Category Archives: Historischer Roman

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras

900 Seiten pralles Leben in Südindien. Über siebzig Jahre hinweg zeichnet der Autor Abraham Verghese in seinem Roman Die Träumenden von Madras Schicksale, gesellschaftliche Entwicklungen und jede Menge Medizingeschichte nach. So liefert der Roman Einsichten in eine Region, die im westlich geprägten Literaturmarkt kaum präsent ist.


Travancore, eine Region in an der Ostküste im Süden Indiens. Hier spielt der Großteil von Abraham Verghese voluminösen Romans Die Träumenden von Madras, der im Jahr 1900 einsetzt. Es ist das Jahr, in dem die Frau verheiratet werden soll, die später als Big Ammachi die Geschicke des Dorfzentrums Parambil leiten soll.

Doch bis es soweit ist, wird noch viel Zeit vergehen – und droht zunächst sogar die Hochzeit zu scheitern. Denn die von Heiratsvermittlern und dem Onkel des jungen Mädchens vorangetriebene Verheiratung steht auf der Kippe, als der künftige Ehemann vor dem Altar flieht, als er des 12-jährigen Mädchens ansichtig wird. Er, der schon einmal verheiratet war und bereits ein Kleinkind zuhause hat, soll nun ein weiteres Kind ehelichen? Diese Hochzeit wird durch viel Zureden trotzdem vollzogen – und soll sich entgegen aller Erwartungen tatsächlich als Glücksfall erweisen.

Denn nach einer langen Zeit der Eingewöhnung und des Kennenlernens finden Big Ammachi und ihr Ehemann zu einem gemeinsam Umgang dort in jenem Haus, das das Zentrum von Parambil bildet. Über 200 Hektar Wald und Anbaufläche umfasst das Gebiet, das von vielen Flüssen durchzogen ist. Fast überall kann man den Spaten in den laterithaltigen Boden stechen , um rostrotes, an Blut erinnerndes Wasser aus dem Boden quellen zu sehen.

Im Süden Indiens

Es ist eine reichhaltige Landschaft, in die Big Ammachi nun eintaucht und in der sie Stück für Stück Wurzeln schlägt.

Das Zuhause der jungen Braut und ihres verwitweten Bräutigams liegt in Tracanvore an der Südspitze Indiens, eingezwängt zwischen dem Arabischen Meer und den Westhats – dem langen Gebirgszug, der parallel zur Küste verläuft. Das Land ist geprägt vom Wasser, und seine Bewohner sind durch eine gemeinsame Sprache vereint: Malayalam. Wo das Meer auf weißen Strand trifft, schiebt es Finger ins Land, um sich mit den Flüssen zu vereinen, die sich die grün bedachten Hänge der Ghats herabwinden. Es ist die Phantasiewelt eines Kindes aus Bächen und Kanälen, ein Gitterwerk aus Seen und Lagunen, ein Labyrinth aus Altwassern und flaschengrünen Lotusteichen: ein riesiger Kreislauf, denn wie ihr Vater immer sagte, alles Wasser ist verbunden.

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 22

Doch das Wasser, es ist nicht nur Paradies, sondern bedeutet vor allem für die männlichen Nachkommen der Familie ihres Ehemanns Gefahr. Immer wieder finden Männern den Tod im Wasser und haben deshalb begonnen, dieses zu meiden.

Familien- und Medizingeschichte

Abraham Verghese - Die Träumenden von Madras (Cover)

Wieso dem so ist, das ist eine der großen erzählerischen Linien, die durch diesen mäandernden Fluss von Buch führt. Denn neben dem Leben und dem Vergehen der Zeit in Parambil macht vor allem die Medizingeschichte einen großen Teil dieses Romans aus.

Wie schon in seinem Bestseller Rückkehr nach Missing ist lässt sich auch hier der medizinische Hintergrund Abraham Verghese nicht leugnen, arbeitet er doch als Arzt und lehrt als Professor am Stanford University Medical School. Wie schon in seinem 2008 erschienen Vorgängerroman stehen auch hier Ärzte und Chirurgen eine große, wenn nicht sogar die entscheidende Rolle.

