Monthly Archives: Februar 2023

Sarah Winman – Lichte Tage

Vincent van Goghs Leben und Werk als Inspiration für ganz unterschiedliche Menschen im Oxford zu Beginn der 90er Jahre. Davon erzählt Sarah Winman in ihrem Roman Lichte Tage auf berührende Art und Weise.


Es ist ein Zufallsfund, den Dora bei einer kleinen Tombola in Oxford zu Beginn 50er Jahren macht. Denn nach dem Ziehen ihrer Losnummer entscheidet sie sich kurzerhand statt des von ihrem Mann präferierten Scotches, einem Radio oder einer Packung Butterkekse für ein Ölgemälde. Ein Fall für „Bares für Rares“ ist das Gemälde allerdings kaum, vielmehr handelt es sich um eine unbedeutende Kopie eines der wohl berühmtesten Gemälde der Kunstgeschichte, nämlich den Sonnenblumen von Vincent van Gogh, die dieser in einigen Variationen in der Provence anfertigte.

Sinnstiftende Sonnenblumen

Für die von Schwangerschaftsübelkeit gepeinigte Dora wird das Bild zu einem Rettungsanker in ihrer wenig freudvollen Ehe. Und auch für ihren Sohn Ellis wird das Bild zu einem Ankerpunkt, den er mit dem kargen und wenig liebevollen Zuhause auch über den Tod seiner Mutter hinaus verbindet.

Sarah Winman - Lichte Tage (Cover)

Er arbeitet als sogenannter Tin Man in der Lackiererei der örtlichen Autofabrik im Schichtbetrieb. Virtuos erkennt er Dellen und schadhafte Stellen in Autokarosserien, die er mit viel Feingefühl und Geschick ausklopft und repariert. 45 Jahre ist er alt, als der Hauptteil des Buchs im Jahr 1996 einsetzt. Ihn umweht ein Gefühl der Melancholie und Einsamkeit, deren Gründe Sarah Winman im Folgenden behutsam erklärt.

Denn Ellis hat nicht nur bereits seine Mutter verloren, auch seine Frau Annie ist bereits vor fünf Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. Mit an Bord des Unfallwagens befand sich auch Michael, ein ganz besonderer Freund für Ellis. Ihre Liebe und die besondere Beziehung zwischen Ellis, Annie und Michael erzählt Lichte Tage, wofür Winman für die Perspektive von Michael die Form eines Tagebuchs wählt, das im November 1989 einsetzt.

Eine besondere Beziehung

So gelingt ihr die Gegenperspektive auf eine besondere Beziehung, die von queerer Liebe, Sehnsucht, nicht erfüllten Begehren und dem Verpassen der richtigen Momente geprägt ist. Man sollte an dieser Stelle nicht viel von der Handlung und ihren sich langsam öffnenden Beziehungsebenen preisgeben, um den Leküregenuss dieses großartigen und emotional eindringlich geschilderten Roman zu schmälern. Aber dennoch lässt sich über das ungewöhnliche Dreiergespann und ihre Geschichte sagen, dass in dieser bittersüßen Erzählung über das Miteinander viel um Nicht-Ausgesprochenes kreist.

Obwohl sich Michael und Ellis schon so lange kennen und dieser als Best Man, also Trauzeuge für die Ehe von Ellis und Annie fungiert, verschwindet er doch wieder spurlos für viele Jahre aus dem Leben der zwei Partner. Was er in dieser Zeit gemacht hat, welche Erfahrungen ihn prägen und was ihn damit mit dem Schöpfer der berühmten Sonnenblumen, Vincent van Gogh, verbindet, das fügt sich mit dem Schicksal von Ellies und Annie zu einem runden Buch, das vom Anfang bis zum Zirkelschluss des Buchs in sich stimmig ist und bleibt.

Nicht zuletzt schafft es Sarah Winman, unkitschig von Liebe, queerem Begehren und Männlichkeitsbildern der verschiedenen Generationen zu erzählen, etwa in den Passagen, die im Oxforder Arbeiterviertel spielen und die das monotone täglichen Tun am Fließband der Autofabrik einfangen (womit Sarah Winman auch an Douglas Stuarts Beschreibung der hypermaskulinen und homophoben Arbeiterwelt Glasgows erinnert). Wie sie Worte findet, mal sonnendurchflutete, mal oxofordgraue Stimmungsbilder malt und drei so unterschiedliche Leben in gar nicht einmal vielen Seiten einfängt, das ist beeindruckend.

Damit ordnet sich Lichte Tage in meinen Augen irgendwo zwischen Polly Samsons Der Sommer der Träumer, John Boynes Cyril Avery und Rebecca Makkais Die Optimisten ein.

Fazit

Auch wenn ich mich persönlich mit Floskeln wie „eindringlich“ und „emotional berührend“ schwertue, da sie gerade durch ihre salzstreuerhafte Verwendung in der Buchwerbung zu Schlagworten geworden sind, die abgenutzt und ungriffig erscheinen, so möchte ich sie im vorliegenden Fall doch ganz bewusst verwenden. Denn das was Sarah Winman mit Lichte Tage schafft, ist dass sie ganz unkitschig von verpassten Chancen, ungelebten Leben und unausgesprochener Liebe erzählt, für die so kein wirklicher Platz vorgesehen ist.

