Category Archives: Historischer Roman

Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume

In letzter Zeit hat es sich Jean-Christophe Grangé etwas leicht gemacht. Was in den vergangenen beiden Jahren unter dem Titel Die letzte Jagd (2021) und Tag der Asche (2022) erschien, waren nur auf den ersten Blick neue Romane des französischen Thriller-Großmeisters. In Wahrheit handelte es sich „nur“ um in Romanform umgearbeitete Drehbücher, die bereits als Filme im Rahmen der Reihe Die purpurnen Flüsse zu sehen waren, zu denen Grangé die Drehbücher verfasste.

Nun liegt mit Die marmornen Träume wieder ein originärer Thriller vor, mit dem Grangé zum ersten Mal historisches Terrain betritt, und zwar nicht irgendeines. Vielmehr wählt er sich wie seine Kollegen Philipp Kerr oder Volker Kutscher das Dritte Reich als Kulisse seines Thrillers. Ein gewagter Entschluss, wie ihn in dieser schriftstellerischen Konsequenz hier vielleicht auch nur ein Nicht-Deutscher schreiben kann, handelt es sich doch um vermintes Gebiet, das viele Fallstricke bereithalten kann.

Die Morde an den Adlondamen

Tatsächlich macht es sich Grangé auch nicht leicht, indem er einen Widerstandskämpfer oder Opponenten des Systems zur handelnden Figur macht. Sein Protagonist Simon Kraus ist ein wirklicher Opportunist, der sich im Dritten Reich an den sogenannten „Adlondamen“ schadlos hält.

Diese Adlondamen treffen sich Nachmittag für Nachmittag im legendären Luxushotel und geben sich auch in Simons Praxis in der Nähe des Potsdamer Platzes die Klinke in die Hand. Er analysiert, erpresst und verführt die Damen reihenweise, die allesamt beste Verbindungen zur Elite der Nationalsozialisten haben.

Kraus genießt dieses riskante Spiel, ist die Psychoanalyse den Nationalsozialisten alleine schon aufgrund ihres jüdischen Begründers Sigmund Freud ein Dorn im Auge. Aber durch seine Beziehungen zu den Adlondamen und seinem umfangreichen Kompromats, das er in seiner Praxis gesammelt hat, fühlt sich Kraus sicher und spielt – auch verleitet durch sein im Gegensatz zu seinem Körperwuchs wahrlich nicht kleines Ego – ein riskantes Spiel.

Jene Verbindung zu den Adlondamen ist es, die ihn in den Fokus des SS-Hauptsturmbannführeres Franz Beewen geraten lässt. Dieser wird von seinen Vorgesetzten mit der Aufklärung eines brutalen Mordes an einer ebenjener Adlondamen betraut, mit der Simon Kraus eine Affäre pflegte. Die Frau selbst hat man brutal ausgeweidet und ohne ihre Schuhe auf der Museumsinsel in Berlin gefunden. Die erfolgversprechendste Spur scheint die eines rätselhaften Marmormannes zu sein, der der Dame kurz vor ihrem Tod im Schlaf erschien.

Auf der Jagd nach dem Marmormann

Jean-Christophe Grangé - Die marmornen Träume (Cover)

Bei diesem Mord wird es nicht bleiben. Im Bereich des Tiergartens und im Bereich des Bärenzwingers im Köllnischen Park in Berlin findet die Polizei weitere Leichen. Auch sie waren Teil der Adlondamen und pflegten mit Simon eine Affäre. Und auch sie berichteten beide von jenem Mamormann, der ihnen in den Träumen erschien.

Nachdem es so etwas wie Serienmörder in einem durchgeregelten Reich wie dem der Nationalsozialisten nicht geben darf, insbesondere, wenn sich dieser an der Haute volée des Dritten Reichs vergeht, muss der an Ptosis leidende Beewen nun also liefern und den Mörder zur Strecke bringen. Dafür tut er sich mit Simon zusammen, der überzeugt ist, den Mörder durch das Unterbewusstsein seiner Patientinnen zu finden.

Verstärkung finden sie durch die Dritte im Bunde, die adlige Analytikerin Minna von Hassel, die vor den Toren Berlins die Nervenheilanstalt Brangbo leitet, wo zahlreiche Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt werden. Sie findet in den Unterlagen zu ihrer Forschung eines erste erfolgsversprechende Spur, die sie zur Identität des Marmormannes führen könnte.

Ein typischer Grangé

Die marmornen Träume ist ein typischer Roman von Jean-Christophe Grangé, der alle Elemente aufweist, die die Thriller des Franzosen so besonders machen. Da ist zunächst die überbordende Fantasie, die sich nicht nur in der Länge des Buchs von fast siebenhundert Seiten niederschlägt. Höchst detailliert lässt er das Berlin des Jahres 1939 wieder auferstehen. Von den letzten queeren Clubs am Nollendorfplatz über die Filmstudios Potsdam-Babelsberg bis hin zu den Kellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8 oder dem Kriegsinvalidenaufmarsch vor dem Rathaus Reinickendorf spannt Grangé seinen Bogen, der das architektonische Berlin seiner Zeit genauso wie die damaligen (Sub-)Kulturen noch einmal auferstehen lässt.

