll fängt Myers die Vielfalt der Gerüche, Farben und Reize der Nacht ein. Was dem Briten hier wie schon bei seinem Debüt wieder großartig gelingt, wird dann aber auch leider zum großen Problem dieses Buchs. Denn irgendwann ist die Nacht dann auch auserzählt und die großzügig verwendeten Metaphern werden schal und in ihrer Fülle manchmal unfreiwillig komisch:

Wenn ihn schließlich die Müdigkeit überkommt, drückt er sich zwei Kissen auf die Ohren. Wenn er dann schläft, bohren sich leicht zu vergessende Träume wie Rüsselkäfer durch seinen Schlaf in das faulige Holz seines ruhenden Unterbewusstseins. Es sind unsinnige Geschichten, die sich in ruckartigen Bewegungen abspulen wie die Laterna-magica-Vorführungen von früher.

Benjamin Myers – Der perfekte Kreis, S. 165 f.

Immer gleiche Abläufe und Abenteuer

Der Plot leidet unter einem Schablonenhaftigkeit, die jedem nächtlichen Kornkreis-Abenteuer zugrunde liegt. Jedes Mal fahren die beiden mit ihrem Bus los, stellen ihn vom Einsatzort entfernt ab und machen sich an die Arbeit. Dabei gibt es dann zwei Möglichkeiten, wie das Szenario weitergeht. Szenario Eins: Alles klappt, die beiden Freunde konversieren im Kornkreis, schmausen und machen sich nach getaner Arbeit wieder auf den Heimweg. Oder alles mündet in Szenario Zwei: Calvert und Redbone erleben eine Gefahr, die aber immer wieder gleich abläuft. Egal ob sie einem Bullen, einem versoffenen Adeligen oder einer greisen Dame im Korn begegnen – die Begegnungen lösen sich in Wohlgefallen auf, alle gehen ihrer Wege und in den nächsten Tagen berichtet die Zeitung über das neue Kornkreismuster. Damit hat es sich und alles beginnt mit der nächsten Nacht wieder von vorne.

Das macht zunächst noch Freude, irgendwann erschöpft sich aber alles in der Schablonenhaftigkeit der Abenteuer. Eine Entwicklung ist nicht bemerkbar. Und auch wenn das finale Abenteuer ganz leicht vom übrigen Schema abweicht – insgesamt gesehen ist mir das doch alles zu monoton gestrickt.

Hätte Myers nur ein wenig mehr von der Energie, die er in seine Fülle von Metaphern gesteckt hat, für einen abwechslungsreicheren Plot aufgewendet, hätte das dem Buch in meinen Augen gutgetan.

Fazit

So bleibt Der perfekte Kreis qualitativ leider hinter Benjamin Myers Erstling Offene See zurück. Die Schilderung der Natur beherrscht der Brite zweifelsohne. Leider ist der Rest des Buchs zu statisch und entwicklungsfrei, als dass man den Charakteren in diesem Sommer nahekommt und Bindung zu ihnen entwickeln kann. Gewiss kein schlechtes Buch, aber Benjamin Myers kann eben auch deutlich mehr.


  • Benjamin Myers – Der perfekte Kreis
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-8321-8158-1 (Dumont)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maaza Mengiste – Der Schattenkönig

Er kann sich aber nicht vorstellen, was die Italiener den Menschen antun, seinem Volk, seinen Untertanen, den Kindern einer Generation, die geboren wurden, um sein Land aufzubauen. Bald werden die Kaiserin, seine Kinder und seine Berater sich um dieses Radio versammeln, sich zu den Nachrichten neigen und ihnen lauschen, als könnten sie jedes knisternde Detail mit dem Körper aufnehmen. Er hingegen, der Kaiser, Jan Hoy, Haile Selassie, Terefi Mekonnen, hat nur den Wunsch, aufzustehen und einen anderen Raum zu betreten, um den Ozean zu überqueren, in seinen Hafen einzulaufen und sich in das Hochland zu schleichen, um seinem Volk zu verkünden, dass er für den Kampf heimgekehrt ist. Stattdessen ist er hier, wo es keine Sonne gibt, wo alles, was atmet, im Schatten überlebt.

