Christopher Kloeble – Das Museum der Welt

Bartholomäus: Apostel, Märtyrer, Verkünder der Frohen Botschaft und von Jesus Christus als „Mann ohne Falschheit“ bezeichnet. Vor allem in Indien und Mesopotamien soll er gewirkt haben, was ihn zum perfekten Namenspatron des Helden in Christoph Kloebles neuem Roman Das Museum der Welt macht.

Denn sein Ich-Erzähler Bartholomäus wächst um 1850 als Waisenjunge in Bombay auf. Von seinem Ziehvater „Vater Fuchs“, einem bayerischen Missionar, wird er im Glauben unterwiesen. Aber auch die Naturwissenschaften verehrt jener Vater Fuchs und tritt für die Autonomie Indiens ein. Als Waisenkind unter der Fittiche der bayerischen Missionare lernt Bartholomäus schon früh, wie es ist, ausgegrenzt zu werden. Von seinen Mitbewohnern im Waisenhaus wird er permanent schikaniert und auch von Vater Fuchs Mitbruder züchtigt den circa 12 Jahre alten Jungen, wo es nur geht. Doch Bartholomäus ist ebenso unbeirrbar in seinem Glauben an Vater Fuchs, wie es sein Namenspatron einst war. Als Junge ohne Falschheit erlebt er die Welt, trägt sein Herz auf der Zunge und eckt damit das ein um das andere Mal an in einer Welt, deren Spielregeln sich Bartholomäus nicht immer erschließen.

Doch dann verschwindet Vater Fuchs von einem auf den anderen Tag aus Bartholomäus‘ Leben. Und der junge ist völlig auf sich alleine gestellt, hat er doch seinen einzigen Fürsprecher verloren. Da kommt die Expedition dreier wunderlicher Brüder aus Bayern gerade recht. Diese Brüder, die auf den Namen Schlagintweit hören, wollen ähnlich wie ihr großes Vorbild Alexander von Humboldt, die Welt Indiens erkunden. Dank seiner bayerischen Sprachkenntnisse, die sich Bartholomäus im Haus der bayerischen Missionare erworben hat, wird er zum Übersetzer der drei Brüder. Zusammen brechen sie auf, um Indien zu erkunden.

Die Erkundung Indiens

Die drei so unterschiedlichen Brüder machen sich also mit einem ganzen Treck an Trägern, Übersetzern und lokalen auf, um der Vermessung Indiens voranzutreiben. Im Auftrag der East India Company sollen die das Land vermessen und kartieren. Bombay und Kalkutta sind dabei nur die ersten Stationen auf einer Reise, die mindestens ebenso viele Gefahren wie Entdeckungen bereithält. Ganz nah dran immer Bartholomäus, der auf den Reisen sein Museum der Welt im Gepäck hat. Denn er möchte das erste Museum Indiens gründen und sammelt deshalb alles, was ihm wichtig erscheint. Und das sind von Gegenständen bis hin zu Emotionen die unterschiedlichsten Dinge, die ihm auf seiner Reise mit den Schlagintweits begegnen.

Aus München auf die höchsten Berge und bis nach Indien: Die Gebrüder Schlagintweit

Diese ganzen Gegenstände, die Bartholomäus sammelt, bilden die Überschriften des Buchs. Immer spielen die Fundstücke im folgenden Kapitel eine Rolle. Mal sind es Erfahrungen oder biographische Hintergründe, dann aber auch wieder Begegnungen mit Menschen oder Konkretes wie Opiumpflanzen. Über diese Feinordnung hinaus montiert Christopher Kloeble seinen Roman in chronologischer Reihung, die in Bombay 1854 beginnt.

Als Romancier kann man sich über die Geschichte der Schlagintweit-Expedition freuen. Hier liegt die Geschichte ja schon förmlich auf der Straße. Eine Expedition dreier Bayern ins exotische Indien. Spionage, Vermessung, Humboldt-Freundschaft, ein auf seiner Reise hingerichteter Bruder. Da erzählt sich so eine Geschichte fast wie von selbst.

Erzählerische Manierismen

Tatsächlich ist Das Museum der Welt ein großer Bilderbogen, der mich manchmal mit seinen erzählerischen Manierismen nervte. So ist die Welt Indiens eh schon voller Bezeichnungen und Titel, die sich uns nicht erschließen. Dann hat aber auch Bartholomäus die Angewohnheit, sämtliche Entitäten in seiner Welt mit eigenen Bezeichnungen zu belegen. So sind etwa Vickys die Kolonialherren, da es sich ja um Viktorianische Truppen handelt, die in Bombay das Sagen haben. Ab und an eingestreut haben solche Termini ja ihren Reiz. Aber inmitten dieser Bezeichnungen von Makadam, Devinder, Train, Khansaman, Bihishti, Rakscha, Raja, Smitaben und so weiter und so fort verlor ich sukzessive den Überblick.