Nun bin ich weder Fachmann für die Historie des Dritten Reichs, noch für die Berliner Stadtgeschichte – die große Detailtiefe und Beschreibungskraft von Jean-Christophe Grangés Noir-Fantasie von Film über Kunst bis hin zu Abläufen innerhalb des SS-Apparats fällt hier aber wirklich ins Auge (wozu ich persönlich gerne auch weitere Informationen über Recherche oder Quellen für seine Arbeit erhalten hätte. Hier aber schweigt sich der Autor aus und gönnt dem Roman noch nicht einmal eine Danksagung.)

Kreativität und Brutalität

Typisch ist dieser Grangé neben aller Detailtiefe und Fantasie aber auch wieder in Sachen Brutalität. Der Mörder, der die Bäuche seiner Opfer ausweidet. Die Pogrome, die Gewalt gegen Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung und die Brutalität der Ermittlungen schildert Grangé detailliert und manchmal geradezu voyeuristisch. Immer wieder blitzt diese Gewalt in die Ermittlungen hinein, verstört und lässt zurückzucken. Übertrieben ist dies alles allerdings leider nicht, blickt man etwa auf die Forschungen Josef Mengeles, der hier im Buch einen ziemlich deutlichen Doppelgänger erhält, dem allerdings ein anderes Ende als dem historischen Vorbild beschieden ist.

Wer die Grangé-typische Gewalt und das Setting abkann, das hier deutlich mehr als nur Kulisse, sondern vitaler Teil dieses Buchs ist, der bekommt einen hochspannenden Roman zu lesen, bei dem nicht nur erfahrenen Krimileser*innen schwanen dürfte, dass mit der Unschädlichmachung des Täters etwa in der Mitte dieses Thrillers die Tätersuche natürlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob es den Epilog mit seiner letzten Wendung oder manch comcihaften und überzeichneten Zug seiner Figuren dann unbedingt noch gebraucht hätte.

Fazit

So oder so gelingt es Jean-Christophe Grangé mit diesem düsteren Ausflug in die Historie, in Sachen Kreativität, Ambition und erzählerischem Sog an Glanztaten vergangener Tage wie etwa die Kongo-Dilogie (Purpurne Rache und Schwarzes Requiem) oder Das Herz der Finsternis anzuknüpfen. Sein gewaltgesättigter Thriller, in dem die Brutalität immer wieder durchblitzt, ist wirklich schmutzig und Noir pur.

In Die marmornen Träume inszeniert ein düsteres Berlin, das hier zu keinem Zeitpunkt wie ein Kulissenfilm wirkt, vielmehr gelingt es ihm, die Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und mitsamt unzähliger Schauplätze zum Leben zu erwecken. Dabei schreckt er auch nicht vor der Wahl von SS-Hauptsturmführer oder Anstaltsleiterin als erzählerischen Figuren zurück. Eine Gratwanderung, die man Grangé als als Franzose sicherlich eher nachsieht als deutschen Autor*innen.

Für mich funktioniert die Mischung, die mich in ihrer ganzen Opulenz, Spannung, Komplexität, Brutalität und Zeitkolorit sehr eingenommen hat. Zudem bin ich wirklich interessiert, ob und mit welchen Ansätzen dieser Thriller hier am Schauplatz und Täterland diskutiert werden wird. Man darf gespannt sein.


  • Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume
  • Aus dem Französischen von Ina Böhme
  • ISBN 978-3-608-50171-1 (Tropen)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €
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Akiz – Die Königin der Frösche

Märchen, ein Fall für Kinder? Mitnichten, wie der Schriftsteller Achim Bornhak alias AKIZ in seinem Roman zeigt. Nach der Welt der Küche und Spitzengastronomie wendet er sich nun in Die Königin der Frösche dem Märchen des Froschkönigs zu und interpretiert es deutlich düsterer, als man es aus seiner Kindheit noch in Erinnerung haben dürfte.


Der Froschkönig, war das nicht dieses Märchen mit dem Mädchen, dem beim Spielen die goldene Kugel in den Teich fiel und dann einen Frosch als Entlohnung der Kugelrettung küsste, der sich anschließend in einen Prinz verwandelte? In AKIZ‘ Version ist das Ganze deutlich dunkler und weitab von Disney- oder Märchenstundenromantik. Bei ihm befinden wir uns im Erlensteiner Tal, wohin Friedrich von Waidhofenstein mit Gefolge reist.

Im düsteren Erlensteiner Tal

AKIZ - Die Königin der Frösche (Cover)

Wir schreiben das Jahr 1799, die letzten Tage des Jahrhunderts sind angebrochen, das 19. Jahrhundert, es steht bereits an der Schwelle. Doch dort im Erlensteiner Tal wirkt noch vieles wie aus dem Mittelalter, spätestens wenn die Kutsche des Fürsten einfährt, um in der Burg des Herzogs auf Brautschau zu gehen. Dort will er die junge Ragna freien, die Tochter des dortigen Herzogs. Sie ist es, die er als potentielle Braut für den Geschlecht derer von von Waidhofenstein ausersehen hat.