Maaza Mengiste – Der Schattenkönig, S. 363

Ein hierzulande reichlich unbekanntes Kapitel äthiopisch-italienischer Geschichte bringt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste aufs Tapet. Sie schildert in Der Schattenkönig den Abessinienkrieg 1935 und den Kampf der Äthiopier*innen gegen die Besatzer. Fordernde Lektüre.


Verfolgt man nicht gerade ganz genau die aktuelle Nachrichtenlage oder liest beste italienische Literatur, dann kommt einem das Thema Äthiopien und das des Abessinienkriegs heute nicht mehr häufig unter. Das Bestreben Benito Mussolinis nach Expansion, die Überrumpelung des Gegners und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind hier in Deutschland ein Kapitel, das wir auch eingedenk der eigenen Geschichte, nicht wirklich präsent haben. Maaza Mengiste holt dieses Kapitel mit voller Wucht wieder hervor und macht den Krieg und das damit verbundene Leid wieder erfahrbar.

Hirut und Ettore

Hierzu stellt sie zwei Figuren in den Mittelpunkt: Hirut, die im Haus von Aster und deren Mann Kidane als eine Art Leibeigene lebt. Und später wird dann noch Ettore Navarra in den Fokus rücken. Er ist ein venezianischer Soldat, der unter seinem Befehlshaber Fucelli das Land Hiruts besetzt.

Maaza Mengiste - Der Schattenkönig (Cover)

Doch zunächst lernen wir Hirut kennen, der einzig ein wuijgara von ihren Eltern geblieben ist. Dieses Gewehr soll sie nur in höchster Not abfeuern, so brachte es ihr Vater bei. Doch nun behält es Kidane ein. Er ist der Abkömmling großer Krieger und sieht sich in der Verantwortung, nach der Besatzung seines Landes durch die faschistischen Italiener Gegenwehr zu leisten. Er schart eine Gruppe lokaler Bauern um sich, um den Truppen Mussolinis (oder Mussolonis, wie er in Äthiopien geheißen wird) Paroli zu bieten. Seine Frau Aster und Hirut werden trotz eines mehr als komplizierten Verhältnisses zueinander zu Unterstützerinnen in diesem Kampf.

Derweil ficht Ettore seinen ganz eigenen Kampf aus. Er hadert ebenfalls mit seiner Herkunft, auch sein Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht einfach. Diese Herkunft erweist sich zudem als Gefahr für ihn, da er, wenngleich nicht praktizierend, Jude qua Abstammung, ist. Und Mussolini treibt die antisemitischen Säuberungen im Militär voran, sodass Navarra permanent unter Beobachtung steht. Für seinen brutalen Vorgesetzten Fucelli dokumentiert er derweil mit der Kamera den Eroberungsfeldzug und die unglaublichen Gräuel, die die Schwarzhemden vor Ort verursachen.

Die Herkunft beziehungsweise die Aufgabe der beiden Charaktere formen auch über die beiden Erzählstränge hinweg die Struktur des Buchs. Denn immer wieder unterbrechen Fotobeschreibungen und Chor-Einschübe die Handlung und rhythmisieren so das Ganze. Und zu guter Letzt flicht Maaza Mengiste auch immer wieder Passagen ein, in denen sie sich in den Kaiser Haile Selassie einfühlt, wie etwa im Eingangszitat. Der Herrscher, der ins Exil nach England flieht und mit seinen eigenen Entscheidungen hadert, bildet so etwas wie die dritte Hauptfigur.

Die Grausamkeiten des Abessinienkriegs

Durch diese drei Figuren entsteht ein Panorama des Abessinienkriegs, das von Leid, Unterdrückung und unfassbarer Gewalt erzählt. So schildert Mengiste plastisch den Tod, den Mussolinis Schwarzhemden über die Menschen bringen. Sie setzten Gas gegen die lokale Bevölkerung ein. Navarras Vorgesetzter Fucelli errichtet im Hochland ein Lager, in das er Gefangene interniert und hundertfach in den Tod schickt. Während Ettore Navarra mit der Kamera das Geschehen dokumentiert, lässt Fucelli die Äthiopier über Klippen in der Nähe des Lagers in den Tod springen.