Christoph Kloeble - Das Museum der Welt (Cover)

Ein Glossar oder Personenverzeichnis wäre hier eine sinnige Ergänzung zum Roman gewesen, auf das man (zumindest in der mir vorliegenden Ausgabe) verzichtet hat. Eine Entscheidung, die mir den Lektüregenuss etwas verleidet hat.

Abgesehen von diesen stilistischen Arabesken ist das Buch aber nicht nur eingedenk des zuende gegangen Humboldt-Jahres eine reizvolle Lektüre. Ich sehe Das Museum der Welt auch übergeordnet als Teil eines beachtens- und begrüßenswerten Trends. Denn zunehmend interessieren sich Literat*innen auch für die marginalisierten und vergessenenen Figuren der Weltgeschichte. So spielt (wenngleich hier nur fiktiv) Bartholomäus eine entscheidende Rolle bei den Expeditionen der Schlagintweits. Durch seine Brille beobachten wir den ganzen indischen Kosmos, in den die Schlagintweits einfach einbrechen und deren Verhalten für den Jungen oftmals wunderlich wirkt.

Ein Stück postkoloniale Literatur

Auch Christopher Kloeble selbst beschreibt das so, dass er mit Bartholomäus lieber eine unbekannte geschichtliche Perspektive wählte, als der Geschichte der Gebrüder Schlagintweit eine weitere bekannte Facette hinzuzufügen. Damit reiht sich das Buch ein in einen gegenwärtigen Trend, die andere, postkoloniale Seite der Geschichte zu zeigen. Hervorragend gelang das zuletzt Petina Gappah in ihrem Livingstone-Roman Aus der Dunkelheit strahlendes Licht. Auch sie schaffte es eindrücklich, unserer weißen Sicht auf die Kolonial- und Expeditionsgeschichte Afrikas eine neue Sichtweise entgegenzusetzen.

Die Klasse jenes Werks besitzt Das Museum der Welt leider nicht, dafür ist es mir etwas zu verplaudert, überfrachtet und stilistisch nicht ganz überzeugend. Aber nichtsdestotrotz ist das Buch ein klassischer Abenteuerroman alter Bauart, ein Stück postkoloniales Erzählen, die Geschichte der Mannwerdung eines Jungen und eine Erzählung über die Expedition der Gebrüder Schlagintweit. Wenn man über die Schnitzer des Buchs hinwegsehen mag, erhält man hier eine originelle Lektüre, die das alte Indien wieder auferstehen lässt.

Weitere ganz unterschiedliche Meinungen gibt es auf folgenden Seiten: SZ online, Letteratura und Lesenslust.


Bildrechte Porträt Schlagintweit: Von unbekannt – [1], PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3174418

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Theres Essmann – Federico Temperini

Von einem eigenartigen Fahrgast, vom Geiger Niccolo Paganini und einem Taxifahrer, der um die Bindung zu seinem Sohn fürchtet, erzählt die Autorin Theres Essmann in ihrem Debüt Federico Temperini. Die Novelle der Autorin ist im Tübinger Kleinverlag Klöpfer & Narr erschienen, der besonders Literat*innen aus dem Südwesten der Republik eine Stimme gibt.


Es ist ein unspektakuläres Leben, das der Taxifahrer Jürgen Krause lebt. Getrennt von seiner Frau verdient er in Köln sein täglich Brot mit Taxifahrten. Wie schon sein Vater kutschiert er Gäste durch die Domstadt. Einer dieser Gäste, die seine Dienste in Anspruch nehmen, ist Federico Temperini. Dieser kontaktiert Krause, um von ihm in die Kölner Philarmonie gefahren zu werden.

Theres Essmann - Federico Temperini (Cover)

Wie aus der Zeit gefallen wirkt dieser ältere Herr, der nun immer öfter von Krause gefahren werden möchte. Elegant gekleidet und zurückhaltend in seinen Äußerungen. Das Honorar für die Fahrten pflegt Temperini in einem Umschlag aus Büttenpapier zu hinterlegen. Aber am auffälligsten ist wohl seine verformte Hand, die er stets vor Krause im Taxi zu verbergen bemüht..