So gibt es den schottischen Arzt Digby Kilgour, der sich zunächst im Madras der 30er Jahre seine medizinischen Sporen verdient und später in einem Leprosarium seine Berufung finden wird. Sein Schicksal verflicht sich mit der Familie von Big Ammachi, darüber hinaus bekommen es fast alles Figuren im Lauf des Romans mit schwierigen Entbindungen oder anderen medizinischen Notfällen zu tun.

Abraham Verghese trifft Gabriel Garcia Marquez trifft Noah Gordon

So liest sich Die Träumenden von Madras an vielen Stellen, als hätte Abraham Verghese Gabriel Garcia Marquez‚ Dorf Macondo nach Kerala verpflanzt und dazu noch Noah Gordon eingeladen, um die Schilderung von Medizingeschichte einfließen zu lassen.

Das Ganze verbindet sich so zu einem üppigen Roman, der mit vielen Schicksalen und Tiefschlägen, aber auch erhellenden Momenten dort im Süden Indiens aufwarten kann. Und auch wenn das Kastensystem, die Misogynie oder das Ende der britischen Kolonialherrschaft an einigen Stellen aufblitzen, hätte Die Träumenden von Madras tatsächlich in meinen Augen noch etwas mehr Zeitgeschichte und Kolorit vertragen.

Mahatma Ghandi etwa spielt fast überhaupt keine Rolle und grüßt nur einmal aus der Ferne. Stattdessen konzentriert sich Verghese eher auf das Schicksal des Ammachi-Clans mitsamt sämtlichen Volten und medizinischen Ereignissen. Erst ganz am Ende der fast 900 Seiten Saga aus der indischen Provinz rundet sich dann alles und erklärt auch die Konstruktion dieses Romans, die schlussendlich noch einmal für viel Wucht und familiäres Drama sorgt.

Fazit

Die Träumenden von Madras ist ein Roman, der eine Familie über verschiedene Generationen nachverfolgt, der zeigt, wie sich innerhalb von knapp achtzig Jahren die Gesellschaft und das Leben in Indien wandelten, welche Probleme das Land umtreiben und wie sehr auch die Medizin im Verlauf des 20. Jahrhunderts dazugelernt hat.

„Das ist Literatur! Literatur ist die große Lüge, die die Wahrheit darüber spricht, wie die Welt lebt!“

Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras, S. 295

Abraham Verghese erweist sich nach diesen Worten, die eine der Figuren im Gespräch über Moby Dick und die Frage nach dessen Fiktionalität ausruft, als großer Lügner. Mit seiner fiktiven Geschichte aus dem Süden Indiens erzählt er uns viel Wahrheit über ein Land, das trotz seiner immensen Größe und seines wachsenden Einflusses uns noch immer fern ist. Auch wenn sein Epos noch etwas mehr geschichtliche Wahrheit und an der ein oder anderen Stelle etwas mehr Subtext vertragen hätte, ist Die Träumenden von Madras doch auch große Unterhaltung, die die Höhen und Tiefen des Familienclans von Big Ammachi mit Sinn für die Brüche im Leben der Figuren nachzeichnet.


  • Abraham Verghese – Die Träumenden von Madras
  • Aus dem Englischen von Eike Schönfeld
  • 978-3-458-64393-7 (Insel-Verlag)
  • 894 Seiten. Preis: 28,00 €
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Mithu Sanyal – Antichristie

Zwischen Statuensturz und Hercule Poirot, Locked Room Mystery und Kolonialismuskritik, Doctor Who und Mahatma Gandhi. In Antichristie lässt Mithu Sanyal ihre Heldin zwischen Geschlechtern und Zeitebenen hin- und herwechseln und erzeugt damit neben einem kolonialismuskritischen Blick auf das britische Empire auch großes erzählerisches Chaos, das herausfordert.