Ein Buch, das zu Herzen geht, das aufgrund seiner Kompositionsstruktur auch bei einer wiederholten Lektüre neue Blicke eröffnet und das in meinen Augen als wirklich gelungen zu bezeichnen ist. Eine große Empfehlung!


  • Sarah Winman – Lichte Tage
  • Aus dem Englischen von Elina Baumbach
  • ISBN 978-3-608-12034-9
  • 232 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen

Vor vier Jahren sorgte die Nachricht der damals frischberufenen Leiterin des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar für Aufsehen, als diese verkündete, man wolle künftig auch Computerspiele sammeln und bewahren. Eine überfällige Entscheidung, wie es die SZ nannte, sind Computerspiele doch längst Kulturgut, die in unserer Gegenwart eine größere Breitenwirkung entfalten als so manches Buch. Dass nicht nur die Computerspiele selbst Geschichten zu erzählen haben, sondern auch die dahinterstehenden Entwickler*innen, das zeigt Gabrielle Zevin in ihrem neuen Roman Morgen, morgen und wieder morgen. Dieser erzählt von der Entstehung eines Spieleentwicklerstudios und den kreativen Köpfen dahinter, deren Verhältnis sich sehr komplex gestaltet.


Alles beginnt mit einem ikonischen Videospiel, nämlich Super Mario Brothers. Dieses Spiel zockt der junge Sam Masur in einem Krankenhaus in Los Angeles, als er dort auf Sadie Green trifft, deren Schwester dort ebenfalls im Krankenhaus zur Behandlung ist. Beide Kinder freunden sich über das Videospiel an, da sich Sam als Virtuose an den Controllern erweist. Ihm gelingt es, seine Super Mario-Figur auf der Spitze der Fahnenstange landen zu lassen. Ein Trick, den Sadie bislang noch nirgends beobachtet hat – und der zum Ausgangspunkt der Beziehung der beiden wird.

Sam befindet sich aufgrund eines schweren Autounfalls im Krankenhaus. In den Hügeln Hollywoods kam es zu diesem Unglück, bei dem seine Mutter starb und Sam eine schwere Verletzung am Fuß davontrug. Verletzungen, die ihn zeit seines Lebens zeichnen und belasten werden.

Pflegerinnen und Ärzte fanden bislang kaum Zugang zu ihm – doch im gemeinsamen Spiel mit Sadie kann sich Sam öffnen. Und auch Sadie profitiert, bekommt sie doch für die gemeinsame Zeit mit Sam für ihr soziales Engagement im Rahmen ihrer Bat Mizwat Punkte gutgeschrieben.

Komplexe Dynamiken

Gabrielle Zevin - Morgen, morgen und wieder morgen (Cover)

Doch schon in dieser Frühphase der beiden Kinder an der Schwelle zum Erwachsenenwerden zeigen sich komplexe Dynamiken. Denn nachdem Sam herausfindet, dass das gemeinsame Videospielen Sadie auch zur Auffüllung ihres Punktekontos für die Bat Mizwat diente, erleidet das Verhältnis der beiden einen Riss und wird erst später wieder vom anfänglichen Vertrauen geprägt sein.

Auch das Verhältnis Sadies mit einem verheirateten Dozenten im Rahmen ihres Studiums der Spieleentwicklung in Harvard ist nicht dazu angetan, das Zusammenwirken der beiden jungen Menschen zu vereinfachen, im Gegenteil. Von ihrem Geliebten kommt die junge Studentin auch im Folgenden nicht wirklich los. Spätestens, als die beiden im Rahmen der Entwicklung ihres ersten gemeinsamen Computerspiels Ichigo diesen als Entwickler und Zulieferer für ihre Grafikengine einbinden, entsteht hier eine komplexe Gemengelage, in der im Folgenden auch noch Marx mitmischen wird, der vom verständnisvollen Mitbewohner Sams zum Unterstützer und Manager des Entwicklerduos werden wird.

Während Sam und Sadie Spiele entwickeln, sich stets um die künstlerische Ausrichtung streiten ist es im Folgenden Marx, der die beiden zusammenhält und als Produzent Unfair Games, so der Name der Spieleschmiede, für das Funktionieren des komplexen Trios sorgt, bis ein Zwischenfall das bisher gekannte Miteinander völlig auf den Kopf stellt.

Ein Roman aus der Welt der Entwicklerstudios

Gabrielle Zevin, die bislang in Deutschland eher mit Jugendbüchern und (zumindest in der deutschen Aufmachung) recht kitschig aufgemachten Romanen in Erscheinung trat, gelingt hier ein spannendes Buch, das sowohl in der beschriebenen Thematik als auch in seinem Personal durchaus überzeugen kann.

So gibt es Romane über Videospiele inzwischen häufig – aber ein Roman, der die Welt der Entwicklerstudios spielt und die Arbeit des Spieleerfindens und die Realisation der digitalen Welten beschreibt, das ist doch (zumindest für mich) neu.