Bei einem solchen Fahrgast ist es mehr als verständlich, dass das Interesse des Taxlers geweckt wird. Nachdem Temperini gleich bei der ersten Fahrt von einem Konzert nach Hause den Begriff „Paganini“ und „Teufelsgeiger“ fallen lässt, ist Krauses Neugier schier nicht mehr zu bremsen.

Der der Hochkultur ferne Krause, der sonst eher die Lektüre der Biographie Claptons und dazu ein Bier bevorzugt, gerät nun – wie viele tausende Menschen zuvor – in den Bann des „Teufelsgeigers“. Er liest sich ein in die Vita dieses außergewöhnlichen Musikers. Fortan ist auf den Touren mit dem älteren Fahrgast Niccolo Paganini nun des Öfteren Thema. Doch was verbindet diesen Temperini mit Paganini?

Auf den Spuren Paganinis

Theres Essmann hat eine Novelle geschrieben, deren dritter Hauptdarsteller neben den beiden Hauptprotaginisten Temperini und Krause eigentlich Niccolo Paganini heißt. Auch wenn es schwer glaubhaft erscheint, dass Krause noch nie etwas von diesem Ausnahmekünstler gehört hat (schließlich ist der Teufelsgeiger schon lang zum geflügelten Wort geworden; von Filmen bis hin zu Hörspielen ist der italienische Wundergeiger über die Zeiten hinweg Thema) – über die Gespräche zwischen den beiden Männern wird der Geiger wieder lebendig. Die Geschichte seines Leichnams, das Besondere in seinem Geigenspiel – durch den Ich-Erzähler Krause bekommt man die Vita des Teufelsgeiger vermittelt.

Essmanns Sprache ist dabei genauso bodenständig und solide wie ihr Protagonist selbst. Sein Leben gleicht exakt dem, das man mit seinem Namen assoziieren würde: der Vater Taxler, der Sohn Taxler, regelmäßige Telefonate und Ausflüge mit dem getrennt lebenden Sohn, immer mittwochs Badminton und im Anschluss Gyros bei Maria. Dieser Krause steht für den Begriff Normcore. Da überrascht es wenig, dass er dann, als er von Temperini zu einem Konzertbesuch mit Paganin-Konzert eingeladen wird, zu Jeans und schwarzem Rollkragenpullover greift.

Nun ist ja zu befürchten, dass bei aller Durschnittlichkeit auch so etwas wie Langeweile aufkommen könnte. Dem ist aber mitnichten so. Denn Theres Essmann vermag es, in ihrem Debüt dieser Durschnittlichkeit ihres Krauses auch spannende Seiten abzuringen. Wie er um die Beziehung zu seinem Sohn kämpft, wie in ihm die Leidenschaft für den Teufelsgeiger geweckt wird, das schildert sie nachvollziehbar und durchdacht. Die passgenauen Dialoge unterstützen dabei die Dynamik des Romans erheblich.

Zwar könnte man, wenn man es ganz genau nimmt, abgegriffene Formulierungen wie etwa Krauses Beschreibung des „Dirigenten in seinem Pinguin-Kostüm“ (S. 94) als wenig originell kritisieren. In einem ansonsten wirklich stimmigen und gut gemachten Debüt fällt das allerdings nicht so sehr ins Gewicht.

Fazit

Es bleibt spannend, was von Theres Essmann künftig zu lesen sein wird. Federico Temperini ist auf alle Fälle eine Novelle, die Lust auf mehr macht. Glaubwürdige Figuren, eine passende Sprache und eine ganz eigene Annäherung an den Teufelsgeiger Niccolo Paganini!


  • Essmann, Theres: Federico Temperini
  • Novelle, 164 Seiten
  • Hardcover mit Lesebändchen
  • Erscheinungstermin: Februar 2020
  • ISBN 978-3-7496-1026-6, Preis: 18 Euro
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Lutz Seiler – Stern 111

Ganz egal wo wir landen. Mein Zuhause ist kein Ort. Das bist du.

Fynn Kliemann: Zuhause (2019)

Wo gehören wir eigentlich hin? Und was ist dieses Zuhause eigentlich? In Stern 111 findet Lutz Seiler ganz eigene Antworten auf diese Fragen und erzählt von Wohnungsbesetzern, DDR-Auswanderern und einer schwebenden Ziege.


Ja was ist nun mit diesem Zuhause? Ist es ein Ort? Ist es der Verbund von Menschen? Oder der Ort, dem die eigene Familie entstammt? Im Falle Carl Bischoffs wäre das Zuhause Gera. Doch da halten es weder er noch seine Eltern Inge und Walter lange aus. Denn wir schreiben die Zeit kurz nach der Wende im Winter 89/90. Die Grenzer schießen nicht mehr, der sagenumwobene Westen lockt die Eltern, und so lassen sie sich von ihrem Sohn in der Nähe der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze absetzen.

