Monthly Archives: Oktober 2021

Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung

Auf den kleinen Münchner Verlag Liebeskind ist Verlass. Egal ob Western, Klassiker, Krimi oder welthaltige Literatur aus Afrika oder Japan. Immer wieder gelingt es diesem Haus, spannende Perlen abseits des literarischen Mainstreams zu präsentieren. Dieses Buch macht dabei keine Ausnahme: Didier Daeninckx‚ Klassiker Le der des ders aus dem Jahr 1984, vor zehn Jahren in der Übersetzung von Stefan Linster als Tod auf Bewährung erschienen. Ein klarer Fall für #backlistlesen.

Wir befinden uns Anfang der Zwanziger Jahre in Paris. Der Große Krieg liegt zwar in der Vergangenheit, seine Auswirkungen sind aber immer noch überall zu spüren. Die Amerikaner bevölkern die Gassen von Montmatre bis Pigalle, viele Menschen tragen Traumata mit sich herum und der illegale Handel mit Waren aus Übersee boomt.

Ein Auftrag für René Griffon

Didier Daeninckx - Tod auf Bewährung (Cover)

Anfang Januar verheißt ein nächtlicher Anruf einen neuen Auftrag für René Griffon, der sich als Privatdetektiv im 19. Arrondissement verdingt. Er wird von einem ranghohen Militär angeheuert, der Untreue bei seiner Ehefrau vermutet. Ein absoluter Klassiker, der auf den ersten Fall wie leicht verdientes Geld für Griffon aussieht. Doch so einfach, wie sich der Fall zunächst darstellt – der bekennende Krimileser ahnt es längst – ist der Fall dann natürlich nicht. Seine Suche nach der Wahrheit hinter dem Fall führt ihn vom Anwesen des Colonels in Aulnay über die Kneipen von Pigalle bis zu einem Sanatorium in Villepinte. In seinem Packard Twin Six braust Griffon durch höchst unterschiedliche Orte rund um Paris, um Licht ins Dunkel dieses immer kompliziert werdenden Falles zu bringen. Hier scheint niemand mit offenen Karten zu spielen

Von der anfänglichen Untreue wächst sich der Fall zu einer Affäre aus, die zurück bis zu den Schlachtfeldern bei La Courtine führt. Dabei entfaltet Didier Daeninckx neben der Rahmenhandlung auch ein beeindruckendes Porträt von Paris mit seinen ganzen so unterschiedlichen Vorstädten. Vom industriellen Levallois bis nach Roissy en France, von Vergnügungsvierteln bis in das Sanatorium, das hier an das Batman’sche Arkham Asylum erinnert reicht der Bogen, den der Krimiautor spannt.

Bis zum bitteren Ende

Schön auch der Mut von Daeninckx, seine voranpreschende Geschichte bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Hier gibt es kein unpassendes Happy End, hier wird der Noir in seiner ganzen Düsternis durchexerziert. Dass die Farbe Schwarz dabei immer wieder als Leitmotiv auftaucht, das passt gut ins Bild.

So ist Tod auf Bewährung ein souverän mit den Themen und Motiven des Krimi Noir spielendes Buch, das einerseits als Hommage an ein (zumindest im Erscheinungsjahr 1984) nicht mehr wirklich populäres Genre funktioniert. Die Themen, die Figur von René Griffon als Privatdetektiv, das von halbseidenen Figuren bevölkerte Paris, alles das ist Noir Pur.

Dann hat das Buch neben seinem Willen zu Hommage andererseits aber auch selbst das Zeug zum zeitlosen Klassiker. Das Buch ist eine Vermessung von Paris in der Zwischenkriegszeit, ein klassischer (manchmal ja schon fast altmodischer) Krimi um einen Privatschnüffler und ein Porträt dessen, was ein Krieg mit einer Gesellschaft anstellen kann, souverän ausbalanciert durch Didier Daeninckx. Obwohl hier viele Zutaten zusammenfinden, ist das Ganze doch sehr stimmig ausbalanciert und darüber hinaus auch noch spannend. Schon ab dem Anruf, der Griffon aus seinem Trott reißt, besitzt Tod auf Bewährung einen mitreißenden Sog.

Fazit

Hervorragend, dass der Liebeskind-Verlag die Initiative gewagt hat, das Buch dem deutschen Lesepublikum zugänglich zu machen. Schade hingegen, dass das Interesse für Daeninckx‘ Krimi hierzulande eher verhalten geblieben ist. Obwohl er laut Verlagsangaben immerhin als einer der wichtigsten Kriminalschriftsteller Frankreichs gilt. Wer Tod auf Bewährung liest, wird dieser Einschätzung nicht widersprechen wollen. Ein kluges Spiel mit Genremotiven und ein überzeugender Krimi Noir aus Paris, der die Zeit der 20er Jahre schon lange vor Volker Kutscher und Co. als Spielfeld entdeckte.