Hier wird der Krieg mit seiner ganzen Härte erfahrbar. Aber auch Hiruts Kampf und Verzweiflung zeichnet Maaza Mengiste plastisch nach. Zusammen mit Aster wird sie zur Leibgarde des Schattenkönigs, einer Finte ihres Mannes Kidane. Dieser macht einen Musiker zum Wiedergänger des geflohenen Präsidenten, der langsam in seine Rolle als Schattenkönig hineinfindet und die Äthiopier zum Durchhalten motiviert und unter den Italienern für Ablenkung sorgt.

So zoomt die Autorin auf die persönlichen Erfahrungen und stellt den Kampf in seiner ganzen Unmittelbarkeit dar. In dieser erzählerischen Mikroebene bleibt Maaza Mengiste ganz eng an ihren Figuren, Empfindungen, Gedanken und Reflexionen überwiegen. Persönlich hätte ich mir angesichts des hochspannenden und komplexen Themas noch etwas mehr Makroebene gegenüber der dominierenden Introspektive gewünscht. Der geschichtliche Rahmen, der politische Überblick und die Einordnung des Ganzen bleiben hinter dem subjektiven Blick zurück und fehlten mir persönlich. Viele Informationen zum Geschehen musste ich mir über Sekundärliteratur verschaffen.

Auch wäre mir eine etwas stärkere erzählerische Ausbalancierung zwischen den Figuren zupassgekommen. So bleibt Ettore zunächst blass und kaum greifbar, während Hirut stark im Vordergrund steht. Eine besser getaktete Engführung zwischen diesen beiden Figuren hätte mir persönlich gefallen.

Wie sie aber von ihnen erzählt, für Hirut, Ettore und Selassie eine eigene Sprache findet, das beeindruckt doch und rechtfertigt auch die Berufung in die finale Auswahl des Booker Prizes 2020. Zudem kommt hier mit Hirut eine Figur zu Wort, die in den herkömmlichen Chroniken sicher vergessen worden wäre. Sie steht symbolisch für den Krieg aus weiblicher Perspektive. Ihre Erfahrungen, ihr Kampf mit eigenen Mitteln und ihre Verarbeitung des Kriegs stehen als Sinnbild für viele tausende andere Abessinier*innen, die sonst nicht einmal als Fußnote in der Geschichtsschreibung auftauchen.

Fazit

In Der Schattenkönig beschwört Maaza Mengiste ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel italienisch-äthiopischer Geschichte herauf. Das Buch nur als Schilderung des Abessinienkriegs aus einer sonst eher marginalisierten Perspektive auszugeben, würde Mengistes Buch allerdings Unrecht tun. Die Erfahrungen, die der Krieg bedeutete, das unmittelbare Leid und der parallele Blick auf Unterdrücker und Unterdrückte machen aus diesem Buch eine eindringliche Lektüre, die zu weitergehenden Beschäftigung mit dieser Materie einlädt. Übersetzt von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit.


  • Maaza Mengiste – Der Schattenkönig
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-423-28292-5 (dtv Literatur)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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Andreas Pflüger – Ritchie Girl

In den letzten Monaten hat wieder zunehmend eine Debatte eingesetzt, die um das Erbe deutscher Firmen in der Zeit des Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Konsequenzen kreist. Viel Aufmerksamkeit erzeugte das Gespräch von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, in dem sie sich auf Instagram über das Erbe des Nationalsozialismus und die Frage von Kontinuitäten unterhielten. Doch nicht nur Hilal und Varatharajah thematisierten öffentlichkeitswirksam die Frage nach Verantwortung, die aus dem nationalsozialistischen Erbe erwächst. Auch Jan Böhmermann beschäftigt sich immer wieder in einem Showsegment seines ZDF Magazin Royal mit der Familie Stoschek. Diese sehen sich aufgrund ihres Umgangs mit ihrem Familienerbe, das durch den Wehrwirtschaftsführer Max Brose begründet wurde, der Kritik des Satirikers ausgesetzt.