Zwölf Tage sind es, die die Handlung von Antichristie gliedern. Zwölf Tage, die für die 12 D-Days, also Tage nach dem Tod von Queen Elizabeth II. stehen. Sie geben dem Roman Struktur, die dringend notwendig ist, bietet doch der Inhalt der Kapitel jede Menge Konfusion, Zitatgewitter, postkoloniale Thesen und Auseinandersetzungen, Nerdtum und Zeitreisen.

Die Queen ist tot, ebenso wie Lila, die Mutter von Durga Chatterjee. Kaum ist die Asche ihrer Mutter verstreut, fliegt Durga in das von der kollektiven Trauer um die Queen als Verkörperung des britischen Empires erfasste London. Dort soll sie als Teil eines Writers Room für eine Neuinterpretation von Agatha Christies ikonischem Detektiv Poirot sorgen. Die Gruppe versammelt sich im Florin Court, um dort im Kollektiv eine frische Version des belgischen Ermittlers fürs Fernsehen zu kreieren. Ausdrücklich soll Poirot dekolonisiert werden, eventuell als Schwarzer in Erscheinung treten.

Die Dekolonisierung des Hercule Poirot

Mithu Sanyal - Antichristie (Cover)

Ein Affront gegen die geschundene britische Seele, die schon mit der Trauer um ihre Queen befasst ist, und jetzt auch noch ein solches Vergehen am Werk der Queen of Crime ertragen muss. Während die Proteste um das Vorhaben anheben, erlebt Durga, die mit einem Zweiteiler der britischen Kultserie Doctor Who schon Erfahrungen in Sachen Drehbuchschreiben und erzählerischer Zeitreisen sammeln konnte, plötzlich selbst eine solche Zeitreise. Diese transferiert sie ins Edwardianische London zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dort bekommt sie es mit einem aus dem Ruhestand zurückgekehrten Sherlock Holmes, vor allem aber mit den kolonialen Verbrechen der Engländer zu tun.

Denn nicht genug damit, dass Durga plötzlich in eine andere Zeit gewechselt ist. Auch ihr Geschlecht hat sich geändert. Plötzlich findet sie sich im Körper des Inders Janeev wieder, der Zugang zum Zirkel des India House in London erhält. Das, was für die Engländer schlicht eine Pension für indische Studenten ist, ist in Wahrheit doch viel komplexer. Fünfundzwanzig Räume, eine Bibliothek und vor allem viel Disput und Debatten kennzeichnen das Haus, in dem sich exilierte Inder*innen versammeln, die die Folgen des Kolonialismus am eigenen Leib erfahren haben. Allen voran Veer Savarkar ist ein intellektueller Impulsgeber dieses diskussionsfreudigen Hauses, den Durga nun selbst kennenlernt.

Zeitreise ins India House

War Sarvarkar zunächst vor allem in der Darstellung von Durgas Mutter Lila das Gehirn hinter dem Mord an Mahatma Gandhi, gewinnt Durga alias Janeev bei ihrer Zeitreise nun erheblich komplexere Einblicke in das Denken dieses Mannes und der Seelenlage der Inder*innen, die das Joch der britischen Fremdregierung jeden Tag spüren und sich erst Jahrzehnte später von der Herrschaft Englands freimachen konnten.

„So gut wie ihr Hegel?“, fragte Savarkar und stieß mich an.

„Mein was?“ sagte ich überrascht, doch er hatte natürlich nicht mit mir gesprochen.

„Ein deutscher Philosoph“, antwortete Sherlock, als hätte er den Unterton in Savarkars Stimme nicht gehört.

„Ein Rechtsphilosoph“, spezifizierte Savarkar, „der Kolonialismus als Lösung für das Problem der Armut in … unseren Ländern gerechtfertigt findet. Dabei sind wir nur arm, weil ihr Engländer unseren Reichtum abschöpft wie Sahne von der Milch, bevor ihr dann auch noch die Milch trinkt und den Krug stehlt.“

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 380

Debatten über Debatten

Es wird viel debattiert in Sanyals Buch. Sherlock Holmes debattiert da mit Veer Savarkar, Durga diskutiert im Writers Room mit ihren Mitstreiter*innen über die Neuanlage Hercule Poirots, De-Kolonisierung und Auswirkungen des Kolonialismus werden ausführlich beleuchtet. Immer wieder fliegen Durga Gedanken zu, gewinnt sie durch ihr Wissen aus der Jetztzeit neue Perspektiven auf die Vergangenheit und anders herum. Das könnte sehr erhellend sein, wenn Mithu Sanyal wie schon in ihrem Debütroman Identitti nicht die Hektik zum durchgängigen Stilmittel erhoben hätte.