Der Grenzübergang war bevölkert: Spaziergänger, Neugierige, Autoschlangen und Fußgängerströme – das Land schien sich aufzulösen in einer einzigen Wanderschaft. Darunter nicht wenige mit Rucksäcken und Koffern, junge kräftige Wanderer, die wie auf Verabredung zusammenfanden und sich unterstützten, niemand im Alter seiner Eltern. Mit dem großen schwarzen Akkordeonkasen auf dem Rücken sah sein Vater wie ein Kriegsvertriebener aus, der versuchte, ein Stück Hausrat zu retten. Dazu passend ragten die Ruinen einer unfertigen Autobahnbrücke aus dem Tal.

Seiler, Lutz: Stern 111, S. 29 f.

Während Walter und Inge den Westen erkunden, soll der Sohn derweil das Zuhause in Gera und den Shiguli hüten. Doch schon bald fällt Carl die Decke auf den Kopf, während draußen ein Land zerfällt und ein neues entsteht. Und so schnappt er sich den Wagen aus russischer Fabrikation und macht sich auf nach Berlin. Dort, in der nun nicht mehr geteilten Hauptstadt, landet er einem Schiffbrüchigen gleich und muss feststellen, dass der Osten und der Westen in Berlin doch noch existieren.

Ein neues Zuhause

Er entdeckt dort eine Welt, die wie von einem anderen Stern wirkt. Ganze Straßenzüge sind verlassen, monolotische Wohnblöcke, in denen keine Menschen mehr wohnen und Grenzposten, die immer noch ein Land bewachen, das es so nicht mehr gibt.

Carl bewunderte dieses goldgelbe Gebäude [die Staatsbibliothek], das wie ein Raumschiff auf der staubigen Brache weit hinter den Plattenbauten der Ebertstraße gelandet war. Von Osten her bis dorthin vorzudringen war ein Kampf, als durchquerte man eine Wüste, die abweisend, kalt und bei Wind grau war von Staub (und Wind wehte dort eigentlich immer, auch wenn im Rest der Stadt Windstille herrschte), vorbei am Container des Grenzübergangs (niemand, der dort seinen Pass verlangte) und vorbei an den Hügeln, unter denen, wie es hieß, die Bunker lagen. Die Brandmauern, die Ruinen, die Pfeiler der Magnetschwebebahn – als durchschritte man ein verlassenenes Versuchsgelände, dachte Carl, das man niemals hätte betreten dürfen, ein Trümmerplatz, auf dem man sich hüten musste, nicht verlorenzugehen.

Seiler, Lutz: Stern 111, S. 134 f.

Eine fast außerirdisch wirkende Welt, kein Ort, in dem man normalerweise Quartier bezieht. Doch wie das so ist mit dem Zuhause – der Ort bildet nur die eine Hälfte der Rechnung. Zuhause ist doch auch das soziale Umfeld. Mitmenschen, Gesellschaft, Freunde, Familie. Und diese findet Carl auf ungewöhnliche Art und Weise. Nach ersten Übernachtungen im Shiguli wird er als Teil der A-Guerilla Hausbesetzer eines dieser verlassenen und eroberten Wohnblöcke zwischen Rykestraße und Oranienburger.

Die A-Guerilla

Lutz Seiler - Stern 111 (Cover)

Hinten dran am Haus ein kleines Bombenwäldchen, von der Ferne blinkt der Wasserturm. Dort, wo heute das hippe Leben im Prenzlauer Berg pulsiert, sind es 1990 die heruntergekommen Häuser, die das Straßenbild prägen. Ein kleiner Ofen mit Schamottsteinen, ein paar Matratzenteile mit Schnur umwickelt, mehr braucht Carl für seine Anfänge im besetzten Haus nicht. Für weiteres Interieur bedient sich die Gruppe aus den umliegenden Häusern, bricht in Wohnungen ein oder erobert sich verlassene Geschäfte. Zusammen bilden die Bewohner des Hauses eine verschworene Gruppe, die auf den Namen A-Guerilla getauft wird.

Carl wird schnell als Teil der Gruppe akzeptiert und verdingt sich in der Folge als Maurer und als Teilzeitpoet mit Ambitionen.