Zevin zeigt, wie sich seit den Anfangstagen die Spiele fortentwickeln, die Grafiken, Spielmechaniken und Ansprüche der Spiele ausgefeilter werden, Gewissensentscheidungen und komplexe Abwägungen in die Titel hineinfinden – was sich auch im Verhältnis von Sadie, Sam und Marx spiegelt, das im Lauf des Buchs in dem Maße an Wucht und Dramatik gewinnt, wie auch ihre entwickelten Spiele ambitionierter und populärer werden.

Dabei gelingt es der Autorin auch, mit Erzähleinfällen zu überraschen und neue Blickwinkel zu eröffnen.

Ist es zu Beginn der Dozent und Liebhaber von Sadie, der erbarmungslos alle von den Student*innen vorgestellten Titel verreißt und aburteilt, wenn sie ihn nicht überraschen und Neues bieten, so sieht sich das Buch selbst zunächst diesem Vorwurf der linearen Vorhersehbarkeit ausgesetzt.

Aber spätestens ab der Hälfte des Buch gelingt es Gabrielle Zevin dieses Forderungen auch für ihr Buch selbst umzusetzten und die Leser*innen emotional einzubinden (obgleich so manche der vielfach geschilderten Anziehung und Abstoßung, Depressionen und körperliche Pein des Schmerzenmanns Sam und der Schmerzenfrau Sadie dann doch auch etwas an exzessive Prosa Hanya Yanagiharas erinnern).

Bis zur Mitte schnurrt dieser geschmeidig erzählte Roman durchaus vor sich hin, bietet aber wenig Überraschendes oder Neues – was sich dann spätestens ab dem oben erwähnten Zwischenfall ändert. Ab hier kann Gabrielle Zevin mit eigenen Erzähleinfällen überzeugen, wagt ungeahnte Perspektivwechseln und probiert sich am Ende sogar an der Erzählform eines Computerspiels aus, das sie organisch in die Rahmenhandlung einbettet.

Ein bisschen von diesem inszenatorischen Mut der zweiten Hälfte hätte man auch dem ersten Teil von Morgen, morgen und wieder morgen gewünscht.

Aber auch so ist dieser Roman über die erzählten Inhalte hinaus eine gelungene Reflektion über die eigene Vergänglichkeit und die Möglichkeiten, die ein Computerspiel bieten kann und das, was Spiele mit uns machen.

„Was ist ein Spiel“ fragte Marx. „Es ist morgen, morgen, und wieder morgen. Die Möglichkeit einer unendlichen Wiedergeburt und unendlichen Erlösung. Die Vorstellung, dass du, solange du weiterspielst, gewinnen kannst. Kein Verlust ist von Dauer, denn nichts ist von Dauer, niemals.“

Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen, S. 471

Denn dass die Endlichkeit schneller auf uns wartet, als es ein Computerspiel mit seiner Illusion der Unsterblichkeit vorgaukelt, dass weiß nicht nur Banquos Geist in Shakespeares Hamlet (dem auch der Buchtitel entlehnt ist). Das weiß auch die Dichterin Emily Dickinson, die zur Inspirationsquelle für Sadie wird und das weiß und zeigt auch Gabrielle Zevin in ihrem Roman mit der Wucht jener großen Welle des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai, die nicht nur das Cover des Buchs ziert, sondern auch Sadie und Sam Anregungen für die Entwicklung ihrer ersten Spiele gibt.

Fazit

Mit Morgen, morgen und wieder morgen gelingt Gabrielle Zevin ein souverän erzählter Roman, der von den Illusionen der Unsterblichkeit, von komplexen Beziehungen und von den Mühen der Spieleentwicklung erzählt. Sie stellt ein komplexes Figurendreieck in den Mittelpunkt ihres Romans und weiß vor allem in der zweiten Hälfte des Romans mit originellen und überraschenden Erzähleinfällen zu punkten, was aus Morgen, morgen und wieder morgen somit eine empfehlenswerte Lektüre macht!


  • Gabrielle Zevin – Morgen, morgen und wieder morgen
  • Aus dem Englischen von Sonia Bonné
  • ISBN 978-3-8479-0129-7 (Eichborn)
  • 560 Seiten. Preis: 25,00 €
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Percival Everett – Die Bäume

Was, wenn es plötzlich Rache gäbe für die vielen Lynchmorde, die speziell in den Südstaaten der USA tausendfach stattfanden? Percival Everett spielt es in seinem Roman Die Bäume durch – erreicht damit aber leider nicht die Klasse, die mich in Erschütterung so für ihn einnahm.


Money, Mississippi, sieht genauso aus, wie es sich anhört. Hervorgegangen aus jener hartnäckigen Südstaatentradition von Ironie im Verein mit der dazugehörigen Tradition von Unwissenheit, bekommt der Name etwas Trauriges, wird zum Kennzeichen befangener Ignoranz, die man sich ebenso gut zu eigen machen kann, denn, mal ganz ehrlich, sie wird nicht weggehen.

