Category Archives: Historischer Roman

The time of my life

Tom Barbash – Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens

Wenn man zurückschaut, dann neigt man ja dazu, alles zu verklären. Insbesondere im Blick auf die USA hat man das Gefühl, dass früher doch alles noch ein bisschen besser war. Es gab die bessere Musik, von einem narzisstischen Populisten im Weißen Haus ahnte man noch nichts und auch die Risse in der Gesellschaft waren noch nicht so ausgeprägt. Tom Barbash hat einen Roman geschrieben, der in diese „gute, alte“ Zeit zurückversetzt. Und dem es gelingt, nostalgisch zu sein, ohne zu romantisieren. Und der John Lennon noch einmal auferstehen lässt. Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens.


Eine solche Berühmtheit hätten wohl viele Menschen gerne zum Nachbarn gehabt – für Anton Winter ist es Realität. John Lennon heißt der berühmte Nachbar. Er wohnt mit Yoko Ono und seinem Sohn Sean unter einem Dach mit der Familie Winter. Beide Familien sind nämlich Mieter im legendären Dakota Building in New York, einem Appartementhaus der Upper Class.

Nach dem Ende der Beatles hat sich Lennon in das Haus zurückgezogen und will dort seine Ruhe genießen. Auch Anton Vaters Buddy sehnt sich nach Ruhe. Denn als berühmter Talkmaster ist ihm seine Show und sein Dasein irgendwann über den Kopf gewachsen. Und so verschwand er vor einigen Jahren während einer seiner Talkshows von der offenen Bühne. Seither reiste er umher und suchte sich selbst.

Auch Anton selbst war irgendwann mit dem Status Quo als Sohn und Zuarbeiter des berühmten Buddy Winter unzufrieden. Und so begab er sich nach Afrika, wo er als Mitglied des Peace Corps Aufbauhilfe leistete. Doch eine lebensbedrohliche Malaria-Erkrankung zwang ihn zurück nach New York in die Arme seiner Familie. Und so treffen nun diese drei Männer unterschiedlichen Alters im Dakota Building aufeinander. Sie alle kämpfen mit ihren eigenen Problemen und laborieren an ihrem momentanen Dasein.

Die Suche nach Erfolg

Buddy Winter möchte eigentlich wieder an die goldenen Talkshow-Zeiten anknüpfen, zugleich ist er höchst unsicher, ob er dem Druck des Fernsehens noch genügt. Mit dem Ich-Erzähler Anton hat er allerdings Unterstützung an seiner Seite. Und wäre der Nachbar John Lennon nicht der ideale Talkshowgast für ein Comeback – oder warum nicht gleich eine triumphale Reunion der Beatles? Die Pläne der Winters im Sommer 1980 sind wahrlich groß, nicht zuletzt, da auch die finanziellen Ressourcen der Familie zusehends schmelzen.

Tom Barbash - Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens (Cover)

Allerdings hält das Buddy und seine Familie nicht vom Feiern ab. Eine Party reiht sich an die nächste, Berühmtheiten geben sich die Klinke in die Hand, Antons Mutter macht Werbung für die Kampagne Ted Kennedys. Man besucht die Olympischen Spiele in Lake Placid. Anton unternimmt sogar einen Segeltörn mit John Lennon. Über allem schwebt aber die Frage – kann Buddy noch einmal an seine alten Erfolge anknüpfen?

Es ist bemerkenswert, wie es Tom Barbash gelingt, die Welt der Jahre 1979/80 auferstehen zu lassen. Die Welt der Hauspartys, Segeltrips und Wahlkämpfe fängt er atmosphärisch dicht und für mich als Nachgeborenen durchaus glaubhaft ein. Seine Reanimation von John Lennon in diesem hell-nostalgischen Roman ist ebenfalls mehr als gelungen. Auch als Hommage an die Beatles und Lennon funktioniert dieser Roman ausgezeichnet.