„Marx? Marx? Wo habe ich den Namen schon einmal gehört?“, murmelte Savarkar und einen Moment war es, als wäre ich an Erinnerungen angeschlossen, die ich nie gehabt hatte, und ich WUSSTE, dass Karl Marx´ Enkel Jean Longuet Savarkar in wenigen Jahren vor dem Internationalen Gerichtshof verteidigen würde, um zu verhindern, dass er nach Kala Pani geschickt wurde. So musste sich das Internet fühlen, wenn es fühlen könnte. Ein Rauschen von Gedanken und Bildern flüsterte durch meine Nervenbahnen, alles Wissen und Nicht-Wissen, Wahrheit und Lüge und Irrtum und alles, alles gleichzeitig.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 168

Hektik als erzählerisches Mittel der Wahl

Schon der Beginn lässt den Leser und die Leserin verwirrt zurück. Der Trauerfall, der Writers Room, die plötzliche Zeitreise, die von und hin und her schwirrenden Dialogen und Fetzen solcher Dialoge begleitet werden. Es braucht gute Nerven und Motivation, bei diesem erzählerischen Dauerfeuer und „Abnerden“, wie es die Autor*innen im Raum selbst einmal bezeichnen, am erzählerischen Ball zu bleiben, wird dieses Zitat- und Theoriefeuer im Lauf des Buchs doch nicht eingestellt, sondern eher im Gegenteil erhöht.

Von dem Motiv der Zeitreise bis zur Faszination des Krimis, der in diesen Roman in Form eines klassischen Locked Room Mystery einfließt (das Rätsel eines Verbrechens in einem von innen verschlossenen Raum, der sich vor allen in den Kriminalromanen des sogenannten Goldenen Zeitalters von S. S. van Dine bis hin zu John Dickson Carr größter Beliebtheit erfreute), von Hegel bis zu Herbert Spencer bis zu Mahatma Gandhi reicht das intellektuelle Gewitter, das Mithu Sanyal hier entfesselt. Immer wieder überlagern sich die Zeitebenen von Gegenwart und Vergangenheit, kommt es zu Interferenzen zwischen den beiden Welten und beiden Durgas.

Mitunter verliert mich Mithu Sanyal dabei, insbesondere wenn Debatten in Dialogform über Seiten geführt werden oder die berechtigten Anliegen und Denkanstöße von Antichristie in ein Passagen wie der folgenden fast ins Parodistische kippen, wenn Durga als Erzählerin ihr Problembewusstsein allzu ostentativ ausstellt:

Als wäre alles noch nicht schlimm genug, kam Savarkar als Nächstes auf die Idee, eine Delegation von India House nach Marokko zu schicken, um im Rifkrieg an der Seite der aufständischen Amazigh, die damals noch [Triggerwarnung] Berber genannt wurden, gegen die spanischen Besatzer zu kämpfen. Erst als ich das N-Wort und das Z-Wort schon jahrelang nicht mehr verwendete, lernte ich, dass das B-Wort ebenfalls eine rassistische Erniedrigung darstellte, so wie Barbaren, weil es -wörtlich – Barbaren bedeutete. Die Idee hinter dieser Delegation war, einem Schwester-, nein, Brudervolk gegen eine Kolonialmacht beizustehen und dabei ganz nebenbei Militärerfahrung zu sammeln.