Percival Everett – Die Bäume, S. 11

Tief in den Süden der USA führt der neue Roman von Percival Everett, der mit einem brutalen Mord beginnt. So wird der lokale Sheriff zum Haus von Junior Junior Milam gerufen, wo er dessen aufgelöste Witwe vorfindet. Beim Betreten des Tatorts findet er zwei Leichen vor. Der mit Stracheldraht erdrosselte, geschlagen und misshandelte Leichnam Junior Juniors inklusive einem ausgestochenen Auge und abgeschnittenen Hoden – und daneben die Leiche eines Schwarzen im Anzug, der ebenfalls viele Spuren grober Gewaltanwendung trägt.

Percival Everett - Die Bäume (Cover)

Doch als die Leichen der beiden Toten ins lokale Leichenhaus verbracht werden sollen, kommt es zu einer ersten Unregelmäßigkeit. Denn obschon in beiden Leichen nicht weniger Leben sein könnte, als es ganz offensichtlich der Fall ist, verschwindet die Leiche des jungen Schwarzen nach ein paar Stunden spurlos aus dem eigentlich zur Aufbewahrung vorgesehenen Kühlfach. Ein Rätsel, weisen doch keine Spuren auf einen Einbruch oder ein mutwilliges Entfernen des anonymen Mannes aus dem Leichenhaus hin.

Zusehends kompliziert wird die Lage, als es wenig später dort in Money zu einem zweiten Mord kommt, wieder mit dem gleichen Modus Operandi. Auch der zweite Tote wurde brutal misshandelt, auch er trägt Spuren einer Stacheldrahtschlinge am Hals, auch ihm fehlen die Hoden, die ihm ausgerissen wurden.

Doch neben der Synchronizität der Ereignisse verblüfft vor allem die Tatsache, dass auch neben ihm wieder ein junger Schwarzer im Anzug liegt. Ebenjener Schwarze, der wenige Stunden zuvor noch tot in die Leichenhalle eingeliefert wurde. Spätestens als dieser wieder aus einem diesmal abgeschlossenen Transportwagen bei voller Fahrt verschwindet, schwant nicht nur dem lokalen Sheriff, dass das etwas gewaltig schiefläuft. Was geht dort in Money vor sich?

Die Bäume im Süden tragen seltsame Früchte

Schnell wird klar, dass diese Vorkommnisse die Kompetenz der Hinterwäldlermannschaft rund um Sheriff Jetty haushoch übersteigt. Und so machen sich die beiden Ermittler Ed und Jim in den Süden auf, um im Auftrag des MBI die Morde rund um den scheinbar wieder auferstandenen toten Mörder zu lösen.

Sie stoßen auf ein Nest völlig skurriler bis gefährlicher Figuren, wie es sich die Coen-Brüder nicht besser hätten ausgedacht haben können. Schnell stellen die schwarzen Ermittler Ed und Jim fest, dass der Rassismus dort im Landstrich nicht nur ein Phänomen vergangener Tage ist. Denn die Bäume dort tragen auch heute noch Früchte, die nicht unbedingt pflanzlicher Natur sind, wie es an einer Stelle im Roman heißt, in der eine Frau einen hypnotischen Song über die Sklaverei vorträgt.

Southern trees bear strange fruit
Blood on the leaves and blood on the root
Black bodies swinging in the Southern breeze
Strange fruit hanging from the poplar trees

Percival Everett – Die Bäume, S. 266

Dass müssen auch die beiden Ermittler erkennen, spätestens als sie dort in Mississippi die Bekanntschaft mit Mama Z machen, einer hochbetagten Dame, die sich der Dokumentation von Lynchverbrechen gewidmet und alle Spuren von Lynchjustiz in einem privaten Archiv zusammengetragen hat und die das Andenken an die Taten bis heute bewahrt. Möglicherweise liegen auch hier die Gründe, warum es auch in der Folge des Buchs immer wieder zu brutalen Morden mit der gleichen Tatortanordnung kommt, wie sie sich im Lauf des Buchs immer häufiger und schneller ereignen.

„Würde einer von Ihnen mir sagen, was Sie gesehen haben?“, fragte sie.

„Fakt ist, dass wir gar nicht so viel gesehen haben. Aber wenn man den Leuten hier glaubt, dann läuft in dieser Gegend ein übel zugerichteter und wahrscheinlich toter Schwarzer frei herum, der weiße Jungs mit zweifelhafter Vorgeschichte umbringt.“

„Oh.“

„Sehen Sie, was passiert, wenn man Fragen stellt?“, sagte Jim

Percival Everett – Die Bäume, S. 122

Eine Mischung, die nicht aufgeht

Dabei lässt mich die Geschichte von Percival Everett zugegebenermaßen etwas ratlos zurück. Denn was zunächst wie ein handelsüblicher Krimi im rassistischen Hinterland Mississippis beginnt, wandelt sich bald zu einer etwas unentschlossenen Melange aus Ermittlerkrimi, skurriler Figurenparade, Rachefantasie und Rassismus-Beschau voller rasssistischer Sprache, auch auf Seiten der Ermittlungsbehörden.