Nostalgie ohne Verklärung

Seine wahre Klasse aber besteht nun darin, dass dieser Roman nicht in die Kitsch- und Verklärungsfalle tappt. Denn Barbashs New York ist eben nicht nur eine sonnendurchflutete Partymetropole, in der jeder jeden kennt. Morde und Gewalt (auch gegenüber Kindern) sind eben auch hier an der Tagesordnung. Mit der aufziehenden Bewerbung Ronald Reagans für das Amt des Präsidenten zeigt sich, dass Lügen, Fake-News und Unsinn verbreitende Präsidentendarsteller nicht nur ein Menetekel unserer Tage sind. Dieser Roman beherrscht das Kunststück der Nostalgie ohne Verklärung. Geradezu bittersüß wirkt das Buch, wenn Barbash einen John Lennon in voller Schöpferkraft zeigt, der von seiner Hamburger Zeit mit den Beatles erzählt oder ein Schiff über das Meer steuert. Einen John Lennon, der am Ende des Buchs – die Historie verrät es – vor den Türen des Dakota Buildings erschossen werden wird.

Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens ist auch ein Buch, das sich mit dem Thema der Depression auseinandersetzt. Wie umgehen mit Druck und Erwartungen, die von außen an einen herangetragen werden? Und warum nicht einfach mal aus den gewohnten Mustern ausbrechen? Das Werk von Tom Barbash ist den Grundzügen ein leichter Roman. Aber die Qualität des Buchs besteht eben auch darin, in dieser Leichtigkeit genug Ebenen mit tiefergehenden und durchaus bewegenden Themen eingebunden sind. Die Emanzipation von den eigenen Eltern etwa und die Kunst, ein eigenes Leben zu führen sind integraler Bestandteil seiner Erzählung.

Man könnte Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens auch auf folgenden Nenner bringen: Nostalgie ohne Kitsch, Romantik ohne Verklärung. Das kennzeichnet dieses Buch, das ich hiermit nachdrücklich empfehle, wenngleich es eine etwas rundere Übersetzung vertragen hätte.

Nicht nur eingedenk des 80. Geburtstags, den Lennon vor wenigen Tagen hätte feiern können. Eine schöne Hommage!


  • Tom Barbash – Mein Vater, John Lennon und das beste Jahr unseres Lebens
  • Aus dem Englischen von Michael Schickenberg
  • ISBN: 978-3-462-05311-1 (Kiepenheuer-Witsch)
  • 352 Seiten: Preis: 22,00 €
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Francesca Melandri – Alle, außer mir

Es war eine Nachricht aus Italien, die im August aufhorchen ließ. Der häufigste Name in Mailand lautet nämlich seither Hu. Nicht mehr typisch italienische Namen wie Ferrari oder Rossi dominieren, sondern der chinesische Nachname Hu. Zwar handelt es sich bei den meisten Hus um chinesischstämmige Italiener*innen der vierten oder fünften Generation, die schon lange in Italien leben. Allerdings zeigt sich hier phänotypisch schon, dass auch Italien ein Land ist, in dem sich vieles wandelt. Über diesen Wandel hat Francesca Melandri ein gnadenloses Buch geschrieben. Es trägt den Titel Alle, außer mir und ist ein Familienepos, das wie ein Scheinwerfer mit hoher Wattzahlen auch die nicht so hellen Seiten des gestrigen und heutigen Italiens beleuchtet. Große Literatur, die – wie es großer Literatur oftmals zueigen ist – auch durchaus schmerzen kann.


Ausgangspunkt der Handlung ist ein schwarzer junger Mann, der plötzlich im Treppenhaus der Lehrerin Ilaria Profeti steht. Er behauptet, mit Ilaria verwandt zu sein. In seinem Pass steht der Name ihres Vaters. Von drei Geschwistern weiß Ilaria – doch wer ist dieser Mann, der ihr eine unglaubliche Geschichte erzählt? Und warum sollte ihr Vater ein Kind in Äthiopien haben? Attilio selbst kann keine Auskunft mehr geben. Über 90 Jahre alt ist er in seinen Erinnerungen an die Welt von gestern versunken.

Die Abgründe der italienischen Geschichte

Ausgehend von dieser unerhörten Begebenheit spannt Francesca Melandri in ihrer Erzählung einen Bogen über drei Generationen und ein ganzes Jahrhundert italienischer Geschichte. In Episoden erzählt sie sich zurück bis in Attilio Profetis Kindheit. Seinen Weg vom Sohn eines Eisenbahners bis hin zum einflussreichen und finanziell mehr als gut gestellten Vater von vier (oder fünf?) Kindern, schildert Melandri, sodass immer mehr Puzzlestücke im Laufe dieses voluminösen Romans (über 600 Seiten) zueinander finden und ein Bild ergeben. Ein rundes Bild zwar, aber kein schönes. Denn es sind viele Adjektive, die Attilio im Laufe seines Jahrhundertlebens gesammelt hat: korrupt, rassistisch, bigamistisch, faschistisch, um nur ein paar zu nennen.