Mithu Sanyal – Antichristie, S. 350

Antikolonial, antirassistisch und problembewusst

Manchmal macht es Antichristie seinen Gegnern hier zu leicht, die das Werk als eines zu schmähen, das vor lauter „Wokeness“ seine eigentliche Handlung vergisst. Alles hier ist antikolonial, antirassistisches und problembewusst. Dagegen kann man ja eigentlich kaum etwas einwenden. Nur hätte ich gerne etwas mehr erzählerische Ruhe, klareren Fokus und eine literarischere Gestaltung denn den Ton eines erklär- und dozierfreudigen Sachbuchs, der viele Passagen und die geradezu inkommensurablen Debatten von Antichristie durchzieht.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Mithu Sanyals Roman ein erzählerisches Werk, das die Synapsen glühen lässt, das herausfordert, überfordert, mitnimmt ins vergangene London und einen auch manches Mal zurücklässt. Anspielungsreich, theoriegesättigt, aufklärerisch, mit Freude am Spiel und Rätsel ist Antichristie ein anderer Blick auf das vermeintlich so knuffige England und die indische Geschichte.


  • Mithu Sanyal – Antichristie
  • ISBN 978-3-446-28076-2 (Hanser)
  • 544 Seiten. Preis: 25,00 €
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Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang

Vom möglichen Königsmord bis zum Aufstieg der Rechten. Donata Rigg und Claudia Klischat beschreiben in ihrem Roman Zeitlang die Geschichte einer bayerischen Familie, die zurückreicht bis in die Zeit König Ludwigs II. Dabei überraschen sie nebst einem ambitionierten Erzählplot mit stilistischer Vielfalt


Der Aufstieg der Neuen Rechten, er ist ein Thema, auf den die deutschsprachige Gegenwartsliteratur noch nicht wirklich geantwortet hat. Literarisch anspruchsvolle Romane abseits des Sachbuchs, die den Komplex der AfD, ihrer Genese und die Menschen im Hintergrund beleuchten, sie sind bislang noch nicht geschrieben worden. Donata Rigg und Claudia Klischat machen sich nun daran, dies zu ändern.

Dabei siedeln sie ihren Roman in einem Landstrich an, in dem die AfD im Gegensatz zu Ostdeutschland noch nicht wirklich dominant ist: die Rede ist vom bayerischen Voralpenland, genauer gesagt dem Ammersee. Zwar bleibt jener See in ihrem Buch aber ebenso ungenannt wie die erstarkende neurechte Partei, für die Benedikt Zwicker, jüngster Spross der im erzählerischen Mittelpunkt stehenden bayerischen Dynastie, tätig ist. Dennoch sind die Bezüge klar, liegt der See im Buch neben dem Fürstensee, der nichts anderes als der Starnberger See ist und sitzt oberhalb des Ortes die Finanzschule, der man nach dem Zweiten Weltkrieg erst noch den Reichsadler mitsamt Hakenkreuz in den Klauen aus der Fassade herausmeißeln musste. Man ist also zu Gast in Herrsching am Ammersee, das im Roman den Namen Herzach trägt und in dem Benedikts Familie lange Zeit ansässig war.

Eine entzweite Familie

Doch zu Beginn des Romans ist davon nichts mehr übrig. Die Familie ist im Streit entzweit, die Tante ist mittlerweile im Besitz des Hauskomplexes, zu dem auch der Fischladen zählt, den die Familie Bader/Maurer schon seit den Zeiten Ludwigs II. betrieben hat. Doch die Hälfte der Familie wohnt inzwischen in Freiburg, wo genügend Abstand zur verfeindeten Schwester herrscht. Und auch Benedikt selbst hat sich noch einmal ein ganzes Stück weiter von seiner Familie entfernt – und das nicht nur geografisch.

Donata Rigg, Claudia Klischat - Zeitlang (Cover)

So wohnt er in Wien, wo er lange Zeit für eine hippe Werbeagentur gearbeitet hat, ehe ihn ein besonderer Auftrag zum Spindoktor eines Politikers gemacht hat, der ebenso wie dessen neugegründete patriotische Partei an die Macht will. Von der Betreuung des Social-Media-Auftritts bis hin zu Coaching reichte Benedikts Arbeit für den Politiker, der stark am rechten Rand fischt und den er aufgrund seiner Herkunft auf den Namen „Hunsrück“ getauft hat.