Ku-Klux-Klan-Zusammenkünfte, brennende Kreuze, Weiße, die den Namen Wesley Snipes tragen, Erinnerungen an den Lynchmord an Emmett Till, mittendrin das aktivistische Gedenken an die tausenden Opfer der Lynchmorde (die mit einer seitenweisen Aufzählung prominent auf die Bühne geholt werden, dann wieder das schwarze MBI-Duo Ed und Jim mit ihrer Anlage zur Buddy-Cop-Comedy, die sich ausweitenden Morde an Weißen nach immergleichen Muster, die bald schon in andere Landesteile überschwappt und andere Ermittler*innen und Forschende inkludiert – und dann auch noch eine etwas müde Donald-Trump-Parodie, der nach der Ermordung eines seiner Minister seinen Rassismus prominent auf großer Bühne ausleben darf.

Wo wollte Percival Everett mit Die Bäume hin? Ich kann es nach der Lektüre nicht wirklich sagen und stehe untentschieden und etwas ratlos vor dem (durch die hohe Kapiteltaktung sehr schnell und gut lesbaren) Roman.

Zwischen Splatter und Rassismusrevanche

Gerade das, was mich an Erschütterung so für seine Prosa eingenommen hat, nämlich das nuancierte Bild eines Professors im freien Fall, das mir sehr naheging, all das vermisse ich an dieser für meine Begriffe recht plumpen Splatterfantasie und Rassismusrevanche im großen Stil. Wo sein Held Zach Wells im vorhergehenden Buch im Gespräch mit Studenten differenziert seine eigenen Erfahrungen mit Rassismus ergründete und sich selbst hinterfragt, da bleibt für solche Feinheiten in Die Bäume kein Platz.

Hier haut Everett mit großer Wucht auf die Zwölf, mordet, meuchelt und hetzt sein dauerfluchendes Personal durch den völlig unkonturierten, dafür umso brutaleren Plot inklusive Horroranleihen. Warum kommt es zu den Morden, was hat sie ausgelöst, was will die Mordserie mit ihrer Brutalität außer Revanche für das vor Generationen erlittene Leid sagen? Was hat es mit einem verschwundenen Transporter mit Leichen auf sich, der zwar eine Rolle spielt, dann aber auch wieder schnell ad acta gelegt wird? Wer steckt wirklich hinter den Morden?

Percival Everett deutet hier verschiedene Möglichkeiten an, entzieht sich dann aber einer wirklichen Deutung oder Ausgestaltung der möglichen Ideen, da das Buch auch nach der inkrementalen Gewalt plötzlich abreißt und mich nach dem schnellen und sehr wilden Ritt einfach stehen lässt.

Fazit

Ich konnte für mich keine wirklich stringente und schlüssige Ausdeutung des Ganzen ausmachen und bleibe – wie schon erwähnt – ratlos ob dieser Tarantino/Faulkner/Stephen King-Mischung irgendwo zwischen Horror, Rassismuskritik, Satire und brutaler Schlachtplatte zurück, der ein bisschen mehr von der gestalterischen Genauigkeit gutgetan hätte, die Percival Everett in Erschütterung bewies.

Auch angesichts der Nominierung für den Booker-Prize für mich eine sehnlich erwartete Lektüre, die dann doch eher Ernüchterung denn Begeisterung zurückließ.


  • Percival Everett – Die Bäume
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27625-3 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 26,00 €
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Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume

In letzter Zeit hat es sich Jean-Christophe Grangé etwas leicht gemacht. Was in den vergangenen beiden Jahren unter dem Titel Die letzte Jagd (2021) und Tag der Asche (2022) erschien, waren nur auf den ersten Blick neue Romane des französischen Thriller-Großmeisters. In Wahrheit handelte es sich „nur“ um in Romanform umgearbeitete Drehbücher, die bereits als Filme im Rahmen der Reihe Die purpurnen Flüsse zu sehen waren, zu denen Grangé die Drehbücher verfasste.

Nun liegt mit Die marmornen Träume wieder ein originärer Thriller vor, mit dem Grangé zum ersten Mal historisches Terrain betritt, und zwar nicht irgendeines. Vielmehr wählt er sich wie seine Kollegen Philipp Kerr oder Volker Kutscher das Dritte Reich als Kulisse seines Thrillers. Ein gewagter Entschluss, wie ihn in dieser schriftstellerischen Konsequenz hier vielleicht auch nur ein Nicht-Deutscher schreiben kann, handelt es sich doch um vermintes Gebiet, das viele Fallstricke bereithalten kann.

Die Morde an den Adlondamen

Tatsächlich macht es sich Grangé auch nicht leicht, indem er einen Widerstandskämpfer oder Opponenten des Systems zur handelnden Figur macht. Sein Protagonist Simon Kraus ist ein wirklicher Opportunist, der sich im Dritten Reich an den sogenannten „Adlondamen“ schadlos hält.