Francesca Melandri - Alle, außer mir (Cover)

So nimmt Attilio als Schwarzhemd am Abessinienkrieg teil, wirkt willfährig am faschistischen Regime des Duce Benito Mussolini mit. Für den Rassenforscher Lidio Cipriani beteiligt er sich in Äthiopien und Eritrea an rassistischen Forschungen, nutzt später sein Wissen und seine Verbindungen, um im Nachkriegsitalien seine Machtansprüche und seinen Willen durchzusetzen. Bis in die Gegenwart reichen die Auswirkungen der Geschichte, etwa wenn der libysche Diktator Muammar Gadaffi nun 2010 zum Staatsempfang bei Silvio Berlusconi erscheint. Flucht, Rassismus und faschistisches Denken sind Themen, die Francesca Melandri in ihrem Buch mehr als eindrucksvoll behandelt.

Die etwaige Kontinuität der Geschichte ist genauso eine Frage, wie die, was man eigentlich von seinen Eltern und deren Geschichte weiß. Dass das oftmals gar nicht so viel ist, beweist Alle, außer mir auf literarisch hintersinnige Art und Weise. Dass sich das Buch dabei in Deutschland weitaus besser als in Italien verkaufte (nur knapp 10.000 Exemplare davon wurden in Melandris Heimat abgesetzt), das überrascht nicht.

Die Wunden der Vergangenheit

Denn es ist kein Finger, den Melandri in die Wunden der italienischen Vergangenheit legt. Es ist eine ganze Faust.

Es sind nicht nur die Verbrechen des Kolonialismus und die Kriegsverbrechen in Libyen, Eritrea oder Äthiopien, die die italienische Autorin schmerzhaft und teilweise äußert brutal illustriert. Sie zeigt auch die Korruption und die Verlogenheit der aktuellen italienischen Politik (Stichwort Bunga Bunga). Den Rechtsdrift, die grassierende Korruption, die Verlogenheit im Umgang mit Migrant*innen und der Wandel der italienischen Gesellschaft – all das sind Themen in Alle, außer mir. Dass das in Italien nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß, das verwundert bei der Gnadenlosigkeit und der Präzision dieses Buchs nicht.

Fazit

Die Verbrechen des Kolonialismus, die Abgründe der eigenen Familiengeschichte, die Bigotterie unserer heutigen Flüchtlingspolitik. All das verhandelt Alle, außer mir auf mehr als ansprechende und geschickt montierte Art und Weise. Ein Buch, dass eine andere Geschichte Italiens erzählt, fernab von Dolce vita und Pastaseligkeit. Großartig gemacht und toll von Esther Hansen übersetzt. Ein verdienter Bestsellererfolg!


  • Francesca Melandri – Alle, außer mir
  • Übersetzt aus dem Italienischen von Esther Hansen
  • ISBN: 978-3-442-71686-9 (Wagenbach, Taschenbuch bei btb)
  • 608 Seiten. Preis: 12,00 €

Titelbild: Von Niccolò Caranti – Own work, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=70002512

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Ulrike Draesner – Schwitters

Literarische Künstlerbiografien boomen. Beschäftigte sich mit Markus Orths jüngst mit dem Maler Max Ernst, so wandte sich Robert Seethaler in seinem aktuellen Buch dem Komponisten und Dirigenten Gustav Mahler zu. Und das mit durchwachsenem Erfolg. Nun hat sich auch Ulrike Draesner einen bedeutenden Künstler ausgesucht, von dessen Leben sie erzählt. Es handelt sich um Kurt Schwitters. Einflussreicher Dadaist, Gestalter, Fotograf, Künstler und Urheber des Gedichts An Anna Blume. Ein umtriebiger, getriebener Mensch und ein Sprachkünstler. Ein Protagonist, wie gemacht also für Ulrike Draesner, Professorin für Deutsche Literatur und akribische Spracharbeiterin.