Es ist ein Job, der ihn auch von seiner Partnerin Marianne entfernt hat. Weder sie, noch seine Schwester Agnes noch seine Familie können verstehen, was den freigeistig und liberal erzogenen Jungen zum Unterstützer dieser Partei hat werden lassen, die mit gezielten Provokationen und Tabubrüchen auf Stimmenfang geht.

Dabei ist das rechte Gedankengut quasi schon Teil der familiären DNA, wie Claudia Klischat und Donata Rigg in ihrem voluminösen Buch zeigen. War der Urgroßvater noch strammer Anhänger des bayerischen Königs und der Monarchie, so war es der Großvater, der in einer Absatzbewegung zum eigenen Vater mit der neugegründeten Nationalsozialistischen Partei sympathisierte und gegen Widerstände vor Ort in Herzach zum Parteimitglied wurde.

Zeitgeschichte in Zeitlang

Die generationalen Zeitläufe beschreiben Klischat und Rigg detailliert, schreiten von Geschehnissen der Jetztzeit wie etwa den pandemiebedingten Grundrechtseingriffen bis tief in die Vergangenheit. Ihr Roman ist voller Zeitgeschichte wie etwa den möglichen Mord an König Ludwig II. im Starnberger See, den der Großvater mit eigenen Augen beobachtete. Auch sind die Auswirkungen des politischen Münchens im 20. Jahrhundert stets in Herzach zu spüren, wo sie in gebrochenen zeitgeschichtlichen Wellen anlanden wie das Wasser, das an den Steg der familieneigenen Badeanstalt dort am See schlägt.

Politik, eine familiäre Chronik und politische Umschwünge bilden den Hintergrund von Zeitlang. Ebenso ist der Roman ein Buch über familiäre Konflikte und zerfallende Gewissheiten. Das wissen Claudia Klischat und Donata Rigg mit einer stilistischen und formalen Vielfalt zu verbinden, die sich im Lauf des Buchs steigert.

Zwar erinnert der Einstieg rund um Benedikt und dessen Tun an andere Generationenromane und die Episode um Urgroßvater Maurer und dessen königstreue Einstellung zunächst noch an einen konventionellen historischen Roman. Doch je weiter das Buch voranschreitet, umso vielfältiger werden die Töne und Gestaltungsmittel. Bayerische Einsprengsel, ein Diktat an den Sohn, Listen oder ein ganzes Kapitel über den Kontakt zwischen Eltern und ihrem Sohn im Zweiten Weltkrieg, der über Feldpostbriefe erzählt wird. Das alles sorgt in Verbindung mit den zwischen Vergangenheit und Gegenwart alternierenden Erzählsträngen für Abwechslung auf den über 600 Seiten des Romans.

Dass hier auf den letzten Metern des Romans Oskar Maria Graf seinen Auftritt hat, ist wahrlich kein Zufall. Ähnlich raumgreifend wie dieser in Das Leben meiner Mutter gestalten Donata Rigg und Claudia Klischat hier ihren Roman zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die miteinander verbunden sind. Und auch in bajuwarische Gemütlichkeit und Heimattümmelei verfallen sie ähnlich wie Graf in seinem Werk nie.

Ob die Verzahnung der Familiengeschichte und ihrer vielgestaltigen Motivik mit dem in der Gegenwart spielenden Strang um den zum rechten Spindoktor mutierten Benedikt Zwicker restlos aufgeht, da bin ich mir nicht wirklich sicher. So ist für mich die historische Komponente etwas stärker als die Erzählung über Benedikt Zwicker und dessen Flirt mit dem rechten Rand durch seine Tätigkeit als Spindoktor.