Diese Adlondamen treffen sich Nachmittag für Nachmittag im legendären Luxushotel und geben sich auch in Simons Praxis in der Nähe des Potsdamer Platzes die Klinke in die Hand. Er analysiert, erpresst und verführt die Damen reihenweise, die allesamt beste Verbindungen zur Elite der Nationalsozialisten haben.

Kraus genießt dieses riskante Spiel, ist die Psychoanalyse den Nationalsozialisten alleine schon aufgrund ihres jüdischen Begründers Sigmund Freud ein Dorn im Auge. Aber durch seine Beziehungen zu den Adlondamen und seinem umfangreichen Kompromats, das er in seiner Praxis gesammelt hat, fühlt sich Kraus sicher und spielt – auch verleitet durch sein im Gegensatz zu seinem Körperwuchs wahrlich nicht kleines Ego – ein riskantes Spiel.

Jene Verbindung zu den Adlondamen ist es, die ihn in den Fokus des SS-Hauptsturmbannführeres Franz Beewen geraten lässt. Dieser wird von seinen Vorgesetzten mit der Aufklärung eines brutalen Mordes an einer ebenjener Adlondamen betraut, mit der Simon Kraus eine Affäre pflegte. Die Frau selbst hat man brutal ausgeweidet und ohne ihre Schuhe auf der Museumsinsel in Berlin gefunden. Die erfolgversprechendste Spur scheint die eines rätselhaften Marmormannes zu sein, der der Dame kurz vor ihrem Tod im Schlaf erschien.

Auf der Jagd nach dem Marmormann

Jean-Christophe Grangé - Die marmornen Träume (Cover)

Bei diesem Mord wird es nicht bleiben. Im Bereich des Tiergartens und im Bereich des Bärenzwingers im Köllnischen Park in Berlin findet die Polizei weitere Leichen. Auch sie waren Teil der Adlondamen und pflegten mit Simon eine Affäre. Und auch sie berichteten beide von jenem Mamormann, der ihnen in den Träumen erschien.

Nachdem es so etwas wie Serienmörder in einem durchgeregelten Reich wie dem der Nationalsozialisten nicht geben darf, insbesondere, wenn sich dieser an der Haute volée des Dritten Reichs vergeht, muss der an Ptosis leidende Beewen nun also liefern und den Mörder zur Strecke bringen. Dafür tut er sich mit Simon zusammen, der überzeugt ist, den Mörder durch das Unterbewusstsein seiner Patientinnen zu finden.

Verstärkung finden sie durch die Dritte im Bunde, die adlige Analytikerin Minna von Hassel, die vor den Toren Berlins die Nervenheilanstalt Brangbo leitet, wo zahlreiche Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt werden. Sie findet in den Unterlagen zu ihrer Forschung eines erste erfolgsversprechende Spur, die sie zur Identität des Marmormannes führen könnte.

Ein typischer Grangé

Die marmornen Träume ist ein typischer Roman von Jean-Christophe Grangé, der alle Elemente aufweist, die die Thriller des Franzosen so besonders machen. Da ist zunächst die überbordende Fantasie, die sich nicht nur in der Länge des Buchs von fast siebenhundert Seiten niederschlägt. Höchst detailliert lässt er das Berlin des Jahres 1939 wieder auferstehen. Von den letzten queeren Clubs am Nollendorfplatz über die Filmstudios Potsdam-Babelsberg bis hin zu den Kellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8 oder dem Kriegsinvalidenaufmarsch vor dem Rathaus Reinickendorf spannt Grangé seinen Bogen, der das architektonische Berlin seiner Zeit genauso wie die damaligen (Sub-)Kulturen noch einmal auferstehen lässt.

Nun bin ich weder Fachmann für die Historie des Dritten Reichs, noch für die Berliner Stadtgeschichte – die große Detailtiefe und Beschreibungskraft von Jean-Christophe Grangés Noir-Fantasie von Film über Kunst bis hin zu Abläufen innerhalb des SS-Apparats fällt hier aber wirklich ins Auge (wozu ich persönlich gerne auch weitere Informationen über Recherche oder Quellen für seine Arbeit erhalten hätte. Hier aber schweigt sich der Autor aus und gönnt dem Roman noch nicht einmal eine Danksagung.)

Kreativität und Brutalität

Typisch ist dieser Grangé neben aller Detailtiefe und Fantasie aber auch wieder in Sachen Brutalität. Der Mörder, der die Bäuche seiner Opfer ausweidet. Die Pogrome, die Gewalt gegen Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung und die Brutalität der Ermittlungen schildert Grangé detailliert und manchmal geradezu voyeuristisch. Immer wieder blitzt diese Gewalt in die Ermittlungen hinein, verstört und lässt zurückzucken. Übertrieben ist dies alles allerdings leider nicht, blickt man etwa auf die Forschungen Josef Mengeles, der hier im Buch einen ziemlich deutlichen Doppelgänger erhält, dem allerdings ein anderes Ende als dem historischen Vorbild beschieden ist.