Ein dreigeteiltes Leben

Nach ihrem kompakten Männerporträt in Kanalschwimmer nun also Kurt Schwitters. Dessen Leben erzählt sie dreigeteilt, einsetzend zur Zeit des Nationalsozialismus. Kurt Schwitters entschließt sich, zusammen mit seinem Sohn Ernst und dessen Frau nach Norwegen vor den Nazis zu fliehen. Dort, wo die Familie schon zuvor auf der Insel Hjertøya ihre Urlaube verbrachte, versucht er sich vor den Nationalsozialisten zu verstecken. Zuvor hatten sie Schwitters Kunst als „entartet“ gebrandmarkt. Seine Frau Helma bleibt derweil in der familieneigenen Villa in Hannover zurück.

Ulrike Draesner - Schwitters (Cover)

Doch der Eroberungswillen der Nationalsozialisten kennt keine Grenzen. Immer weiter rücken sie in den Norden vor. Und so tritt Kurt mit seinem Sohn erneut die Flucht Flucht an, immer höher in den Norden hinauf. Schließlich entkommen sie per Schiff aus Norwegen. Eine Odyssee schließt sich an, bei der sie sich schließlich in einem Internierungslager auf der Isle of Man wiederfinden.

Der zweite Teil erzählt dann von Kurt „Körrrt“ Schwitters Leben in England. Seine Frau ist in Hannover verstorben, und so versucht sich Schwitters ein zweites Leben auf der Insel aufzubauen. Sein Schwanken zwischen den Ländern und vor allem zwischen den Sprachen fängt Ulrike Draesner in diesem Teil an. Den letzten Part des Buchs bildet das Nachleben von Schwitters. Der Streit, der um seine Kunst entbrannte, die Kämpfe, die Schwitters Sohn und die Geliebte ausfochten und dergleichen mehr. Davon erzählt Ulrike Draesner dann im Abschluss des Buchs.

Die drei Teile aus deutschem, englischen und Nachleben bilden Schwitters und zeigen einen vielschichtigen, komplizierten und ungemein produktiven Mann. Einen, der sich mit seiner Merz-Kunst beschäftigte, der die Frauen liebte, mit der Sprache kämpfte, der nicht anders konnte, als Künstler zu sein.

Schwitters-Sprache und Draesner-Sprache

Nun kann man über dieses Buch allerdings auch nicht sprechen, ohne über die Sprache des Buchs zu sprechen. Denn Ulrike Draesner eignet sich Schwitters Merz-Sprache an. Sie verknappt, spielt mit Worten, sucht, umkreist, tanzt. Das ist ungemein kunstfertig und untermauert Draesner Status als Wortkünstlerin – manchmal ist es allerdings auch ein wenig zu viel des Guten. Denn vor allem im England-Teil droht die Handlung gegen die Sprache zu verlieren. Etwas antriebslos dreht dieser Teil im Leerlauf und kommt nicht wirklich vom Fleck. Das Verloren-Sein nach dem Krieg, die Unentschiedenheit zwischen Deutsch und Englisch (nicht zuletzt entbrannte über den Staatsbürgerschaft-Antrag Schwitters nach seinem Ableben ein Streit) und die kreativen Themen. Sie interessieren Ulrike Draesner in diesem Teil mehr, als wirklich mit der Handlung voranzukommen. Das lässt diesen Teil gegen den hektischen, immer vorwärts treibenden ersten Teil des Schwitters auf der Flucht etwas blass erscheinen.

Ein Merzheft von Kurt Schwitters

Dieses Sprach-Problem, dass die Handlung an die Wand drückt, ist auch im Nachwort dieses Buchs zu besichtigen. In manchen Passagen droht vor lauter Wortspielen und ungewohnten Zugriffen auf die Sprache dieses Nachwort nahezu unlesbar zu werden. Die Virtuosität, die Draesner hier und an anderen Stellen im Buch ausstellt, ist für mich ein bisschen zu viel des Prunkens. Dass sie umgehen kann mit Sprache wie kaum ein anderer Autor oder eine Autorin, das hat sie ja schon hinlänglich bewiesen. Und auch der erzählerische Kniff, die Verlorenheit Schwitters zwischen der deutschen und englischen Sprache sprachlich nachzubilden, ist durchaus interessant. Hätte sie sich damit zurückgehalten und etwas mehr erzählt, dann wäre das Buch ein Meisterwerk geworden. So ist dieser Schwitters-Roman manchmal sprachlich etwas zu viel des Guten und hätte ein wenig mehr Lektorat und Streichungen verdient.