Der Vater des Fürsten liegt im Sterben und erwartet einen Erben, den ihm nun endlich sein Sohn schenken soll. Die anderen beiden Schwestern von Ragna scheiden als Bräute aus (zu dick beziehungsweise zu alt, so die Ansicht der Beteiligten). Und so liegt es an der grazilen Ragna, sich mit dem Fürsten zu vermählen. Doch bis dies soweit ist, geschieht Entscheidendes, das AKIZ gleich an den Beginn seines Romans setzt.

Denn nach einer Art Ohnmachtsanfall erlebt die junge Ragna eine wundersame Szene. Sie sieht sich in einer Szene an einem Waldteich, wo sie sich einem Tempel voller Kröten nähert. Eine Kröte dort am Teich springt nicht davon, vielmehr nähern sich die beiden an. Ragna küsst diese, ehe sie aus ihrer Umnachtung wieder erwacht.

Der Mann aus dem Forst

Was ein Traum hätte bleiben können, bekommt plötzlich doch eine beunruhigende Entsprechung im echten Leben, als dort am Herzogshof ein wilder Mann aus dem Forst aufgetrieben wird, der wie ein Bruder von Kaspar Hauser wirkt. Sprechen kann er nicht, der Körper und der Hals sind verformt, die Umgangsformen quasi nonexistent. Das macht ihn zum interessanten Versuchsobjekt für den verwöhnten und gelangweilten Friedrich von Waidhofenstein, der den jungen Mann bis zum anstehenden Andreastag dressieren und bilden will. An diesem Tag der Jagd will er einen „normalen“ Menschen präsentieren, der an der traditionellen Jagd des Fürstengefolges teilnehmen soll.

Während der verwirrte junge Mann vom Fürstensohn malträtiert wird, fühlt sich Ragna auf seltsame Art und Weise zu dem Unbekannten aus dem Wald hingezogen, spätestens als sie sich am Brunnen der Burg begegnen.

Doch als ich am Brunnen saß, alleine, nur wenige Ellen von dem Jungen entfernt, und er mich anstarrte, als hätte er Witterung aufgenommen, da war mir mit einem Male ein wenig ungeheuerlich zumute, doch gleichwohl aufregend und geradezu so, als würden Ameisen durch meinen Geist krabbeln.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 96

Animalische Verwandlungen

Doch nicht nur in Sachen des jungen Mannes unbekannter Herkunft bemerkt Ragna eine Veränderung ihrer Gedanken und Überlegungen. Auch an sich selbst entdeckt sie neue Facetten. So wecken wie einst in Bram Stokers Dracula beim Charakter Renfield nun auch bei ihr Insekten einen ganz besonderen Appetit, zum Erschrecken ihres Umfelds.

Doch gleichwohl scheint es dem Fürsten gänzlich entgangen zu sein, dass die herzogliche Infantin ihrerseits immer ungezähmter wirkt. Neulich, da habe ich sie gesehen, wie sie ein Insektengetier mit ihren Fingern gefangen und es sich in den Mund gesteckt hat, als wäre der Teufel in sie gefahren, geliebtes Lottchen, stell dir das vor. Dem Fürsten habe ich aber nichts erzählt, zu sehr hätte es ihn aus der Fassung gebracht, und was ist es meine Angelegenheit, ihn darauf aufmerksam zu machen, was für ein gottloses Gör er sich mit der herzoglichen Tochter einzuhandeln droht.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 124

Multiperspektivisch erzählt Akiz in Briefen und Niederschriften von der Wandlung Ragnas hin zu einer zunehmend von der Naturwelt des Waldes und dem unbekannten Wilden angezogenen Frau. Während sie immer animalischer wird, versucht der Fürstensohn in einer gegenläufigen Bewegung den Wilden aus dem Wald zu zähmen und zu erziehen. Davon berichtet Ragna, der Fürst an seinen Vater – und auch andere Figuren wie etwa Jörn im obigen Beispiel erzählt von den Entwicklungen in Briefen an seine Frau.

Das ist nicht immer wirklich leicht durchdringbar, da sämtliche Figuren und Schreiber*innen in nur leichten Abweichungen das gleiche historisierende Vokabular nutzen, mit denen sie Akiz ausstattet.

Er erzählt eine Art „Neo-Märchen“, wie es auch beispielsweise Stefan aus dem Siepen mit seiner Erzählung Das Seil tat. Wir haben es mit einer Erzählung zu tun, die über ihren reinen Inhalt hinaus eine vielgestaltige Interpretation erlaubt. So ist AKIZ‘ düstere Neudeutung in meinen Augen eine Fabel, die von männlicher Gewalt und einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte erzählt, wie sie in dieser Art auch zuletzt in Monique Roffeys Die Meerjungfrau von Black Conch zu lesen war. Während bei ihr der klassische Anders’schen Märchenstoff als Grundlage diente, ist es hier eben das Märchen der Gebrüder Grimm. Beiden Neuerscheinungen ist eine ebenso realistisch und wenig optimistisch Ausdeutung des tradierten Stoffes gemein.