Wer die Grangé-typische Gewalt und das Setting abkann, das hier deutlich mehr als nur Kulisse, sondern vitaler Teil dieses Buchs ist, der bekommt einen hochspannenden Roman zu lesen, bei dem nicht nur erfahrenen Krimileser*innen schwanen dürfte, dass mit der Unschädlichmachung des Täters etwa in der Mitte dieses Thrillers die Tätersuche natürlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob es den Epilog mit seiner letzten Wendung oder manch comcihaften und überzeichneten Zug seiner Figuren dann unbedingt noch gebraucht hätte.

Fazit

So oder so gelingt es Jean-Christophe Grangé mit diesem düsteren Ausflug in die Historie, in Sachen Kreativität, Ambition und erzählerischem Sog an Glanztaten vergangener Tage wie etwa die Kongo-Dilogie (Purpurne Rache und Schwarzes Requiem) oder Das Herz der Finsternis anzuknüpfen. Sein gewaltgesättigter Thriller, in dem die Brutalität immer wieder durchblitzt, ist wirklich schmutzig und Noir pur.

In Die marmornen Träume inszeniert ein düsteres Berlin, das hier zu keinem Zeitpunkt wie ein Kulissenfilm wirkt, vielmehr gelingt es ihm, die Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und mitsamt unzähliger Schauplätze zum Leben zu erwecken. Dabei schreckt er auch nicht vor der Wahl von SS-Hauptsturmführer oder Anstaltsleiterin als erzählerischen Figuren zurück. Eine Gratwanderung, die man Grangé als als Franzose sicherlich eher nachsieht als deutschen Autor*innen.

Für mich funktioniert die Mischung, die mich in ihrer ganzen Opulenz, Spannung, Komplexität, Brutalität und Zeitkolorit sehr eingenommen hat. Zudem bin ich wirklich interessiert, ob und mit welchen Ansätzen dieser Thriller hier am Schauplatz und Täterland diskutiert werden wird. Man darf gespannt sein.


  • Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume
  • Aus dem Französischen von Ina Böhme
  • ISBN 978-3-608-50171-1 (Tropen)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €
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Akiz – Die Königin der Frösche

Märchen, ein Fall für Kinder? Mitnichten, wie der Schriftsteller Achim Bornhak alias AKIZ in seinem Roman zeigt. Nach der Welt der Küche und Spitzengastronomie wendet er sich nun in Die Königin der Frösche dem Märchen des Froschkönigs zu und interpretiert es deutlich düsterer, als man es aus seiner Kindheit noch in Erinnerung haben dürfte.


Der Froschkönig, war das nicht dieses Märchen mit dem Mädchen, dem beim Spielen die goldene Kugel in den Teich fiel und dann einen Frosch als Entlohnung der Kugelrettung küsste, der sich anschließend in einen Prinz verwandelte? In AKIZ‘ Version ist das Ganze deutlich dunkler und weitab von Disney- oder Märchenstundenromantik. Bei ihm befinden wir uns im Erlensteiner Tal, wohin Friedrich von Waidhofenstein mit Gefolge reist.

Im düsteren Erlensteiner Tal

AKIZ - Die Königin der Frösche (Cover)

Wir schreiben das Jahr 1799, die letzten Tage des Jahrhunderts sind angebrochen, das 19. Jahrhundert, es steht bereits an der Schwelle. Doch dort im Erlensteiner Tal wirkt noch vieles wie aus dem Mittelalter, spätestens wenn die Kutsche des Fürsten einfährt, um in der Burg des Herzogs auf Brautschau zu gehen. Dort will er die junge Ragna freien, die Tochter des dortigen Herzogs. Sie ist es, die er als potentielle Braut für den Geschlecht derer von von Waidhofenstein ausersehen hat.

Der Vater des Fürsten liegt im Sterben und erwartet einen Erben, den ihm nun endlich sein Sohn schenken soll. Die anderen beiden Schwestern von Ragna scheiden als Bräute aus (zu dick beziehungsweise zu alt, so die Ansicht der Beteiligten). Und so liegt es an der grazilen Ragna, sich mit dem Fürsten zu vermählen. Doch bis dies soweit ist, geschieht Entscheidendes, das AKIZ gleich an den Beginn seines Romans setzt.

Denn nach einer Art Ohnmachtsanfall erlebt die junge Ragna eine wundersame Szene. Sie sieht sich in einer Szene an einem Waldteich, wo sie sich einem Tempel voller Kröten nähert. Eine Kröte dort am Teich springt nicht davon, vielmehr nähern sich die beiden an. Ragna küsst diese, ehe sie aus ihrer Umnachtung wieder erwacht.

Der Mann aus dem Forst

Was ein Traum hätte bleiben können, bekommt plötzlich doch eine beunruhigende Entsprechung im echten Leben, als dort am Herzogshof ein wilder Mann aus dem Forst aufgetrieben wird, der wie ein Bruder von Kaspar Hauser wirkt. Sprechen kann er nicht, der Körper und der Hals sind verformt, die Umgangsformen quasi nonexistent. Das macht ihn zum interessanten Versuchsobjekt für den verwöhnten und gelangweilten Friedrich von Waidhofenstein, der den jungen Mann bis zum anstehenden Andreastag dressieren und bilden will. An diesem Tag der Jagd will er einen „normalen“ Menschen präsentieren, der an der traditionellen Jagd des Fürstengefolges teilnehmen soll.