  • Didier Daeninckx – Tod auf Bewährung
  • Aus dem Französischen von Stefan Linster
  • ISBN 978-3-935890-83-0 (Liebeskind)
  • 288 Seiten. Preis: 18,90
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Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge

Diese Familie ist wirklich mehr als außergewöhnlich. Kristen Arnett in ihrem Debütroman „Ziemlich tote Dinge“ über eine reichlich dysfunktionale Dynastie von Taxidermisten, die Kunst der Tierpräparation, die Verarbeitung von Verlusten und die Frage nach einem möglichen Neuanfang. Großartige und eigenwillige Literatur aus Amerika, die es sich zu entdecken lohnt.


Jessa-Lynn Morton entstammt einer Familie von Taxidermisten. Ihr Vater hat ihr einst die Kunst der Präparation von Tieren nahegebracht, seitdem verdingt sie sich im familieneigenen Geschäft in Florida als kunstvolle Handwerkerin, die den toten Tieren noch einmal Leben einhaucht. Bei ihrem Vater kann sie allerdings auch mit jeglicher Kunstfertigkeit nichts mehr ausrichten. Sie findet ihn erschossen in den Arbeitsräumen des Geschäfts vor.

Der Suizid ihres Vaters wirft in der Folge nicht nur Jess aus der Bahn. Alle Familienmitglieder geraten ins Taumeln und begegnen dem Verlust auf ganz eigene Art und Weise. Jess‘ Mutter rasiert sich eine Glatze und beginnt, sich künstlerisch auszuleben. Im Schaufenster ihres Geschäfts modelliert und gruppiert sie ausgestopfte Tiere zu freizügigen bis obszönen Gesamtensembles, die schon bald die Aufmerksamkeit der Nachbarschaft auf sich ziehen.

Milo, der Bruder von Jess, ist sowieso schon aus der Bahn geworfen. Seine Frau Brynn hat ihn verlassen, die Kinder sind bei ihm geblieben. Ein Verlust, den aber nicht nur Milo nicht verwinden kann, auch Jess macht dieser Verlust noch immer zu schaffen. Denn auch sie pflegte eine intensive Affäre mit Brynn…

Viele eigenwillige Figuren

Kirsten Arnett - Ziemlich tote Dinge (Cover)

Es sind viele eigenwillige Figuren, die uns Kristen Arnett in ihrem Debüt präsentiert. Die queere Jess, die die Frau ihres Bruders liebt. Die exzentrische Mutter, deren Kunst schon bald auch eine lokale Galeristin begeistert. Die lokale Galeristin, die wiederum sehr von Jess begeistert ist. Und dazwischen allerhand ausgestopfte Waschbären, Alligatoren, Pfaue und Bären.

Höchst anschaulich schildert Arnett die Kunst, die es bedeutet, Ziemlich tote Dinge wieder zum Leben zu erwecken. Den Prozess dahin, bis ein Tier ausgestopft an der Wand hängt oder als Trophäe ausgestellt wird, das dekliniert die amerikanische Autorin hier bis ins Kleinste vor. Hier werden überfahrene Tiere von der Straße geklaubt, Skelette geformt und präpariert – aber nie so, dass sie dieses Handwerk platten Grusel- oder Ekeleffekten opfert. Stattdessen zeichnet sie dieses Handwerk als Kunst, das in vielfacher Hinsicht bei der Trauerbewältigung helfen kann.

Interessant wird Ziemlich tote Dinge zudem durch die Kombination von Eros und Thanatos. Während der Tod sowohl in die Familie als auch das Handwerk und die Kunst der Mortons bestimmt, ist dieses Buch auch stark vom Begehren und Sexualität geprägt. Die gleichzeitige Liebe von Bruder und Schwester zur gleichen Frau, die Affäre von Jess mit der Kuratorin der kleinen Galerie, die Suche nach einer eigenen queeren Identität, das alles prägt dieses Buch ebenfalls sehr. Gelungen schafft es Kristen Arnett, diese schwierige Suche nach dem eigenen Ich und die Kalibrierung der eigenen Bedürfnisse nachvollziehbar zu machen. Ihr gelingen Szenen, die von anrührend bis hin zu grotesk reichen.

Von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben

In dieser Engführung von tierischer Wiederbelebung und menschlichem Sterben, Begehren und Abschied ist Arnetts Buch wirklich gelungen. Zudem verfügt die 1980 geborene Autorin über eine wirklich gute Schreibe (übersetzt von Brigitte Jakobeit), die die Natur Floridas, die Kunst der Taxidermie und das Leiden und Begehren nachvollziehbar und wunderbar lesbar in Worte kleidet. Das dieses Buch ein New York Times-Bestseller war, das verwundert nicht.