Der Sommer begann mit dem Hissen der Fahne. Im Fenske-Keller hatte der Hirte ihren edlen Stoff entrollt: schwarze Seide, auf die ein scharlachrotes A aufgenäht war. „Das ist unser A“, sagte der Hirte. „Es erzählt von der Schwer des Anfangs, von der Würde der Arbeit, und es erzählt von uns, der Arbeiter-Guerilla. Es ist ein dreifaches A.“

Seiler, Lutz: Stern 111, Seite 217

Es ist eine ungewöhnliche Gemeinschaft von Outcasts, die hier ihr im Kiez ihr eigenes Utopia gründen möchte. Schnell wird Carl als Maurermeister einer der Helden der Arbeits-Guerilla. Die Assel dient ihnen dabei als Ausgangspunkt. Eine Kneipe, die sich schnell als Wohnzimmer und Lebensmittelpunkt etabliert. Bald steht schon eine Mikrowelle unter dem Tresen, dann wird in Kindergarten-Manier eine beschriftete Garderobe für die lokalen Freudenmädchen angebracht. Schon bald wächst die höchst heterogene Kundschaft. Die A-Guerilla werkelt an der Kneipe und diese wird in der Ost-Berliner Untergrundszene zusehends „Kult“.

Zu diesem Kult trägt auch die bunte Mischung aus Hausbewohnern bei. Fantasten, Revoluzzer und Gestrandeten inklusive Dodo, einer Ziege, die später im Buch sogar noch das schweben lernt.

Auch ein Gentrifizierungsroman

Besetztes Haus in der Kollwitzstraße 1990 (Quelle:Bundesarchiv, Bild 183-1990-1211-013 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de)

Stetig wächst die Gemeinschaft, Wohnungen werden neu besetzt, andere Mitglieder der Gemeinschaft gehen wieder ihrer Wege. Aber auch wenn Stern 111 nur ein wenig mehr als ein Jahr in diesem Berliner Kiez beschreibt, ist das Buch doch auch Gentrifizierungsroman, der im Kleinen vorwegnimmt, worüber wir heute gesellschaftlich übergreifend diskutieren. Der Berliner Mietendeckel, ganze Wohnblöcke, die von Investoren aufgekauft werden, die Gentrifizierung, die ganze Stadtteile verödet. Alle Schlagwörter und Probleme, die dieser Tage zirkulieren, können auf Stern 111 rückgebunden werden. Das Wohnen als kostenloses Grundrecht, wie es Carl bald begreift, es wird im Buch immer wieder thematisiert.

An die Wand über den Briefkästen hatte jemand WRUBEL-KAPITALISTENSAU geschrieben. Tatsächlich hatten alle Mieter den Brief einer Erbengemeinschaft empfangen, unterzeichnet von einem Mann namens Wrubel. Die Miete, hieß es, würde demnächst erhöht, für Carls Wohnung von 31,80 auf glatte 50 DM.

„Aber du hast ja gar keinen Vertrag“, hatte So-nie gesagt, ohne jeden Beiklang in seiner Stimme. „Schlagen hier auf auf von irgendwo und wollen Kasse machen.“

Seiler, Lutz: Stern 111, S. 366

Im Epilog schildert Carl dann, wie er dann kurz darauf von der Erbengemeinschaft auf 143,25 DM erhöht wird. Die Grundmiete sei ein paar Mark pro Quadratmeter gestiegen, dazu kämen die Betriebskosten. Eine Szene, die angesichts der heutigen Mietpreise leicht lächeln lässt. Aber schon hier deutet sich alles an, worüber heute umso erbitterter gestritten wird, da der Wohnraum immer knapper und die Preise immer exorbitanter werden, und das nicht nur in der Hautptstadt. Zuhause ist eben mittlerweile auch zu einer Sache geworden, die man sich leisten können muss.

Ein sicherer Sieger

Etwas mokant könnte man sagen, dass die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse Lutz Seilers Roman geradezu prämieren MUSSTE. Allzu verlockend die Melange der Themen, die bei solchen Preisen zumeist ausgezeichnet werden: Ein Berlinroman, ein Buch über die Wendezeit und dazu noch eine gut gemachte Coming of Age-Geschichte mit Liebesirrungen und Liebeswirrungen? Ein Setzen auf Stern 111 als Preisträger hätte im Wahlbüro wahrscheinlich gerade einmal ein wenig mehr als den Wetteinsatz als Gewinn eingebracht.

Natürlich kann man dabei beklagen, dass die Wahl sehr berechenbar und das Thema des Buchs alles andere als neu ist. Schon einmal beackerte Lutz Seiler bekanntlich mit Kruso das Feld des deutschen Wenderomans (der auch im Stern 111 seinen Auftritt hat). Der wie sein Protagonist in Gera geborene Dichter heimste dafür 2014 den Deutschen Buchpreis ein. Das Wendethema ist omnipräsent, auch im Suhrkamp-Verlag erschienen schon diverse Bücher mit diesem Sujet (die dann wie im Falle Uwe Tellkamps ebenfalls gerne mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurden). Eine sichere Bank also für einen Gewinn.