Der Umgang mit der eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist bisweilen arg sorglos und unreflektiert, wie etwa der Fall von Verena Bahlsen zeigt. Die Aufarbeitung des Erbes dauert nach wie vor an, vieles verschweigen Firmen und scheuen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Zu diesen aktuellen Debatten passt auch das neue Buch von Andreas Pflüger ganz hervorragend, in dem er die Verflechtungen deutscher und amerikanischer Firmen und Strippenzieher zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet. In Ritchie Girl steigt er tief hinab in die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen von Nazis und Amerikanern, fragt nach Schuld und erzählt von einer jungen Frau, die der machtpolitische Pragmatismus und das bewusste Wegsehen ihre Mitmenschen an die eigenen Grenzen bringt. Ein eindringliches Buch und sicherlich keine leichte Kost.

Zurück nach Deutschland

Nach seinem BRD-Kartellepos Operation Rubikon und der exquisiten Thriller-Trilogie um die blinde Polizistin Jenny Aaron wechselt Pflüger nun das Fach und erzählt einen historischen Roman, der zurückführt in die letzten Tage des Dritten Reichs und der unmittelbaren Zeit danach. In einem Vorklapp erzählt Pflüger von Paula Blooms Ankunft in Italien, das gerade inmitten von Chaos versinkt. Die Deutschen befinden sich auf dem Rückzug. Deserteure, widerständige Nazis und ein verhafteter Duce sind nur einige Faktoren in dem ganzen Chaos, das Paula am eigenen Leib erlebt. Nachdem sie in Berlin in einer Villa am Hundekehlesee aufgewachsen ist, hat sie nach ihrer Flucht nach Amerika beschlossen, in das Land ihrer Väter zurückzukommen. Sie will verstehen, wie es mit dem Land so weit kommen konnte. Doch ihre Bereitschaft zum Begreifen wird von den Geschehnissen vor Ort auf eine harte Probe gestellt.

Nach einem Zeitsprung erzählt Pflüger dann von der Ankunft Paulas im zerstörten Deutschland. Als Teil der Streitkräfte wird sie im sogenannten Camp King untergebracht, dem Areal, auf dem sich neben dem Militär auch zahlreiche Nazis tummeln. Egal ob Gehlen, Streicher oder Speer, sie alle befanden sich dort und wurden von den Amerikanern verhört. Und obwohl Paula aufgrund ihres Geschlechts beständig angefeindet wird, ist es gerade dieses Geschlecht, das sie in den Augen der Verantwortlichen für einen ganz besonderen Fall prädestiniert. Denn neben all den ranghohen Nazis sitzt auch ein ganz besonderer Mann im Camp King ein, der von sich behauptet, ein legendärer Spion im Dienst der Nazis zu sein. Doch kann man dem Mann trauen? Um einen Zugang zu dem potentiellen Spion zu finden, setzt man Paula auf ihn an. Doch das, was ihr der Mann in den Verhören offenbart, ist dazu angetan, Paulas Welt auf den Kopf zu stellen.

Skrupellose Geschäftemacher und historische Kontinuitäten

Ritchie Girl ist ein Roman, der die letzten Kriegstage wieder zum Leben erweckt. Er erzählt vom gnadenlosen Opportunismus der Nazis und der Amerikaner, deren Pragmatismus nicht selten zum Verwechseln gleicht. Paula als Deutsch-Amerikanerin ist besonders sensibel für diese Verwerfungen, die Pflüger mit großer Detailschärfe skizziert. So erzählt von vom skrupellosen Allen Dulles, der mit den Nazis Geschäfte machte, mithilfe der Operation Sunrise sogar mit den Nazis über eine Kapitulation und den gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus verhandelt. Der jüngere Bruder des späteren Außenministers John Foster Dulles ist nur eine der Figuren, deren moralische Skrupellosigkeit im Buch schaudern macht.