Ihr gelingt das Portrait einer eigenwilligen Familie voller eindringlicher, manchmal geradezu skurriler Figuren, die vom Tod und dem Leben erzählen. Dieses Buch ist wirklich eine Wunderkammer, die nicht nur mit vielen ausgestopften Tieren, sondern auch einer ganzen Füller unterschiedlicher Themen aufwarten kann. Queere Identität. Trauerarbeit. Die Kunst der Taxidermie. Eine Hymne auf die Fauna Floridas und die Kraft der Versöhnung.

Ein außergewöhnliches Buch das zeigt, dass nicht nur die großen Namen Jonathan Franzen und Co. das Metier des Familienromans beherrschen. Hier lernt man eine Sippe kennen, die man auf keinen Fall schnell vergisst – und besonders nicht dieses Cover!


  • Kristen Arnett – Ziemlich tote Dinge
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit
  • ISBN 978-3-7530-0007-7 (Ecco-Verlag)
  • 416 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eva Menasse – Dunkelblum

Etwas wächst und wuchert da im Dunkeln. Ist es eine Blume oder doch eher dicht verflochtenes Wurzelwerk, kaum zu durchdringen, tückisch und an der Oberfläche fast nicht sichtbar? Eva Menasse erzählt in Dunkelblum von der Vergangenheit, die doch nicht tot ist, vielleicht noch nicht einmal vergangen. In Dunkelblum, kommen Knochen ans Tageslicht und mit ihnen viele Geschichte, die man in dort im kleinen österreichischen Dorf an der Grenze zu Ungarn doch lieber vergessen hätte.


Eigentlich ist es ein ganz unscheinbares Dorf, dieses Dunkelblum. Gelegen an der österreichisch-ungarischen Grenze im Burgenland wirkt es auf den ersten Blick recht austauschbar. Früher gab es ein wenig Adel, eine Synagoge und als besondere Sehenswürdigkeit eine Pestsäule. Erstere sind verschwunden, die Pestsäule in der Dorfmitte hat Bestand. Dass der Zahn der Zeit allerdings stark an dieser genagt hat, ist nicht nur für die Säule bezeichnend. Das ganze Dorf ist im Niedergang inbegriffen, so ganz weiß man auch nicht, wo man sich hinentwickeln will. Risse durchziehen hier nicht nur Bauwerke, sondern die ganze Gemeinschaft.

Es gibt einen historischen Ortskern und einen neueren Teil, den Bahnhof hat man gleich mehrfach abgerissen und neugebaut (immer schiacher allerdings, wie man dort sagen würde). Man ist sich uneins ob der Schwerpunktsetzung eines geplanten Museums (soll es eher die Geschichte der Grafen Dunkelblums oder handwerkliche Aspekte in den Vordergrund rücken?), man separiert sich in Stammtischbrüder und Auswärtige, der geografisch nicht weit von Dunkelblum entfernte Grenzzaun, er lässt sich in vielen Abwandlungen überall in Dunkelblum finden.

Sauber abgegrenzte Geschichte

Auch die Vergangenheit hat man dort im Burgenland sauber abgegrenzt und hinter sich gelassen. So meint man jedenfalls, bis einige Ereignisse beweisen, dass die Vergangenheit eben nicht tot ist, nicht einmal vergangen. Bei Probegrabungen auf einer Dorfwiese tauchen alte Knochen auf, die unschöne Erinnerungen wecken. Zudem ist es die Tochter einer Dorfbewohnerin, die sich ebenfalls sehr für die Dunkelblum’sche Vergangenheit interessiert. Flocke Malnitz tut sich mit dem Besitzer des Reiseladens zusammen, um die Geschichte ihres Heimatortes zu ergründen.

Das schmeckt nicht jedem in Dunkelblum, die die Vergangenheit lieber ruhen lassen würden. Schließlich gibt es einiges zu verbergen. Da war dieses Fest der Gräfin von Dunkelblum, in dessen Folgen es zu einem Massenmord kam, über den man sich lieber ausschweigt. Dass die jüdischen Mitbewohner aus Dunkelblum auf mal mehr oder weniger subtile Art und Weise einst aus dem Dorf verschwanden, auch das möchte man besser nicht so genau hinterfragen. Die letzten Tage vor dem Einmarsch der Russen, die Endphaseverbrechen, all das hat man recht erfolgreich aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt.