Fazit

Nichtsdestotrotz originell und eine angemessene Würdigung dieser Gestalt Schwitters, deren vielfältiges Oeuvre und Leben hier wieder begreifbar wird. Und eines, das ein Künstlerleben selbst wieder in ein Kunstwerk überführt. Ein Buch, das an Stelle des blassen Seethaler’schen Mahler-Portraits durchaus einen Platz auf der Longlist beim Deutschen Buchpreis verdient hätte.


Ein kleiner Hinweis noch an alle Leser eines physischen Schwitters-Romans: Es empfiehlt sich durchaus, dem Schutzumschlag etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen zu lassen und diesen einmal abzunehmen.

  • Ulrike Draesner – Schwitters
  • ISBN: 978-3-328-60126-5 (Penguin)
  • 480 Seiten. Preis: 25,00 €
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Thomas Hettche – Herzfaden

Auf wohl keinen Roman habe ich mich als Augsburger mehr gefreut in diesem Herbst als auf diesen: Thomas Hettche erzählt in Herzfaden die Geschichte einer der wichtigsten, wenn nicht DER wichtigsten deutschsprachigen Kulturinstitution der Nachkriegszeit, nämlich die der Augsburger Puppenkiste.


Nachdem er in seinem letzten Roman Pfaueninsel die Erzählperspektive eines kleinwüchsigen Schlossfräuleins wählte, setzt Hettche in seinem neuen Roman das Erzählen aus kleingeratener Sicht fort. In Hettches Herzfaden ist da zunächst ein Mädchen, das nach der Vorstellung im Puppentheater vor dem eigenen Vater durch eine Tür flüchtet. Dadurch gerät es auf einen Speicher. Dort muss es feststellen, dass es auf Puppengröße geschrumpft ist. Das Mädchen findet sich in der Gegenwart ikonisch gewordener Figuren wie etwa dem Urmel oder dem König Kalle Wirsch wieder. Figuren, die das Mädchen trotz seines jungen Alters immer noch kennt.

Thomas Hettche - Herzfaden (Cover)

In die Mitte der geschnitzten Puppen auf dem Speicher tritt eine große Frau, die dem Mädchen in der Folge ihre Lebensgeschichte erzählt. Es handelt sich bei der Frau um Hannelore Marschall , genannt Hatü. Sie ist die Tochter Walter Oehmichens, der zusammen mit ihr das später so bekannte Oehmichens Marionettentheater gründen sollte und in dem sie zur Schöpferin all dieser Figuren wurde, die Hatü und das Mädchen nun umgeben.

Von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg, davon erzählt Hatü dem Mädchen. Und wir als Leser*innen lauschen mindestens ebenso gebannt den Erzählungen der dauerrauchenden Frau. Von den Pogromen, der Armut und dem Leid, das der Krieg mit sich brachte. Davon, wie ihr Vater als Spielleiter des Augsburger Staatstheater zunächst nicht entnazifiert wurde, wie die GIs Augsburg besetzten und wie die Oehmichens alles daran setzten, Ablenkung und Normalität zurück zu den Menschen zu bringen. Von all dem erzählt Hatü dem Mädchen auf dem Speicher, das schon bald dem Charme der Puppen erliegt – aber auch ihre Gefährlichkeit erfährt.

Der Zauber der eigenen Kindheit

Im Kern steckt in Herzfaden eine Frage: haben uns Figuren an Fäden, handgeschnitzt aus Holz und mimisch starr, heute noch etwas zu sagen? Heute, da die Ausdrucksmöglichkeiten der perfekt animierte Charaktere in Film und Fernsehen unerschöpflich scheinen, in der es scheinbar keine Grenzen der Darstellungskunst mehr gibt?

Figuren an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste (hier eine Leihgabe des Puppentheaters ‚Das Puppenschiff‘ in Mainaschaff)

Die Antwort darauf lautet eindeutig ja. Das zeigt nicht nur der anhaltende Erfolg der Augsburger Puppenkiste und mitsamt ihrer immer wieder ausgestrahlten Evergreens. Das zeigt auch Thomas Hettches gelungener Roman, der den Zauber der Kindheit wieder heraufbeschwört.