Aber durch die feinfühlige Sprache, die bildmächtigen Schilderungen und die Präzision, mit der Seiler sein Milieu in aller Akribie schildert, ist der Roman auch als Preisträger nachvollziehbar. Ähnlich wie der Fotograf Daniel Biskup vor kurzem in seinem Bildband Wendejahre: Ostdeutschland 1990-1995 diese vergangene Welt mit seinen Fotografien noch einmal in die Jetztzeit zu holen, gelingt es im vorliegenden Fall auch Lutz Seiler. Allerdings setzt er eben auf das Gestaltungsmittel Worte, das aber mehr als gekonnt.

Die Qualität der Prosa Seilers ist unbestritten, der Roman trotz seiner hohen Seitenzahl atmosphärisch dicht und genau – und in seiner Vielzahl an Themen vielgestaltig interpretierbar. Ein Buch, das den Sieg des Leipziger Buchpreises verdient hat, und das auch mir als Nachwendegeborenen und Nicht-Berlin die Welt in den Straßen und Häusern der Hauptstadt 1990 nahegebracht hat.

Weitere Besprechungen:

Weitere Meinungen zum Buch findet man hier: Buchrevier und Aufklappen haben über das Buch geschrieben genauso wie Marina Büttner und Letteratura.

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Ein Jahr im Cockshutt Wood

John Lewis-Stempel – Im Wald

Nature Writing liegt nach wie vor im Trend. Neben seinem britischen Landsmann Robert MacFarlane zählt auch der Brite John Lewis-Stempel zu den bekanntesten Vertretern des Genres. Nachdem er sich mit Themen wie dem Dasein als jagender Selbstversorger (Mein Jahr als Jäger und Sammler) und einer Wiese (Ein Stück Land) beschäftigt hat, verschlägt es ihn nun in den Wald. Genauer gesagt in den Cockshutt Wood, den er gepachtet hat.

Dieser in der Nähe von Shropshire und der englisch-walisischen Grenze gelegene Wald hat es John Lewis-Stemple angetan. Im Gegensatz zu moderner Forstwirtschaft geht er als Waldpächter noch nach alter Väter Sitte vor. Er lässt wilde Tiere in seinem Wald herumstreifen, hütet darin etwa Schafe, Schweine und Kühe, und setzt Bäume auf den Stock, das heißt, er sägt Bäume über dem Boden ab, sodass diese neu austreiben können.

John Lewis-Stempel - Im Wald (Cover)

Uns Leser lässt er an diesem Leben teilhaben, indem er genau ein Jahr in seinem Wald beschreibt, beginnend im Dezember über den Frühling und Sommer hin wieder bis in den Herbst. Das Werden und Vergehen im Wald und die ewigen Kreisläufe werden so offenbar.

Nun können solche Bücher mitunter schnell langweilig werden. 12 Kapitel, Bäume die wachsen, Vögel die brüten und dann in den Süden ziehen, Herbst und dann schon wieder Winter. So etwas könnte durchaus passieren – aber nicht wenn der Autor John Lewis-Stempel heißt. Denn er vermag es, uns die Faszination des Waldes und dessen Erhabenheit auf großartige Art und Weise näher zu bringen.

Lektionen im Wald

Auch wenn das Buch vorhersehbar chronologisch erzählt ist – sein Inhalt ist es mitnichten. Denn Lewis-Stempel lässt es nicht mit einer puren Erklärung der Kreisläufe in Flora und Fauna bewenden. Vielmehr ist sein Buch eine Wunderkammer, die verschiedene Gattungen und Disziplinen vereint. Immer wieder flicht der Brite Gedichte über den Wald ein, etwa von Robert Frost, Alfred Lord Tennyson oder Rudyard Kipling (die teilweise von der tollen Übersetzerin Sofia Blind selbst ins Deutsche übertragen wurden). Auch gibt es inmitten der Naturbeschreibungen immer wieder Rezepte zu entdecken, so etwa eine Zubereitungsempfehlung für Kastaniensuppe oder Hühnerbrühe mit Judasohren nach thailändischer Art.

Und auch seine Schilderungen des Lebens im Wald sind unglaublich bildreich und sprachmächtig. So vergleicht er Pilze schon einmal mit Sciene-Fiction-Städten oder schildert den Tanz des Hermelins wie etwa das Auftreten der Schlange Ska im Dschungelbuch. Dadurch erzielt er eine Bildlichkeit, die viele andere Beschreibungen des Waldlebens nicht besitzen.