Da passt es jetzt ganz schlecht ins Bild, dass die junge Frau alten Staub aufwirbelt und hartnäckig die Nerven der Dunkelblumer und Dunkelblumerinnen strapaziert. Noch dazu kümmern sich plötzlich junge Menschen um den vergessenen alten jüdischen Friedhof, der doch so pittoresk vor sich hinverfallen ist und. Vom honorigen Alt-Nazi bis zum überforderten Ersatz-Bürgermeister – sie alle sind beunruhigt. Kann man es nicht einfach gut sein lassen mit diesen alten Geschichten?

Von der Kontinuität der Geschichte

Dunkelblum ist ein Roman, der sich mit der Kontinuität von Geschichte sowie der kollektiven Verdrängung beschäftigt. Die große Kunst des ganzen Buchs ist dabei die Tatsache, dass der Kern ihres Buchs ausgespart und nahezu gar nicht berührt wird. Die schier unfasslichen Verbrechen in der Endphase des Kriegs, die ihr historisches Vorbild im Massaker von Rechnitz haben, werden hier nur touchiert, manchmal in Gesprächen angerissen, ansonsten wird das Verbrechen hier gar nicht ausbuchstabiert. Menasse interessiert sich in Dunkelblum mehr für den Umgang mit dieser Schuld, die viele im Dorf auf sich geladen haben. Die Verarbeitung bzw. Verdrängung sind Themen, die die Österreicherin vielschichtig und nuanciert herausarbeitet.

Dabei gibt es zahlreiche Aspekte, die man an Eva Menasses Roman rühmen kann. Die Mühelosigkeit, mit der sie von Vergangenem zu Gegenwärtigem und wieder zurück wechselt. Die Sicherheit, mit der sie diese verschiedenen Zeitebenen verbindet und aus ihnen das Zeitlose destilliert. Die Frage von Schuld und Verdrängung. Die, welchen Preis Aufarbeitung haben kann und die, wie man sich mit dem Bösen arrangiert. Ihr Werk ist in viele Richtungen deutbar, besitzt Anknüpfungspunkte zu vielen Debatten unserer Tage und ist darüber hinaus nie schwer, sondern nur böse, unterhaltsam und von großem Anspruch.

Die Vermessung der österreichischen Seele

Ihr gelingt es hier, die österreichische Seele aus einem Dorfroman herauszudestillieren. Während die DDR-Flüchtlinge am Grenzzaun zu Österreich rütteln und ein leibhaftiger Flüchtling sogar im Dorf auftaucht, ist schon klar, dass mit aller Macht eine neue Zeit heranbricht. Dennoch versucht man in Dunkelblum alles so handzuhaben, wie man es immer schon gemacht hat. Nicht von ungefähr wird hier kurz auf den unseligen Kurt Waldheim und die damit verbundene Waldheim-Affäre angespielt. Erst diese Affäre, immerhin schon Anfang der 90er Jahre, setzte in Österreich einen Prozess der Aufarbeitung der eigenen Geschichte während des Dritten Reichs in Gang. Der falsche Mythos, dass Österreich immer Opfer gewesen sei, er wird auch in Eva Menasses Buch thematisiert und deutlich widerlegt.

Aber die in Berlin lebende Autorin blickt in Dunkelblum nicht nur zurück auf die dunklen Kapitel der Geschichte Österreichs – sie schafft auch Anknüpfungspunkte in die Gegenwart, etwa dann, wenn Nazi-Schmierereien auf dem jüdischen Friedhof auftauchen. Eine „b’soffene G’schicht“ sei das, nicht mehr, so redet der Bürgermeister dieses antisemitische Delikt klein. Jener Ausruf lässt doch dann sehr an H.C. Strache und dessen Verteidigungslinie im Ibiza-Skandal denken, der unlängst die Alpenrepublik erschütterte. Und so gibt es in diesem Buch viele Beispiele von Anknüpfungspunkten aus der Vergangenheit bis hinein in unsere Gegenwart. Das verleiht dem Buch in seiner Offenlegung historischer Kontinuitäten etwas Zeitloses, das ihn zum Klassiker der österreichischen Literatur bzw. Anti-Heimatliteratur machen könnte.

Auch sprachlich überzeugend

Auch auf der sprachlichen Ebene überzeugt ihr Buch vollends. Sie schafft ein gut lesbares österreichisches Kunst-Idiom, das vor wunderbaren Einfällen und (im Appendix erklärten) Austriazismen nur so strotzt. So verkündet etwa ein Nachfahre des Dunkelblumer Adels, dass die lokale Gruft dringend renovierungsbedürftig sei, da „die Vorfahren safteln“. Immer wieder sind es originelle Sprachbilder und Vergleiche, die Eva Menasse für ihre Erzählung findet. Gedanken „sedimentieren“ da bei einer Frau, der Aushilfsbürgermeister erinnert an ein Murmeltier, dass hilflos mit seinen Händchen ringt, der Geruch eines geschälten Eis ist hier „mephistophelisch“. Hier offenbar eine Autorin einen originellen Zugriff auf die Sprache, die ihre Erzählung zu jedem Zeitpunkt unterstützt.