Fazit

Hier birst am Ende niemandem das Herz vor schierer Freude, wie es dem Heinrich im ursprünglichen Märchen der Grimms widerfuhr. Vielmehr flieht hier der Fürstensohn in Hast und tiefem Schrecken mit seiner Kutsche wie einst auch Jonathan Harker von der Burg des Grafen Dracula. Nicht nur in diesem Abgleich mit der inzwischen glattpolierten und gefälligen Märchenvorlage nach den Gebrüdern Grimm zeigt sich, dass Die Königin der Frösche nur wenig gemein hat mit der romantisierten Märchenwelt der Grimms, sondern vielmehr auch dem Horrorpotential von Tier- und Waldeswelt nachspürt.

AKIZ als Romanautor ist eine mehrperspektivische Neuinterpretation des Stoffs gelungen, die von tierischer Urkraft im Menschen erzählt, die Domestizierungsversuchen eine Abfuhr erteilt und die in ihrer Düsterkeit sicherlich auch eine Geschmacksfrage ist.

Ob dieses Neo-Märchen eine ähnlich große Fangemeinde wie die Ursprungswerke der Gebrüder Grimm hinter sich versammeln kann, dass darf man bezweifeln. Dennoch ein höchst originelles und außergewöhnliches Werk in der aktuellen Literaturlandschaft, das düster von Verwandlungen vom Menschlichen ins Tierische und umgekehrt erzählt.


  • Akiz – Die Königin der Frösche
  • ISBN 978-3-446-27645-1 (Hanser blau)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Wie Schlafwandler schienen dem australischen Geschichtsprofessor Sir Christopher Clark die Figuren, die mit ihrem Handeln den Ersten Weltkrieg auslösten. Folgerichtig gaben sie seinem großen Werk über die Hintergründe jenes Ersten Weltkriegs den Titel. Und auch Raphaela Edelbauer scheint sich für ihren neuen Roman Die Inkommensurablen Inspiration bei Christopher Clark geholt zu haben. Denn ihr Roman, der das vielgestaltige Wien am Vorabend des Großen Krieges porträtiert, hat ebenfalls das Schlafwandeln als Motiv gewählt, obschon es hier nicht nur die Protagonist*innen ergreift, sondern bei der Lektüre das ein ums andere Mal auf den Leser oder die Leserin überzuspringen scheint.


Dabei beginnt alles wie eine Art Pastiche des mittlerweile schon zum modernen österreichischen Klassiker gereiften Roman Der Trafikant von Robert Seethaler. Ein junger vaterloser Mann kommt aus der österreichischen Provinz (hier Tirol) per Bahn in das überbordende Wien, das kurz vor dem Ausbruch eines Weltkriegs steht. Er macht in der überfordernden Stadt Bekanntschaft mit neuen Freund*innen und sucht – im Gegensatz zu Franz Huchel, dem Helden von Seethalers Buch – aktiv die Berührung mit dem Fach der Psychoanalyse.

Angekommen im Wien, der Stadt der Psychoanalyse

Doch so überschaubar wie die Schauplätze und die Handlung des Seethaler’schen Trafikanten bleibt Raphaela Edelbauers Buch mitnichten. Vielmehr sind es vier ganz unterschiedliche Figuren, die im Mittelpunkt des Romans stehen, darunter eben jener Bauernbub namens Hans Ranftler, den die Österreicherin mit einem großartigen ersten Satz einführt, der gekonnt Ton und Thema des Folgenden setzt und dem der Schlaf schon eingeschrieben ist.

Es war sechs Uhr zweiundreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k.u.k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 9

Vaterlos geworden und auf dem Land an der intellektuellen Dumpfheit des Landlebens leidend zieht es Hans ins brodelnde Wien, wo er unbedingt die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufsuchen möchte. Denn Hans ist überzeugt, eine Gabe zu besitzen, die ihn seit fünf Jahren begleitet. Ständig sprechen die Menschen um ihn herum Gedanken aus, die er kurz zuvor noch in seinem Kopf hatte. Mithilfe der Psychoanalyse erhofft er sich Aufschluss über diesen Zustand.

Raphaela Edelbauer - Die Inkommensurablen (Cover)

Dort in der Praxis der Psychoanalytikerin macht er die Bekanntschaft der gegensätzlichen Freunde Adam und Klara, die ihn kurzerhand unter ihre Fittiche nehmen.

Adam entstammt hohem österreichischen Adel und wohnt privilegiert im familieneigenen Palais Jesenky, Gasbadeofen und George-Gedichtbände in der Hausbibliothek inklusive. Mit anderen Gleichgesinnten hat er den Jungen Wiener Kunstverein begründet, geigt in einem Streichquartett experimentelle Werke von Schönberg, op. 10, und ist bei Helene Cheresch in Behandlung, weil er immer wieder Dinge aus der Vergangenheit oder anderen Ländern vor sich sieht, von denen er eigentlich keine Ahnung haben dürfte.