Fazit

Davon unbesehen ist Zeitlang aber wirklich ein Roman von Großformat, was die beschriebene Zeit und die Fülle an Handlung an Form und Stil anbelangt. In Zeiten, in denen Bayern literarisch hauptsächlich für Heimatkrimis von Rita Falk, Jörg Maurer oder Klüpfel und Kobr wahrgenommen wird, zeigen Donata Rigg und Claudia Klischat, dass es auch anders geht. Ihnen gelingt ein ambitionierter Roman in Sachen Anspruch und Inhalt, der literarisch zum interessantesten zählt, was über (Ober)Bayern in den letzten Jahren geschrieben wurde!


  • Donata Rigg/Claudia Klischat – Zeitlang
  • ISBN 978-3-550-20255-1 (Ullstein)
  • 624 Seiten. Preis: 26,99 €
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Sven Recker – Der Afrik

Afrika liegt in Baden. Zumindest ein kleiner Teil. Diese geografisch neue Erkenntnis verdankt sich dem dritten Roman von Sven Recker. Dieser zeichnet in Der Afrik das Schicksal deutscher Auswanderer im 19. Jahrhundert nach und lässt einen Außenseiter im Badischen einen verhängnisvollen Plan vorantreiben.


Pfaffenweiler ist ein kleines Dorf, das südlich von Freiburg im Breisgau gelegen ist. Weinhänge prägen die Umgebung des Städtchens, das etwa 2500 Einwohner*innen zählt. Einer dieser Weinhänge hat eine ganz besondere Geschichte, die auch den erzählerischen Rahmen von Seven Reckers Roman Der Afrik bildet.

Denn dieser trägt den Namen Afrika. Eine auf den ersten Blick ungewöhnliche Namensgebung, die in Zusammenhang mit dem Denkmal steht, das sich im Wald oberhalb der Gemeinde verbirgt. Denn dieses setzt den Auswanderern ein Denkmal, die sich im 19. Jahrhundert auf den Weg nach Afrika machten.

Hunger, Armut und fehlende Perspektiven verbunden mit einer großen Werbeoffensive des Bürgermeisters und der Politiker aus dem nahegelegenen elsässischen Colmar hatten für einen großen Aufbruch des armen Bevölkerungsteils von Pfaffenweiler gesorgt. 23 Familien mit insgesamt 132 Menschen sollten nach Afrika geschickt werden. Dort in Algerien würden die Auswanderwilligen nahezu paradiesische Zustände erwarten. Genug zu essen, Felder, die zu bestellen wären, wirtschaftlicher Aufstieg und Sorgenlosigkeit. So suggerierte es zumindest die Werbekampagne der Verantwortlichen.

Um die Reise der Menschen zu finanzieren, verfiel die Stadt unter Leitung des Bürgermeisters auf eine besondere Idee: so sollte ein naher Wald abgeholzt werden, um aus dem Erlös dieser Aktion die Reisekosten für die Ausreise zu bestreiten. Der Auswanderern zu Ehren taufte man den Weinhang auf den Namen Afrika.

Alles andere als paradiesische Zustände

Doch dieses Afrika, es war alles andere als paradiesisch, wie Sven Recker in seinem Roman zeigt. Entbehrung, krasser Mangel an allem, Hunger und Tod waren es, die die Auswanderer in Nordafrika erwarteten, wenn sie nicht schon auf der Reise dorthin gestorben waren.

Sven Recker - Der Afrik (Cover)

Niemand sollte diese Auswanderung überleben – bis auf einen Mann. Franz Xaver Luhr, genannt der Afrik, war es, der es aus Paffenweiler nach Afrika und wieder zurück geschafft hatte. Dieser historischen Figur setzt Sven Recker nun ein Denkmal, das von der Auswandererbewegung und den fatalen Folgen des Erlebten auf Körper und Geist erzählt. Ebenso bietet Der Afrik Parallelen zur heutigen Zeit an, in der wieder Schleuser mit Lügen und Propaganda über das bessere Leben auf anderen Kontinenten Menschen ins Verderben locken.