Umso bedauerlicher der Umstand, dass dieses Buch für keinen großen Buchpreis in diesem Jahr nominiert wurde. mit diesem Roman nicht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, lässt einen doch verwundert die Augen reiben. Dass dieser Roman dann noch nicht einmal für die Auswahl des Österreichischen Buchpreises beachtet wurde, lässt einen dann gar nicht mehr aus dem Staunen herauskommen. Wie konnten all die Jurys die Qualität verkennen, die diesem Werk innewohnt? Man sollte den Fehler dieser Literaturjurys nicht machen und in diesem Herbst an diesem Buch vorübergehen. Man würde es bereuen.

Fazit

Eigentlich bietet dieses Buch alles, was Literaturjurys hierzulande mögen und was im Trend liegt. Dunkelblum ist die Aufarbeitung von Historie, vom Dritten Reich bis zum Fall des Eisernen Vorhangs. Dunkelblum ist ein Dorfroman, der eine ganze Gesellschaft mithilfe einer Dorfgemeinschaft vor Augen ruft. Dunkelblum ist eine Erzählung von Erinnern und Vergessen, von Verdrängung und Aufdeckung. Ein stilistisch großartiger Roman, der zum besten zählt, das die österreichische Literatur seit Langem hervorgebracht hat. Dass er für die großen Preise in diesem Herbst übergangen wurde, man muss es nicht verstehen.


  • Eva Menasse – Dunkelblum
  • ISBN 978-3-462-04790-5 (KiWi)
  • 528 Seiten. Preis: 25,00 €
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Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Dass die Literatur sich wandelt und sich immer wieder neuen Themen zuwendet, das ist ja zugegeben eine Binsenweisheit. Trends kommen und gehen, gerade auf dem schnelllebigen Literaturmarkt der Gegenwart versuchen viele Verlage gleichzeitig, Themen, die en vogue sind zu bedienen. Das ist mal verzichtbar, wie etwa vor wenigen Jahren die vielfachen Vatikan-Thriller oder nun das Segment der True-Crime-Literatur oder das der austauschbaren historischen Sagas rund um Kinos, Kaufhäuser oder Fabriken. In anderen Fällen ist das mehr als begrüßenswert. Insbesondere dann, wenn sich Literatur vermehrt tabuisierten Themen zuwendet und damit Diskurse anstößt, bereichert und Bewusstsein schafft.

Jüngst ist das beim Thema Vergewaltigung und des damit verbundenen Komplexes aus Scham, Schuldfragen, Verarbeitung und Traumatisierung zu erleben. Bettina Wilpert etwas erzählte in nichts, was uns passiert von einer Vergewaltigung in einer Leipziger Sommernacht – und dem, wie die beiden Beteiligten und ihr Umfeld auf jene Nacht blickten.

Auch Karine Tuil behandelte in Menschliche Dinge das Thema des Missbrauchs eingebettet in die Frage nach Machtmissbrauch und Öffentlichem Diskurs in Frankreich. Auf einen solchen Überbau verzichtete Sophie Hardcastle in ihrem Debütroman und erzählte ganz nah an ihrer Protagonistin von einer Vergewaltigung Unter Deck, die sich auf einer Schiffsüberfahrt ereignete. Damit schuf sie ein wirklich gelungenes Buch, das die Erfahrung einer Verarbeitung genauso wie die schwierige Verarbeitung eines solch einschneidenden Erlebnisses erfahrbar macht.

Auch Antje Rávik Strubel stellt nun das Thema der Vergewaltigung in den Mittelpunkt ihres neuen Romans Blaue Frau. Sie erzählt darum herum vom Wunsch nach Gerechtigkeit, politischer Arbeit und der EU-Osterweiterung. Themen, die zunächst vielleicht disparat klingen, im Laufe des Buchs aber doch ganz gut zueinander finden.

Der letzte Mohikaner von Harrachov

Antje Rávik Strubel - Blaue Frau (Cover)

Alles beginnt mit einer Flucht, und zwar der von Adina. Diese hat in einem Hotel in Helsinki Zuflucht gefunden. Dort im Hotel haust sie als Zimmermädchen in einer kleinen Abstellkammer und kämpft mit sich selbst, um einen Vorfall zur Anklage zu bringen. Als sie den EU-Parlamentarier Leonides aus Estland kennenlernt, öffnet sich Adina Stück für Stück. Damit erschließt sich auch für uns Leser*innen langsam die Lebensgeschichte der jungen Frau.