Klara hingegen entstammt dem Proletariat und hat sich mit ihrer Begeisterung für die Psychoanalyse von Helene Cheresch und den anderen bedeutenden Wiener Kapazitäten auf diesem Gebiet bis zum Rigorosum emporgearbeitet, das am nächsten Tag ansteht.

Verbunden durch den gemeinsamen Ankerpunkt der Psychoanalytikerin lassen sich die drei jungen Menschen im Folgenden durch ein Wien treiben, das einem Tollhaus gleicht.

Ein Tollhaus namens Wien

Egal ob bei der Probe in der Musikakademie, Beratungen des militärischen Stabs im Palais Jesenky, im Bordell, bei einer heroininduzierten Seance inklusive Medium in der Kanalisation unter Simmering oder auf den Straßen der Hauptstadt. Überall manifestiert sich ein luzides Gefühl von Anspannung, das mal in Euphorie, mal in Taumel, mal in Gewalt umschlägt und angesichts dessen an so etwas wie Schlaf eigentlich überhaupt nicht zu denken ist.

So prügelt sich Adam durch gezielte Reizungen seiner Mitspieler während der Proben des Streiquartetts. Die Mobilmachung steht kurz bevor, das Militär ruft nach jungen Männern. Burschenschafter trommeln und die Presse überschlägt sich mit Eilmeldungen und Kriegseintrittserklärungen am Vorabend des Kriegsbeginns. Alles gleicht hier einem Tollhaus.

Und als ob dieses Brummen, Blitzen und Vibrieren noch nicht genügen würde, ist da auch noch zusätzlich die Geschichte des sogenannten Säkulumclusters, der Helene, Klara und Adam beschäftigt und mit dem ein deutlicher Anklang an die Serie Sense 8 der Wachowskis in die Handlung einzieht.

Denn zugleich scheinen tausende Menschen in ganz Europa die selbe Szene eines verlassenen Dorfs zu träumen. Jeder dieser Träumenden sieht allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Traumrealität, während Klara als Einzige durch die ganze somnambule Szene wandern kann. Das macht sie zu einem Ziel der sogenannten „Traumjäger“, die dem Geheimnis des träumenden Clusters auf die Spur kommen möchten.

Eine herausforderne Mischung in expressiver Tradition

Was hier in seiner Verquickung aus Studie des Wiens am Vorabend des Weltkriegs, einer Studie Wiens als Hort der Psychoanalyse und als literarischer Stadtkarte sowie der Geschichte des Traumclusters schon wild klingt, wird in der Praxis dann tatsächlich noch wilder. Denn Raphaela Edelbauer schickt ihre Figuren nicht nur quer durch die Bezirke Wiens, vom proletarischen Florisdorf bis in die Salons der Oberschicht bis hinab in die Kanäle der Unterwelt. Vielmehr bringt sie in das Geschehen in Die Inkommensurablen auch verschiedene Spielformen des Erzählens ein.

Neben der ganzen Stadt- und Milieuerkundung in Echtzeit (die Handlung erstreckt sich über etwas mehr als einen Tag) ist dieses Buch auch eines, in dem wahnsinnig viel gesprochen wird. Alle diskutieren, debattieren, streiten, verteidigen, dozieren, fordern, locken oder schreien. Das führt neben vielen ausführlichen Gesprächsszenen und sachbuchartigen Exkursen über Momente der Wiener Bau- und Stadtgeschichte sogar dazu, dass Edelbauer nicht davor zurückschreckt, seitenweise die Rigorosum-Vorlesung Klaras in ihrer ganzen höchst anspruchsvollen Verschränkung von Philosphie und Mathematik über die Natur der inkommensurablen Zahlen aufzubieten, was mich als einfachen Romanleser zugegeben etwas überfordert hat.

Hervorragend gelingt es Edelbauer aber, die ganze Vielgestaltigkeit von Kriegsrhetorik, gesellschaftlicher Erregung, expressionistischem Überschwang, Kunst, Psychoanalyse und schlussendlich Wien selbst in einen überbordenden und herausfordernden Roman zu packen, bei dem man sich manchmal fühlt, als würde man durch eine Traumlandschaft wandeln.

Ein Roman, den sie sie am Ende sogar noch zu einer Betrachtung über den Charakter der Massensuggestion ausbaut und damit die Frage in den Raum stellt, inwieweit das von Christopher Clark als Schlafwandeln getaufte Verhalten im Vorfeld des Kriegs vielleicht sogar ein bewusste herbeigeführtes Ereignis per Massensuggestion war, das Österreich-Ungarn, ganz Europa und schlussendlich die halbe Welt in einen blutigen und verlustreichen Krieg stürzte.

Schlafwandler waren sie.

Die Lichter im Raum waren alle zur selben Zeit angegangen, und der Spuk hatte sich schlagartig verflüchtigt wie eine auseinanderfallende Dunstwolke. Für einen Augenblick konnten sie alle dieses Nebeneinander nicht fassen. Sie fanden keine Worte, und die Worte fanden nicht sie.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 263 f.