Herzfaden bringt das Gefühl zurück, als uns Erzählungen an den Lippen der Eltern hingen ließen. Als die Fantasie noch keine Grenzen kannte und als in der eigenen Vorstellung noch alles möglich war. All das macht der Roman wieder erfahrbar. Was kümmert es, dass da ein Mädchen auf der ersten Seite auf Marionettengröße schrumpft und die Rahmenhandlung einem Märchen gleicht? Die Wahl der erzählerischen Mittel entspricht genau dem behandelten Thema. Das macht den Zauber dieses Buchs aus. Wer Realitätsansprüche an das Buch stellt, der sieht sich auch durch Hettches Nachwort eines Besseren belehrt.

Dieser Roman erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und wie jeder Roman ist er selbst ein Marionettenspiel. Personen und Ereignisse, die darin vorkommen, hat es wirklich gegeben, und sind doch erfunden.

Hettche, Thomas: Herzfaden

In Herzfaden ist alles möglich

In Herzfaden ist alles möglich, eben ganz wie in der Fantasie. Und das macht das Buch so lesenswert. Denn der Berliner Romancier begreift sein Handwerk in diesem Buch auch als Marionettenspieler, der um die Bedeutung des Herzfadens weiß, jenes unsichtbaren Fadens, der die hölzerne Marionette mit dem Marionettenspieler verbindet. Seine Figuren und dieses gesamte Buch sind auf alle Fälle durch Herzfäden miteinander verbunden.

Oder wie es Michael Ende in Hettches Herzfaden am Ende des Romans ausdrückt:

„Ich wehre mich einfach dagegen, zu werden, was man einen richtigen Erwachsenen nennt. Eines jener entzauberten, banalen, aufgeklärten Krüppelwesen, das in der entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind in uns bedeutet bis zu unsem letzten Lebenstag unsere Zukunft.

Hettche, Thomas: Herzfaden, S. 272

In diesem Sinne ist Herzfaden ein Buch mit einer großen Zukunft, das auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte. Es ist eine Hymne auf die Fantasie. Endlich mal ein überzeugender Augsburg-Roman, der seine Kulisse ernstnimmt. Ein Buch, das die Kunst des Marionettenspiels ehrt. Und nicht zuletzt ist Herzfaden ein Roman, der den Zauber der eigenen Kindheit wiederbringt.

Hannelore und Walter Oehmichen (Bildquelle: Augsburger Puppenkiste)

  • Thomas Hettche – Herzfaden
  • ISBN: 978-3-462-05256-5
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand

Um den deutschsprachigen historischen Roman ist es nicht gut bestellt. Er gleicht oftmals lieblos produzierter Dutzendware, gerne auch in Form von Trilogien oder mehr, und liest sich, als hätten die Autor*innen eine Geschichte aus der heutigen Zeit einfach ein paar Jahrhunderte nach hinten datiert. Autos werden durch Kutschen oder Pferde ersetzt, die weiblichen Heldinnen sind durchweg tough und emanzipiert und man redet wie im 21. Jahrhundert miteinander. Belanglosigkeit allenorten.

Christine Wunnicke - Die Dame mit der bemalten Hand (Cover)

Doch da gibt es dann zum Glück auch noch Christine Wunnicke. Die Münchner Autorin hat sich im Lauf der Jahre ihre eigene Nische erschrieben. Geschichten voller Exotik, skurrilem Humor und fantasievollen Handlungsbögen, die alle anderen historischen Romane noch blasser wirken lassen, als sie es eh schon sind. Zweimal gelang ihr eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Der Fuchs und Dr. Shimamura im Jahr 2015, Katie 2017). Nun erscheint dieser Tage ihr neues Werk Die Dame mit der bemalten Hand. Und siehe da: auch dieses dritte Buch schaffte den Sprung auf die Longlist des Preises.

Und das zurecht, denn auch dieser Roman ist wieder ein origineller historischer Roman, der diesmal auf eine Insel in Indien entführt.

Drei Männer auf einer Insel

Dort, auf der Insel Elephanta beziehungsweise Gharapuri treffen 1764 zwei ganz unterschiedliche Männer aufeinander. Da ist zum Einen der aus Bremen stammende Carsten Niebuhr, den ein Forschungsauftrag seiner Göttinger Universität hierhergeführt hat. Eigentlich sollte ihn die Reise mit einer Gruppe anderer Forscher nach Arabien führen. Aber es kam alles etwas anders.