So wächst Adina in Harrachov bei ihrer Mutter auf. Das kleine tschechische Städtchen an der Grenze zu Polen wird in der Wintersaison von Skifahrer*innen überrannt, ansonsten bietet das Leben dort im Schatten des Čertova hora wenig Anreiz für eine junge Frau. Übergriffige Skifahrer, wenig Gleichaltrige und viel freie Zeit, das sind Erfahrungen, die Adina dort macht. Nur im Internet findet sie in Form des Chatforums Rio Ablenkung und kann dort ihre Gefühle artikulieren. Bezeichnend der Name, den sie sich dort selbst gibt, nämlich den des Mohikaners.

Adina entflieht der Einsamkeit dort im Riesengebirge nach Berlin. Die deutsche Großstadt ist der Sehnsuchtsort der jungen Frau. Dort lernt sie Rickie kennen, eine unkonventionelle Fotografin, die Adina fasziniert. Ihr gelingt es mit ihrem Porträt von Adina, die Seele der jungen Frau freizulegen, was diese nachhaltig beeindruckt. Doch wie urban, aufregend und so ganz anders als im tschechischen Riesengebirge das Leben auch sein mag – Adina ist trotzdem auf einen Job angewiesen, um sie über Wasser halten zu können

Ein Übergriff in der Uckermark

Diesen Job vermittelt ihr Rickie in der Uckermark. Dort an der Grenze zu Polen soll eine Art kulturelles Begegnungszentrum entstehen, das den europäischen Osten mit dem Westen in Austausch bringen soll, so die hochtrabenden Pläne des Hausherren Stein. Der ebenso charismatische wie jähzornige und mit durchaus borderlinehaften Zügen ausgestattete Mann stellt Adina für sein Haus ein, wo sie für einen Hungerlohn schuften darf. Während Stein bei Investoren und Delegationen um Unterstützung wirbt, dient ihm Adina als offizielles Gesicht des Projekts, das er gezielt als Instrument zur Überzeugung der Besucher einsetzt. Die junge Frau aus dem Osten Europa ist das Aushängeschild für die künftigen Vorhaben dort in der uckermärkischen Provinz. Mit ihrer Vita soll sie dem Projekt die nötige Glaubwürdigkeit geben, auch wenn sie Stein mit dem Namen „Nina“ dafür noch etwas weiter „ostisiert“.

Doch die Ausnutzung der jungen Frau geht schief, als ein gut vernetzter Politiker das im Entstehen begriffene Projekt besucht. Die bereits zuvor irgendwo zwischen seriösen Verhandlungen und Bunga-Bunga changierenden Gespräche dort im Haus kippen in jener Nacht vollends. Es kommt zu einem Übergriff, der Adina verstummen lässt. Vor Ort glaubt man ihr nicht, schließlich „seien diese Art von Anschuldigungen ja gerade wirklich en vogue“. Unbehelligt verlässt ihr Peiniger den Hof und Adina verstummt. Sie tritt über verschiedene Länder die Flucht in den Norden an, wo sie sich schließlich in einem Plattenbau wiederfindet und wo die Geschichte beginnt.

Ungewöhnliche Erzählweise und vielschichte Gestaltung

Dass die Erfahrung einer Vergewaltigung die Wahrnehmung und das Erinnern durcheinanderwirbelt, das bildet Antje Rávik Strubel in ihrem Buch literarisch geschickt nach. So legt sie den Kern ihrer Erzählung erst langsam frei. Bevor es so weit ist, streift immer wieder die Blaue Frau durch das Buch, die in kleinen Szenen und Einschüben der Ich-Erzählerin begegnet. Ist es Adina, existiert diese Frau überhaupt? Hier verschwimmt alles und ist interpretationsbedürftig.

Auch widersetzt sich Rávik Strubel den Erwartungen und beginnt ihre Geschichte nicht linear. Verschiedene Einsprengsel der Geschichte blitzen immer wieder an verschiedenen Stellen auf, vom Anfang in Helsinki geht es dann erst ins Riesengebirge, bevor die Erfahrungen im Kulturhaus in der Uckermark langsam präziser werden. Mal verschwindet die Blaue Frau aus der Erzählung, dann taucht sie später in hoher Frequenz wieder auf. Erinnerungen werden durcheinanderwirbelt, Gewissheiten verschieben sich, man muss sich erst in die erzählte Welt hineintasten.

Das ist beeindruckend gemacht und zeigt die Unsicherheiten, die Adina aufgrund ihrer Erfahrungen nun zu eigen sind. Ambivalent und nachvollziehbar zeigt die Autorin, wie die Erfahrung und Verarbeitung eines Missbrauchs wirken – und wie sie Menschen verändern können.