Um seine Geschichte zu erzählen, wählt Sven Recker ein außergewöhnliches literarisches Gestaltungsmittel. So greift er auf die unmittelbare Du-Anrede zurück, mithilfe derer er ganz tief in die Gedankenwelt des Afrik eindringen kann. Denn dieser hat nicht nur an seinem Körper schwere Schäden erlitten – auch sein Geist ist vom Erlebten zerrüttet. Überall sieht er einen Nachtkrapp, imaginiert sich wieder zurück zu seinem Freund Djiali, den er in der Wüste kennengelernt haben will und spricht mit sich selbst.

Seelische und körperliche Zerrüttungen

Du!

Depp!

Du!

Du weißt, was die Leute sagen. Sie glauben, die Sonne Afrikas hätte dein Hirn vollkommen verbrannt. Wenn du ins Dorf gehst, kommen die Kinder und rufen dir nach:

Du!

Du!

Depp!

Du!

Wenn sie sie dich verhöhnen, beißt du dir in die Hand, aber der Drang, das zu antworten, was du auf keinen Fall sagen willst, geht nicht weg und du brüllst:

Depp!

Du!

Depp!

Die Kinder lachen, dann rennen sie weg. Du würdest gerne eines von ihnen schnappen und am Ohrläppchen ziehen. Du traust dich nicht, stattdessen denkst du an deinen Stollen und den Sprengstoff, den du ihren Vätern seit Jahren schon bei deiner Lohnarbeit in ihren Steinbrüchen stiehlst. Bei dem Gedanken lachst du laut auf. Es klingt, als würdest du bellen und sie denken erst recht, du wärst verrückt.

Sven Recker – Der Afrik, S. 12

Eindringlich schildert Recker die Traumata des Erlebten, den heuchlerischen Umgang der Stadtspitze mit den Ausgewanderten und erzählt vom Wunsch nach Rache, der den Afrik umtreibt. Denn seit seiner Rückkehr arbeitet er an einem großen Plan, den er mit Beharrlichkeit vorantreibt: Afrika soll verschwinden. Mithilfe eines über die Jahre in den Berg gegrabenen Stollen und Dynamit soll es schon bald soweit sein. Der ganze Hang soll in die Luft gesprengt werden.

Der Plan des Afrik

Doch so einfach ist das mit dem Plan nicht. Denn schon auf den ersten Seiten des Romans findet der Afrik in seiner ärmlichen Kate einen Jungen, der eine Botschaft bei sich trägt. Dieser verkündet den Namen des Jungen, nämlich Jacob. Zudem heißt es da, dass er zur Familie des Afrik gehört.

Dies sorgt für eine Unterbrechung des Plans, auf den der Afrik so lange hingearbeitet hat. Denn plötzlich gilt es, für diesen Jungen zu sorgen, der so unverhofft in sein Leben getreten ist. Dabei rührt das Auftauchen auch wieder an alten Traumata…

Es stecken viele Themen in Reckers Buch. Eindringlich erzählt er vom Schicksal des Afrik, das durch die Du-Perspektive eine ganz eigene Intensität bekommt. Dessen Selbstgespräche, Flashbacks und Psychosen zeigen das Bild eines Mannes, dem alles genommen wurde. Aber auch darüber hinaus ist die Geschichte der Auswanderer und deren erschütterndes Schicksal gut eingebunden in den Roman bis hin zur Aktualität, die diesem historischen Roman innewohnt. Der Afrik erzählt von staatlich organisiertem Aufbruch, von Schleusern und der universellen Hoffnung auf ein besseres Leben.

Fazit

Recker gelingt ein beeindruckendes Werk, das der baden-württembergischen Auswandererbewegung und deren Schicksal ebenso ein Denkmal setzt wie dem historisch verbürgten Franz Xaver Luhr. Historisch und aktuell zugleich, literarisch und spannungstechnisch wohldurchdacht – und das alles auf gerade einmal gut 150 Seiten. Ich bin beeindruckt!

Mehr Informationen zu Sven Reckers Roman gibt es unter anderem auch beim SWR, bei Birgit Böllinger und bei Hauke Harders Blog Leseschatz.


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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch vor und belässt vieles im Ungefähren, statt sich mit eindeutigen Zuordnungen und Einordnungen aufzuhalten.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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