Fazit

Es gelingt Raphalea Edelbauer in ihrem neuen Roman Die Inkommensurablen von der Mobilmachung bis zur Psychoanalyse eine Vielzahl an Themen miteinander zu verquicken, die sie sprachlich herausragend ausgestaltet. Indem sie den (scheinbar) historischen Stoff mit modernen Erzählmitteln aufbereitet, wie man auch aus zeitgenössischen Produktionen wie dem schnittlosen Echtzeitfilm Victoria oder eben der schon genannten Serien Sense 8 kennt, gerät das Ganze zur atemlosen, überbordenden und so manches Mal auch verwirrenden Angelegenheit.

Was ist Traum, was ist Realität? Sind wir am Ende doch nur alle Schlafwandler, die als Teil des Säculumclusters von Raphaela Edelbauer durch ein elektrisiertendes und vibrierendes Wien gejagt werden, hinter dessen Ecken jede Menge Anspielungen von Hugo von Hoffmannsthal bis bis zu Graham Greenes Der dritte Mann lauern? So oder so bleibt festzuhalten, dass sich Raphaela Edelbauer auch mit ihrem dritten Buch als unberechenbare Erzählerin erweist, deren Talent auf keinen Fall auf Einbildung beruht. Ein wirklich inkommensurables Buch!


  • Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen
  • ISBN 978-3-608-98647-1 (Klett-Cotta)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Mit Nacht unterm Schnee liegt nun der Abschluss der autobiographisch grundierten Erzähltrilogie Ralf Rothmanns aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor. Darin tauchen viele Figuren auf, die man aus dem Rothmann’schen Erzählkosmos bereits kennt, allen voran der Melker Walter, das Alter Egos von Ralf Rothmanns Vater. Im Mittelpunkt des Romans steht aber die Ich-Erzählerin Luisa, die bereits in Der Gott jenes Sommers, dem Mittelteil von Rothmanns Triptychon, die zentrale Rolle spielte.

Nun, nach den Erlebnissen an der Heimatfront, hilft sie in der Nachkriegszeit in der Gaststätte ihrer Eltern in Kiel aus und macht die Bekanntschaft mit Elisabeth, deren bewegte Geschichte sich erst langsam ergibt. Die Klasse von Im Frühling sterben erreicht das Buch aber leider nicht.


Welch ein hehrer Wunsch, der Rothmanns Heldin Luisa umtreibt. Sie, die Halbwaise, will der Enge der elterlichen Schankstube im Hafen von Kiel entkommen, indem sie Bibliothekswesen studiert. In ihrer Jugend hat sie den Krieg und das Elend am eigenen Leib eindrücklich erfahren. Jetzt, in der Aufbruchszeit nach dem Weltkrieg erscheint ihr die Welt ganz offenzustehen. Sie verliebt sich, pflegt Affären und findet vor allem in der Person des Melkers Walter einen Seelenverwandten. Dieser ist mit Elisabeth verbandelt, der promiskuitiven Untermieterin von Luisas Mutter, die sie mit dem Führen der Kneipe beauftragt hat.

Walters ruhiges Wesen, sein Job als Melker auf einem Gut bei Missunde und sein Werben um Elisabeth faszinieren Luisa. Als Walter und Elisabeth Eltern des kleinen Wolfs (Rothmanns Alter Ego) werden, ziehen sie mit ihrem Kind ins Ruhrgebiet, wo Walter als Bergmann arbeiten wird. Doch der Kontakt zu den beiden reißt nicht ab und während sich Luisa in ihr Studium des Bibliothekswesens vertieft, geht auch das Leben des widersprüchlichen Paares im Ruhrgebiet weiter.

Vertrautes Personal, vertraute Geschichten

Um seine Geschichte zu erzählen, setzt Ralf Rothmann auf Altervertrautes. Abermals reißt er die Lebensgeschichte von Walter an, wenngleich die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg hier nur angedeutet werden. Auch Luisa ist Leser*innen der Trilogie vertraut. Noch immer liebt sie Bücher und macht jetzt ihre Leidenschaft zum Beruf.

Elisabeths Geschichte ist die, die nun im letzten Teil im Mittelpunkt steht. Ihre Erfahrungen aus dem Weltkrieg verbinden sich hier mit dem Nachkriegs-Porträt der Frau, zu deren Lebensmaximen nicht unbedingt Treue und Ehrlichkeit zählen.

Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee (Cover)

Nun ist Vertrautes und die stilistische Variation von Themen und Motiven in einem schriftstellerischen Oeuvre nichts, das man unbedingt bekritteln könnte. Wenn das Ganze dann aber eher zur Kopie und dem Pastiche der eigenen Werke wird, dann ist das für mich allerdings ein klarer Kritikpunkt. So könnte man über die erzählerischen Überlappungen der drei Bücher wirklich hinwegsehen, ergeben sich doch manchmal reizvolle Perspektivverschiebungen.