Auch mit einer politischen Ebene ausgestattet

Neben der emotionalen Ebene hat das Buch aber auch eine große politische Dimension. Antje Rávik Strubel blickt auf die Sollbruchstelle von Ost- und Westeuropa. Leonides als Parlamentarier bringt diese Ebene mit ins Buch. Adina und ihn verbindet der Blick aus der osteuropäischen Perspektive, die doch so oft gegen den westlich zentrierten Blick und Machtanspruch verliert. Er aus Estland, sie aus Polen, gemeinsam verbunden in der Fremde.

Der schwierige Prozess einer juristischen Aufarbeitung einer Vergewaltigung wird von Antje Rávik Strubel genauso thematisiert wie die Janusköpfigkeit von politischen Gremien, deren Worte und Taten oftmals eklatant auseinanderklaffen. So soll dem Vergewaltiger von Adina am Ende des Buchs der Eeva-Liisa Manner-Preis zuerkannt werden. In der Folge der Vorbereitung kommt es zu einer Debatte, bei der politische und vor allem gesellschaftliche Ressentiments aufeinanderprallen.

Sexuelle Fehltritte unterliefen den Besten, darüber herrschte weitgehend Einigkeit. Würde man anfangen, sich an persönlichen Mängeln zu stoßen, hätte man für den Preis bald keine Kandidaten mehr.

„Der Mann wird für seine Arbeit ausgezeichnet, nicht für sein Gefühlsleben!“, wandte jemand entnervt ein (…). „Solange gerichtlich nichts vorliegt, tangiert uns das doch überhaupt nicht. Sonst könnte in Zukunft jeder kommen, der irgendwas an unseren Preisträgern nicht passt“

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau, S. 414 f.

Das ist vielleicht etwas überdeutlich, transportiert das Anliegen von Antje Rávik Strubel aber auch auf dieser Ebene ganz klar.

Verständlich wird es vollends, wenn die Autorin selbst im Gespräch erklärt, acht Jahre an diesem Buch gearbeitet zu haben und immer wieder auf die Fälle von vergewaltigten Frauen stieß, das sie schließlich so aufgebracht und emotionalisiert habe, dass sie die Arbeit in Blaue Frau eineinhalb Jahr lang ruhen ließ.

Fazit

Das Buch hat einen gesellschaftlichen Anspruch, weiß durch eine genaue sprachliche Gestaltung mit viel Raum für Interpretation zu überzeugen und steht in meinen Augen völlig folgerichtig auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2021. Ein Buch mit persönlicher, gesellschaftlicher und politischer Ebene, ambivalent, relevant, sich ganz klaren Ausdeutung entziehend und diskursbereichernd. Nicht unwahrscheinlich, dass dieses Buch den Sieg in Frankfurt erringen könnte.

Weitere Stimmen zu Antje Rávik Strubels Buch gibt es unter anderem bei Letteratura, Literatur leuchtet und Aufklappen.


  • Antje Rávik Strubel – Blaue Frau
  • ISBN 978-3-10-397101-9 (S. Fischer)
  • 432 Seiten. Preis: 24,00 €
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Richard Russo – Mittelalte Männer

Gehts noch? Einen Roman an dieser Stelle empfehlen, der den mittelalten Mann schon im Titel trägt? Noch dazu, wenn es sich bei dem Mann um einen weißen, überdurchschnittlich privilegierten Mann namens William Henry Deveraux jr. handelt, dem hier fast 600 Seiten gewidmet werden? Wo bleibt die Vielfalt, die weibliche Perspektive, die Geschlechtergerechtigkeit oder der Blick auf marginalisierte Gruppen? Ich meine die Vorwürfe schon fast zu hören, die besonders der Buchtitel in diesen aufgeregten Zeiten provozieren könnte.

Ich finde aber, dass man diesen Roman und seinen Protagonisten unbedingt vorstellen sollte. Denn der Roman ist wunderbar gelungen und absolut auf Höhe der Zeit, trotz der 24 Jahre, die seit dem Erscheinen des Buchs in den USA verstrichen sind. Ein Buch, das mit viel Witz und Freude am Exzess einen Mann in den Mittelpunkt steht, der sich innerhalb weniger Tage zahlreichen veritablen Krisen gegenübersieht.

Chaos an der Uni

Dieser William Henry Deveraux jr., der uns in der Ich-Perspektive aus seinem Leben erzählt, hat eigentlich alles. Eine bezauberende Frau, zwei Kinder, ein abbezahltes Eigenheim und eine Festanstellung auf Lebenszeit als Anglistikprofessor an einer Uni einer Kleinstadt in Pennsylvania. Sorgen sehen anders aus. Und doch gerät innerhalb weniger Tage alles ins Rutschen.