Jahrs darauf verließ Carsten Niebuhr Göttingen, um sich mit dem Philologus von Haven, dem Physikus Forsskål, einem Zeichner, einem Arzt und einem schwedischen Diener von Kopenhagen nach Konstantinopel einzuschiffen. Ein vielhundertseitiges Schriftstück, das die Instruktionen und alle Fragen enthielt, welche Professor Michaelis an die Bibel und ans Morgenland stellte, lag in seinm Gepäck. Vueke Gelehrte, aus vielen Ländern Europas, hatten brieflich etwas dazu beigesteuert.

Wunnicke, Christine: Die Dame mit der bemalten Hand, S. 38

Auch der zweite Mann auf der Insel hatte eigentlich ein anderes Reiseziel, nämlich Mekka. Dorthin wollte sich der Astrolabienbauer Musa al-Lahuri samt seines Helfers Malik aus Jaipur ursprünglich begeben. Doch die Windstille hat auch dieses Gespann auf Gharapuri stranden lassen. Dort, auf dieser von wenigen Menschen und vielen Affen bewohnten Insel stößt al-Lahuri nun auf den vom Fieber gezeichneten Niebuhr. Ein Schiff zur Abfahrt von der Insel ist nicht in Sichtweite. Und so lernen sich die beiden Männer allmählich kennen. Man erzählt sich gegenseitig die Lebensgeschichten oder das was man dafür hält. Man redet miteinander und aneinander vorbei, beobachtet den Himmel und kommt ins Philosophieren. Orient trifft auf Okzident.

Präzise gesetzt und von Humor durchdrungen

Die Dame mit der bemalten Hand ist ein Buch, das trotz oder gerade wegen seiner Kürze von 166 Seiten eine genaue Lektüre erfordert. Wunnicke lässt ihre Figuren sich ein ums andere Mal in einem babylonischen Sprachgewirr zwischen Sanskrit, Deutsch und Arabisch verfangen. Die skurrilen Figuren agieren mal hinterlistig, mal tollpatschig, mal staunend, mal salbadernd. Durch Wunnickes ganz eigene Sprache, die pointierten Dialoge und den ihr eigenen Humor entfaltet sich in diesem Buch ein originell verknapptes Panorama zwischen Ost und West.

Der Eingang zum Tempel auf der Insel Elephanta (Stahlstich). Quelle: Wikipedia

Leser*innen, die historische Romane als breit auserzählte Auswanderer-Pilger-Königskinder-Sagas kennen, dürfte das freilich irritieren. Hier ist alles reduziert und mit Genauigkeit gesetzt. Die Figuren, obwohl oft historisch verbürgt, werden von Christine Wunnicke wild auf dem Schachbrett der Geschichte hin- und hergezogen und sind von eigensinnigem Leben erfüllt.

Wie angenehm ist es, dass solche Originalität auch ihren Platz auf dem Buchmarkt hat – wenngleich Christine Wunnicke immer noch den Status eines Geheimtipps besitzt und auch der Berenberg-Verlag, in dem die Autorin erscheint, mit seinen wunderbar gestalteten Büchern eine eher kleinere Rolle auf dem Buchmarkt spielt. Umso schöner, wenn solch literarischer und verlegerischer Mut belohnt wird, wie in diesem Falle mit einer abermaligen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises. Für die Shortlist ist dieses Buch wahrscheinlich zu eigen und wenig massenkompatibel, da es sich den gängigen Schemata widersetzt und für viele zu reduziert und karg sein könnte. Ich freue mich aber wirklich für Christine Wunnicke und die Aufmerksamkeit, die diesem Buch hoffentlich zuteil wird! Die Dame mit der bemalten Hand verdient es.

Marie Schmidt traf die Autorin für die SZ, Hauke Harder verfasste für den Leseschatz ebenfalls eine Rezension. Und auch bei Sätze&Schätze findet sich seit neuestem eine Rezension zum neuen Buch von Christine Wunnicke.


  • Christine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand
  • ISBN 978-3-946334-76-7 (Berenberg-Verlag)
  • 168 Seiten. Preis: 22,00 €
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