Aber gerade in der zweiten Hälfte von Die Nacht unterm Schnee hatte ich den Eindruck, dass Ralf Rothmann sein großartigen Ruhrgebietsroman Milch und Kohle einfach noch einmal geschrieben hat.

Die Beschreibung des Arbeitens der Bergleute unter Tage, ihre Kolonne auf dem Heimweg, die fremde Welt der Italiener im Pott, die biederen Abend mit der Suche nach Freiheit im staubigen Alltagstrott, die Enthemmung beim Tanz in der Kiezkneipe. All diese Beschreibungen bringt Ralf Rothmann nun auch in diesem Buch ein, das sich durch (zumindest in meinen Augen) nichts von dem bereits Erzähltem in seinem 2001 erschienenen Roman abhebt. Das ist schade, hätte es doch auch hier in Bezug auf Rothmanns eigene Kindheit im Ruhrgebiet noch vieles abseits der bekannten und schon auserzählten Bilder gegeben.

Fazit

So bleibt ein nicht wirklich überzeugendes Lesegefühl bei mir zurück. Natürlich sind die literarischen Talente Ralf Rothmanns unbestritten, auch hier kann er wieder unvergleichlich gut die dumpfe Enge der Ruhrgebietsstube mitsamt ihres Gelsenkirchener Barock oder die warme, dampfige Atmosphäre eines Kuhstalls schildern. Seine Beschreibungen des Melkhandwerks sind derart plastisch, dass man nach der Lektüre selber das Handwerk halb erlernt zu haben meint. Auch sind die Figuren wieder wunderbar gelungen.

Und doch ist mir da zu viel Bekanntes und bereits Erzähltes, das Rothmann hier einfach noch einmal aufbereitet, als dass ich das Gefühl habe, ein frisches Buch zu lesen, das mir einen neuen Blick auf Rothmanns Kindheit und das Nachkriegs-Deutschland erlaubt. Steigt man in den Erzählkosmos von Ralf Rothmann frisch ein, dann ist das Buch sicherlich ein Gewinn. Für Rothmann-Kenner*innen hingegen fehlt das Neue, kommt der Autor doch nicht über eine Variation bekannter Themen und Bilder hinaus.


  • Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
  • ISBN 978-3-518-43085-9 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Einmal um die ganze Welt – oder fast. Maggie Shipstead begibt sich in ihrem neuen Roman Kreiseziehen auf die Spuren einer Weltumfliegerin, die beim Versuch, einmal die gesamte Weltkugel zu umkreisen, im Jahr 1950 verschwand. Jahrzehnte später werden die Pläne zur Verfilmung des Lebens der Pilotin konkreter – und zum Rettungsanker für einen strauchelnden Hollywoodstar.


Es ist ein monumentales Werk, das Maggie Shipstead mit Kreiseziehen (oder Great Circle, wie das Buch etwas eleganter im Original heißt) vorlegt. Beschränkte sie sich in ihren beiden zuvor erschienen Romane Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit und Dich tanzen sehen auf Plots, die unter 450 Seiten blieben, so knackt sie diesmal diese Marke deutlich. Sage und schreibe über 860 Seiten umfasst der von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz ins Deutsche übertragene Roman, der durch seine Soghaftigkeit und das Erzähltalent Shipsteads besticht.

Der Wunsch zu fliegen

Inhaltlich dreht sich in Kreiseziehen (fast) alles um Marian Graves, die schon seit Kindesbeinen an der Wunsch zu Fliegen umtreibt. Zusammen mit ihrem Bruder Jamie wächst sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Schiffsunglück bei ihrem Onkel auf, der in der Nähe von Missoula in Montana lebt.

MAggie Shipstead - Kreiseziehen (Cover)

Just an dem Tag, an dem Charles Lindbergh im Mai 1927 zum ersten Mal nonstop den Atlantik von New York in Richtung Paris überquert, macht Marian die Bekanntschaft mit den Brayfogles, einem schillernden Kunstfliegerpaar. Diese Begegnung lässt die schon seit jeher in Marian schlummernde Flugbegeisterung vollends ausbrechen. Um sich Flugstunden zu verdienen, steigt Marian ins Schmugglergeschäft ein und liefert während der Hochphase der Prohibition als Minderjährige Schwarzgebrannten im ganzen Hinterland von Montana aus, stets unbeirrbar mit dem Ziel einer Fliegerkarriere vor Augen.

Dabei macht sie auch die Bekanntschaft mit Barclay MacQueen, dem mächtigsten Prohibitionsgangster von ganz Montana. Für diesen bringt sie zunächst noch Alkohol per Flugzeug über die Grenze, ehe sie zu seiner Geliebten und später sogar zu seiner Ehefrau wird. Ihr Bruder Jamie hingegen strebt eine Karriere als Maler an, was er in Seattle umzusetzen versucht. Dabei macht er die Bekanntschaft einer jungen Dame aus gutem Hause, in die er sich unsterblich verliebt und die ihn nie wieder richtig loslassen wird.