Richard Russo - Mittelalte Männer (Cover)

Seine Frau bricht zu einem außerhäusigen Aufenthalt auf, hinter dem vielleicht mehr stecken könnte. Seine Tochter scheint mit ihrem Ehemann nicht wirklich glücklich zu sein, Geldsorgen drücken das junge Paar. Körperlich spürt Henry auch langsam den Verfall, der Toilettengang wird zum Martyrium. Und auch an seinem Arbeitsplatz, der Universität von Railton, scheinen alle langsam, aber sicher durchzudrehen.

So wird Henry gleich zu Beginn des Buchs bei einer Besprechung der Fachschaft Anglistik von einer Kollegin an der Nase verstümmelt, nachdem diese ihm in einer hitzigen Diskussion statt Argumenten ein Heft mit tückischer Spiralbindung an den Kopf geworfen hat. Doch bei diesem Ausbruch bleibt es nicht. Henry soll aufgrund seines passiven Führungsstil seines Amtes als Fachbereichsleiter enthoben werden. Die Kolleginnen und Kollegen verlangen nach Budgets und sicheren Posten, die Universitätsleitung kann und will keine Gelder freigeben. Henry steht zwischen allen Fronten und pflegt sich alle Probleme mit den Waffen der Ironie und mithilfe von Streichen vom Leib zu halten.

Doch der mittelalte Mann muss erkennen, dass diese Waffen des Humors im Laufe der Zeit doch ganz schön stumpf geworden sind. Da hilft nicht einmal die Drohung, solange jeden Tag eine Ente am universitätseigenen Teich umzubringen, bis sein Etat freigegeben ist. In der Uni brodelt es und Professor Deveraux steckt mittendrin.

Ein Erzähler mit Klasse

Mit Mittelalte Männer zeigt Richard Russo einmal mehr seine Klasse, die ihn zu einem meiner favorisierten amerikanischen Erzähler macht. Ihm gelingt es wie schon in Ein Mann der Tat, ein ganzes Leben auf wenige Tage zu verdichten, in denen alles eine entscheidende Wendung nimmt. Unglaublich plastisch zeichnet er diesen William Henry Deveraux jr. mit all seinen Macken, Fehlern und Scherzexzessen, wobei man in jeder Szene den warmherzigen Blick des Autors auf seinen speziellen Helden merkt.

Was mir an Richard Russo neben seiner Fähigkeit zur plastischen Modellierung seiner Figuren so gut gefällt ist die Tatsache, dass er sich auch vor Slapstick und gnadenloser Blödelei nicht scheut. So lässt er William, von seinem Umfeld auch „Lucky Hank“ genannt, zum Fernsehstar von „Good Morning America“ werden. Auch das gesamte Kollegium verprellt Hank systematisch mit seinen Scherzen und Streichen. Das Buch steckt voller Humor in allen Schattierungen – und ist darüber hinaus mitsamt seiner Bezüge auf Fehlerkultur, das universitäre Leben und gesellschaftliche Analysen höchst aktuell. Dabei wird dieses Buch niemals banal. Eine misslungene Szene oder hakelige Figureneinführungen sind bei Richard Russo Fehlanzeige.

Die Professorinnen und Professoren dort am Lehrstuhl sind allesamt Vertreter bestimmter Strömungen und durch die Bank weg Charakterköpfe. Großartig etwa der Kollege, der Sexismus anprangert und mit seinem Aktivismus für Gleichstellung die Nerven der Mitmenschen erheblich strapaziert, wodurch er sich von Henry den Rufnamen Odersie eingefangen hat. Affären und Eifersüchteleien – in Mittelalte Männer wird die Uni zum Intrigenstadel, gnadenlos ausgeleuchtet durch William Henry Deveraux jr.. In seiner Klarsichtigkeit der Schilderung der universitären Grabenkämpfe ist das bemerkenswert – und hat kein Gran seiner Aktualität eingebüst.

Fazit

Mittelalte Männer ist einmal mehr eine glänzend erzählte Charakterstudie eines Mannes, der ins Schwanken geraten ist. Das Buch hat höchst vielschichtigen Humor zu bieten, unterhält großartig und ist fabelhaft rund, ohne jemals zu belanglos oder seicht zu werden. Nicht zuletzt ist das Buch auch ein Blick durchs Schlüsselloch in den Intrigenstadel namens Universität.

Es war die richtige Entscheidung des Dumont-Verlags, dieses Buch nun 24 Jahre nach Erscheinen in der Übersetzung von Monika Köpfer zu veröffentlichen. Ich freue mich sehr darüber und kann wie stets nur zur Lektüre von Richard Russo raten!


  • Richard Russo – Mittelalte Männer
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-8116-1 (Dumont)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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