Während der verwirrte junge Mann vom Fürstensohn malträtiert wird, fühlt sich Ragna auf seltsame Art und Weise zu dem Unbekannten aus dem Wald hingezogen, spätestens als sie sich am Brunnen der Burg begegnen.

Doch als ich am Brunnen saß, alleine, nur wenige Ellen von dem Jungen entfernt, und er mich anstarrte, als hätte er Witterung aufgenommen, da war mir mit einem Male ein wenig ungeheuerlich zumute, doch gleichwohl aufregend und geradezu so, als würden Ameisen durch meinen Geist krabbeln.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 96

Animalische Verwandlungen

Doch nicht nur in Sachen des jungen Mannes unbekannter Herkunft bemerkt Ragna eine Veränderung ihrer Gedanken und Überlegungen. Auch an sich selbst entdeckt sie neue Facetten. So wecken wie einst in Bram Stokers Dracula beim Charakter Renfield nun auch bei ihr Insekten einen ganz besonderen Appetit, zum Erschrecken ihres Umfelds.

Doch gleichwohl scheint es dem Fürsten gänzlich entgangen zu sein, dass die herzogliche Infantin ihrerseits immer ungezähmter wirkt. Neulich, da habe ich sie gesehen, wie sie ein Insektengetier mit ihren Fingern gefangen und es sich in den Mund gesteckt hat, als wäre der Teufel in sie gefahren, geliebtes Lottchen, stell dir das vor. Dem Fürsten habe ich aber nichts erzählt, zu sehr hätte es ihn aus der Fassung gebracht, und was ist es meine Angelegenheit, ihn darauf aufmerksam zu machen, was für ein gottloses Gör er sich mit der herzoglichen Tochter einzuhandeln droht.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 124

Multiperspektivisch erzählt Akiz in Briefen und Niederschriften von der Wandlung Ragnas hin zu einer zunehmend von der Naturwelt des Waldes und dem unbekannten Wilden angezogenen Frau. Während sie immer animalischer wird, versucht der Fürstensohn in einer gegenläufigen Bewegung den Wilden aus dem Wald zu zähmen und zu erziehen. Davon berichtet Ragna, der Fürst an seinen Vater – und auch andere Figuren wie etwa Jörn im obigen Beispiel erzählt von den Entwicklungen in Briefen an seine Frau.

Das ist nicht immer wirklich leicht durchdringbar, da sämtliche Figuren und Schreiber*innen in nur leichten Abweichungen das gleiche historisierende Vokabular nutzen, mit denen sie Akiz ausstattet.

Er erzählt eine Art „Neo-Märchen“, wie es auch beispielsweise Stefan aus dem Siepen mit seiner Erzählung Das Seil tat. Wir haben es mit einer Erzählung zu tun, die über ihren reinen Inhalt hinaus eine vielgestaltige Interpretation erlaubt. So ist AKIZ‘ düstere Neudeutung in meinen Augen eine Fabel, die von männlicher Gewalt und einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte erzählt, wie sie in dieser Art auch zuletzt in Monique Roffeys Die Meerjungfrau von Black Conch zu lesen war. Während bei ihr der klassische Anders’schen Märchenstoff als Grundlage diente, ist es hier eben das Märchen der Gebrüder Grimm. Beiden Neuerscheinungen ist eine ebenso realistisch und wenig optimistisch Ausdeutung des tradierten Stoffes gemein.

Fazit

Hier birst am Ende niemandem das Herz vor schierer Freude, wie es dem Heinrich im ursprünglichen Märchen der Grimms widerfuhr. Vielmehr flieht hier der Fürstensohn in Hast und tiefem Schrecken mit seiner Kutsche wie einst auch Jonathan Harker von der Burg des Grafen Dracula. Nicht nur in diesem Abgleich mit der inzwischen glattpolierten und gefälligen Märchenvorlage nach den Gebrüdern Grimm zeigt sich, dass Die Königin der Frösche nur wenig gemein hat mit der romantisierten Märchenwelt der Grimms, sondern vielmehr auch dem Horrorpotential von Tier- und Waldeswelt nachspürt.

AKIZ als Romanautor ist eine mehrperspektivische Neuinterpretation des Stoffs gelungen, die von tierischer Urkraft im Menschen erzählt, die Domestizierungsversuchen eine Abfuhr erteilt und die in ihrer Düsterkeit sicherlich auch eine Geschmacksfrage ist.

Ob dieses Neo-Märchen eine ähnlich große Fangemeinde wie die Ursprungswerke der Gebrüder Grimm hinter sich versammeln kann, dass darf man bezweifeln. Dennoch ein höchst originelles und außergewöhnliches Werk in der aktuellen Literaturlandschaft, das düster von Verwandlungen vom Menschlichen ins Tierische und umgekehrt erzählt.


  • Akiz – Die Königin der Frösche
  • ISBN 978-3-446-27645-1 (Hanser blau)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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