Ein Hollywoodstar auf Spuren von Marian Graves

Verbunden wird diese Geschichte von Maggie Shipstead mit der Erzählung aus Sicht des Hollywoodstars Hadley Baxter, die aktuell in Ungnade gefallen ist, hat sie doch eine vom Boulevard genussvoll ausgeschlachtete Affäre, die so gar nicht mit dem von ihr verkörperten Star der Archangel-Franchise zusammenpassen will. Um sich zu rehabilitieren und weg vom Image des Kinderstars zu kommen, übernimmt sie in einem Filmprojekt die Rolle der Marian Graves, deren Schicksal sich in dem von Hadley spiegelt.

Denn während die flugverrückte Marian Graves beim Versuch einer Erdumrundung per Flugzeug in der Anatarktis verscholl und nur ein Tagebuch zurückließ, so sind auch Hadleys Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Stück für Stück erfährt man mehr vom unglaublichen Leben von Marian, während sich Hadley immer tiefer in das Leben der Fliegerin einarbeitet, um ihr bei ihrer Verkörperung nahezukommen.

Ein großartig unterhaltsamer Roman

Dabei gelingt Maggie Shiptstead mit Kreiseziehen einer der unterhaltsamsten Roman, die ich in letzter Zeit lesen durfte. Immer mal wieder mit leicht experimentellen Erzählansätzen arbeitenden, mit Raffungen, Sprüngen zwischen Marian, ihrem Bruder Jamie und Hadley in der Jetztzeit schafft sie ein mitreißendes, abwechslungsreiches, höchst farbiges und unterhaltsames Buch, das ich schon jetzt als heißen Kandidaten für die anstehende Geschenkesaison zu Weihnachten handle.

Kreiseziehen ist voller exotischer Schauplätze, die von Neuseeland bis in die Antarktis reichen. Komponiert ist das Ganze als großer Kreis, der sich nicht nur im (sehr spät im Buch stattfindenden) Erdumrundungsvorhaben erschöpft, sondern auch in der Konstruktion der Rahmenhandlung und den immer wieder auftauchenden Volten des Schicksals eingewebt ist. Immer wieder ergeben sich Bezüge zwischen den Figuren und ergeben schlussendlich ein – pardon – rundes Bild.

Maggie Shipstead vermag es, von der Magie des Fliegens ebenso eindringlich zu erzählen, wie von den existenziellen Entbehrungen in der Antarktis, dem Untergang des Schiffs Josephina Eterna oder dem Tagewerk der weiblichen Pilotinnen im Zweiten Weltkrieg. Sie kombiniert das Erzählen vom Set eines Filmdrehs mit der Zeit der Prohibition und den Nöten einer höchst unglücklichen Ehe, ohne dass man das Gefühl hat, dass ihr literarischer Kreis große Unwuchten hätte.

Die Bandbreite der Emotionen, Erlebnisse und Affekte ist in Kreiseziehen so unwahrscheinlich breit, dass es einem Wunder gleicht, dass Maggie Shipstead diese motivische Fülle gebändigt bekommt und darüber hinaus plausibel zu vermitteln weiß. Dabei kommt es zu keinem Zeitpunkt der 860 Seiten zu einem literarischen Strömungsabriss, vielmehr generiert die Autorin immer wieder Aufwind und weiß von ihren drei Hauptfiguren zu erzählen.

Diese große Unterhaltsamkeit und das stete Vorantreiben des Plots gleichen für mich auch den Punkt aus, den ich vielleicht als den schwächsten Punkt des Buchs identifiziert hätte, nämlich das ungleich verteilte Erzählgewicht in diesem Buch. Denn nicht nur in Sachen Screentime ist Hadley die Hauptfigur, die in Kreiseziehen das Nachsehen hat. Aber auch dieses potentielle Manko gleich Maggie Shipstead geschickt aus, indem sie sich in den erzählerischen Schlaglichtern aus der Gegenwart auf weniger, aber dafür aussagekräftige Momente fokussiert, die wieder eine Engführung mit dem Schicksal der ebenso unabhängigen und manchmal um Orientierung kämpfenden Marian erlauben.

Fazit

Kreiseziehen von Maggie Shipstead bringt alles mit, was einen grandiosen Unterhaltungsroman ausmacht: Makelloses Erzählhandwerk, ein überbordende Plot mit Ambition, ein Porträt zweier ganz unterschiedlicher und doch ähnlicher Frauen – und zu keiner Minute Langeweile. Auch wenn ihr Buch mit Überlänge ausgestattet sein mag, so lohnt sich das Durchhalten doch auf alle Fälle. Und speziell in der kommenden Winterzeit hat man doch mehr Zeit zum Lesen, was dieses Buch in meinen Augen zum unbedingten Geschenktipp macht.

Besprochen hat das Buch auch Constanze Matthes auf ihrem Blog Zeichen & Zeiten. Hier gehts zu ihrer Besprechung.


  • Maggie Shipstead – Kreiseziehen
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz
  • ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)
  • 861 Seiten. Preis: 28,00 €
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