Er vermag es, die Kulturgeschichte seiner im Cockshutt Wald heimischen Bäume zu erzählen (nicht von ungefähr nennt er auch Wilde Wälder von Roger Deakin in den bibliographischen Angaben). Von den Netzwerken der Bäume oder von den Leben seiner Waldbewohner handeln seine Schilderungen, die ein Gefühl für Natur vermitteln.

Ein Naturschriftsteller mit Humor

Zudem ist John Lewis-Stempel auch ausnehmend witzig.

Als Gott die plumpe Waldschnepfe erschuf, muss Er in der gleichen schrulligen Stimmung gewesen sein wie beim Zusammenschustern des Schnabeltiers. Obwohl sie nur so groß ist wie eine menschliche Hand, ragt aus dem Gesicht der Waldschnepfe ein Stilett.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 22

Oder auch solche kleinen Fundstellen wie etwa diese hier:

8. Juni: […] Auf dem Reitweg einen Igel getroffen: an den Hut getippt, Hallo gesagt.

John Lewis-Stempel ist ein Naturschriftsteller im besten Sinne: Umfassend gebildet, mit Auge für skurrile Details, voller Humor und sich selbst nicht übermäßig wichtig nehmend. Und auch wenn er einen etwas geringschätzenden Ton gegenüber seinen eigenen Prosa anschlägt:

Um fünf Uhr morgens mache ich einen Rundgang durch den Wald, dann steige ich mit Freda in den Saab, um an die Somme zu fahren, wo wir um fünf Uhr abends ankommen. Ich arbeite an einem Buch über den Ersten Weltkrieg und muss obskure Eigenschaften der Landschaft überprüfen. Zurzeit empfiehlt man Landwirten, ihre Produktpalette zu erweitern. Mein Nebenprodukt sind Bücher.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 209

Der Terminus Nebenprodukte trifft für seine Bücher keinesfalls zu. Bildstark, mit viel Humor und stupend gebildet vermag er es in seinen Werken, auch Städtern wie mir das Tun und Treiben da draußen in der Natur nahezubringen. Im Wald macht da keine Ausnahme. Eine Perle der Gattung Nature Writing. Schön gestaltet (sogar mit kleinen Vignetten) und ein Sachbuch das Lust macht, mal wieder mit offenen Augen und Ohren durch einen Wald zu streifen.


  • John Lewis Stemple – Im Wald
  • Aus dem Englischen von Sofia Blind
  • 284 Seiten, farbige Abbildungen
  • ISBN 978-3-8321-8124-6 (Dumont-Verlag)
  • Kosten: 22,00 €
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Hari Kunzru – Götter ohne Menschen

Ein Roman, so unergründlich wie die Wüste, in der er spielt: Hari Kunzrus Roman Götter ohne Menschen über verschwundene Kinder, kriselnde Beziehungen und Außerirdische.


Geht es um scheinbar Übersinnliches, das in den vernünftigen, geordneten Alltag einbricht, dann ist der Brite Hari Kunzru ein ausgemachter Fachmann. Das bewies er schon in seiner Vintage-Musik/Geisterstory White Tears, in der zwei Musiknerds mithilfe eines Blues-Fragments auf die Spur eines geisterhaften Musikers gelangten, die in den Süden der USA führte.

Nun liegt in der deutschen Übertragung durch Nicolai von Schweder-Schreiner Kunzrus Roman Götter ohne Menschen aus dem Jahr 2011 vor. Ein Buch, das durch seine Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit eine einfache inhaltliche Zusammenfassung kaum möglich macht.

Vielmehr kommt man der komplexen Erzählung Kunzrus am besten mit dem Vergleich eines Baumes nahe. Den Hauptstamm jenes Baums bildet die Geschichte des Paars Matharu. Er, Jaz, ein indischer Einwanderer, zerrissen zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der amerikanischen Aufstiegsgesellschaft und seinen familiären Wurzeln. Sie, Lisa, Mutter von Raj, dem gemeinsamen Sohn, der unter einer Autismus-Spektrums-Störung leidet. Die Ehe kriselt, die beiden Partner leiden unter ganz eigenen Problemen, zudem belastet beide die Situation mit ihrem Kind zusehends. Ein gemeinsamer Ausflug soll Abhilfe schaffen. Bei diesem Trip in Richtung Mojave-Wüste verschwindet Raj dann allerdings spurlos. Wilde Spekulationen über das Paar setzen ein und die Öffentlichkeit nimmt rege Anteil am Schicksal des verschwundenen Jungen.