Andreas Pflüger - Ritchie Girl (Cover)

Ähnlich wie Chris Kraus in Das kalte Blut beschäftigt sich auch Andreas Pflüger in seinem Buch mit der Kontinuität der Täterkarrieren der Nationalsozialismus, beispielsweise der von Reinhard Gehlen, den man zum Chef der Operation Gehlen, dem späteren BND machte. Pflüger zeigt in seinem Roman die Geräuschlosigkeit auf, mit der man den strammen Nazis erlaubten, als Entscheider und Führungskräfte in der BRD nahezu unbeschadet ihrer Karrieren fortzusetzen. Der Kalte Krieg und der drohende Kommunismus stand ja vor der Tür, sodass man die Tätigkeit der Kader während 1933 und 1945 lieber nicht hinterfragte, sondern sie in Machtpositionen und Schaltstellen hievte. Einmal mehr rechtfertigte der Krieg die Mittel. Ein Zustand, an dem Paula Bloom in Pflügers Roman zunehmend verzweifelt.

Da kann auch der Besuch der Nürnberger Prozesse keine wirkliche Abhilfe schaffen. Paula Blooms moralischer Kompass stößt in dieser Welt eindeutig an seine Grenzen. Zudem sind die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schuld und Sühne geradezu verschwindend, sodass nicht nur Paula, sondern auch wir als Leser immer wieder an die Grenze des Hinnehmbaren stoßen. Und nicht zuletzt reift auch die Erkenntnis, dass skrupellose, machthungrige und über Leichen gehende Machtmenschen nicht nur auf der deutschen Seite des Verhörtisches sitzen…

Faktensatt und bisweilen schwer erträglich

Pflügers Roman ist wahrhaft keine leichte Lektüre. Das liegt schon am Sujet der Nachkriegszeit und ihrer ganzen Not und Brutalität. Zudem ist Ritchie Girl mehr als faktensatt. Die Verflechtungen der Wirtschaftsinteressen, der Apparat von Amerikanern und Nazis, die Politik von Siegern und Besiegten fächert Pflüger detailliert auf und steigt tief hinab in die Geschichte. Egal ob IBM, amerikanische Dependancen der IG Farben, das Vorkriegsgebaren von amerikanischer Wirtschaftselite und deutschen Nazis – Pflüger thematisiert die mannigfachen (und nach dem Krieg totgeschwiegenen) Beziehungen. Dass ein Essay von Bodo Hechelhammer, seines Zeichens Chefhistoriker des BND, den Roman abschließt, ist bei dieser Fülle an Themen und Material nur konsequent.

Doch nicht nur die faktensatte Erzählweise und die schnellen Dialoge erfordern Aufmerksamkeit. Auch der Inhalt vieler Gespräche ist kaum auszuhalten, etwa wenn Pflüger in Gesprächen Nazis zu Wort kommen lässt, die über den Genozid und die damit verbundenen unmenschlichen Grausamkeiten lachend parlieren. Nazis, die ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus relativieren und ihrem Antisemitismus weiterhin freie Bahn lassen. Solche Verhöre und geschilderte Szenen erfordern einen starken Magen und rufen den Schrecken des Nationalsozialismus noch einmal wach.

Fazit

Liest man Ritchie Girl, erfasst einen die Wut über die Geschmeidigkeit, mit der man die Seiten wechselte und über den Opportunismus, der die Moral schlug. Das Buch ist eine literarisch versierte, rhythmisch durchdachte und ausnehmend gut geschriebene Geschichtsstunde, die das Schweigen vieler über die Rolle ihrer Vorfahren und das Wegducken vor der eigenen Verantwortung anklagt. Das Buch nimmt die historischen Kontinuitäten in den Blick und ist ein genauer Blick auf die moralische Flexibilität, die die Nahtstelle vom Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs für Amerikaner und Deutsche kennzeichnete. Keine leichte Kost, aber mehr als lesenswerte. Einmal mehr bestätigt Andreas Pflüger seine Ausnahmeerscheinung auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt.


  • Andreas Pflüger – Ritchie Girl
  • ISBN 978-3-518-43027-9 (Suhrkamp)
  • 464 Seiten. Preis: 24,00 €
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Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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