Geschichten aus drei Jahrhunderten

Um diesen Erzählungsstamm ranken sich diverse Episoden, die Kunzru im 18. Jahrhundert beginnen lässt und die sich bis in die Gegenwart erstrecken. Da gibt es den Bericht eines spanischen Missionars, Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis hinein in die Flower-Power-Jahre. Inhaltlich vielstimmig sind diese Erzählungen mal an die mündliche Erzähltradition der Indianer angelegt, mal eine wilder Cowboy-Räuberpistole, mal eine höchst aktuelle Erzählung einer aus dem Irak stammenden Geflüchteten. Allen gemein ist, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Nähe einer sagenumwobenen Gesteinsformation in der Wüste kamen.

Hari Kunzru - Götter ohne Menschen (Cover)

Wie ein fein verästeltest Geflecht umgeben diese Geschichte die Haupterzählung. Verschiedene Figuren aus den Episoden tauchen in anderen Geschichten wieder auf. Leitmotive wie die Wüste, das Verschwinden von Kindern oder der Kontakt mit Außerirdischen sind Themen, die in verschiedenen Manifestationen immer wieder hervorscheinen und so ein Netz aus Bezügen herstellen. Diese Verästelungen sind manchmal ganz zart, dann auch wieder offensichtlicher. Alle Suchenden, die Lektüre auch als Schnitzeljagd begreifen, dürften hier ihre große Stunde erleben. Denn hinter Götter ohne Menschen steckt wirklich ein raffiniertes Konzept.

Zu den Kunstfertigkeiten diesen Romans zählt auch, dass Kunzru Themen zusammenbringt, die eigentlich nicht nicht zusammenpassen wollen. So schafft er es, aus der Alienbegeisterung, der Sinnsuche und dem Wunsch nach spiritueller Erfahrung in der Wüste ein Thema zu machen, das in unterschiedlichsten Facetten immer wieder im Buch auftaucht. Die Hinwendung zu einer übersinnlichen Kraft, die schon im Buchtitel thematisiert wird, setzt sich im Buch fort. Und dass, ohne dass das Buch in eine unangenehme theosophische oder esoterische Stoßrichtung kippt. Vielmehr zeigt Kunzru den Wunsch nach Spiritualität, der über alle Zeit hinweg in allen Menschen wurzelt.

Götter ohne Menschen, aber mit literarischer Vielfalt

Eine weitere Stärke dieses grandiosen Frühjahrstitels ist auch seine literarische Vielfalt. Sobald Schriftsteller*innen das Mittel der Multiperspektive für ihre Erzählung wählen, besteht eine ganz große Gefahr: die schriftstellerischen Mittel der Erzählenden sind dergestalt limitiert, dass alle Figuren gleich denken und gleich klingen (wie etwa zuletzt in Simone Lapperts Der Sprung). Obwohl sich der Name der erzählenden Figur ändert, klingt sie genauso wie die anderen Figuren zuvor, mit der wir die Handlung erlebt haben.

Für solche Fehler oder erzählerischen Limitation ist Hari Kunzru viel zu versiert. Mit welcher Akribie er sich in die unterschiedlichen Milieus einarbeitet und deren Welten auf wenigen Seiten glaubhaft zum Leben erweckt, ist meisterhaft. Wie fühlt sich eine Ehe mit einem an Autismus leidenden Kind an? Wie hat ein spanischer Eroberer im 18. Jahrhundert seine Berichte formuliert? Wie fühlt sich ein sinnentleerter britischer Rockstar, der die Flucht in ein anonymes Motel angetreten hat? All diesen höchst heterogenen Figuren verpasst der britische Schriftsteller eine eigene Sprache (toll von Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt) und einen eigenen Blick auf die Welt.

Es macht große Freude, immer wieder in neue Zeiten und neue Lebensgeschichten einzutauchen, die trotzdem miteinander verbunden sind. Ähnlich wie bei David Mitchells Wolkenatlas steht auch hier am Ende ein zeitenüberspannendes Netzt aus Figuren und Geschichten. In meinen Augen große Schrifstellerkunst.

Fein geschrieben, raffiniert komponiert, mit interessanten Motiven und Ideen durchzogen: Götter ohne Menschen ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das Hari Kunzrus Ruf als einem der interessantesten britischen Schriftstellern der Gegenwart zementiert.

  • Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schrein
  • 416 Seiten, € 24,00 Gebunden mit Schutzumschlag
  • ISBN 978-3-95438-117-3 (Liebeskind-Verlag)
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