Zu Gast in Königin-Maud-Land

Line Madsen Simenstad – Königin Maud-Land ist geheim

Was ist es denn nun, dieses geheime Königin-Maud-Land, von dem schon im Titel der Kurzgeschichtensammlung von Line Madsen Simenstad die Rede ist? Das erklärt die längste der ingesamt fünf im Buch enthaltenen Stories. Daneben erzählt die junge norwegische Autorin von unbeschwerten Sommern in der norwegischen Einöde oder von ziellosen Taxifahrten durch die Nächte Oslos. Ein Beitrag der Reihe #norwegenerlesen.

Line Madsen Simenstad ist eine junge norwegische Autorin (Jahrgang 1985), die bereits einige Kurzgeschichten publiziert hat. Sie arbeitet als Journalistin und ist am Berliner Verlag bzw. dem übergreifenden Begegnungsprojekt Broken Dimanche Press beteiligt. Ihr literatisches Debüt erschien aber nicht in diesem Verlag, sondern bei Mare (Übersetzung durch Ilona Zuber).

Gar nicht so einfach ist es, wenn man einen gemeinsamen Nenner der fünf Geschichten finden will. Denn allzu unterschiedlich sind die Themen und Sounds, die sie in ihren Geschichten verwendet.

Das beginnt schon in der ersten Geschichte (Über die Liebe), die einen hellen Sommer in den norwegischen Schären beschreibt. Zwei Schwestern, ein Steg, Naturidylle á la Tove Jansson. Das könnte nicht krasser mit der folgenden Erzählung Roter Riese kollidieren. Darin erzählt Line Madsen Simenstad vom Sterben eines Familienvaters und seiner Suche nach dem perfekten Song für ein Begräbnis.

Erzählungen im Spannungsfeld

Tod und Glück, Trauer und Lebensfreude – es liegt bei Simenstads Stories immer denkbar dicht beeinander. Auch in der mittleren Geschichte Königin-Maud-Land ist geheim sind es die Pole der Bedrohung und der unbeschwerten Kindheit, die in ihrer Geschichte ein Spannungsfeld bilden.

In der längsten Erzählung des Buchs beschreibt die Norwegerin in zwanzig Kapiteln das Leben einer offenbar alleinerziehenden Mutter und das ihres Sohnes. Geplagt von Schulden und der Erziehung ihres Kindes übt sich die Mutter in einem Rückzug von der Welt da draußen. Die Wohnung wird für ihr Kind zum Spielplatz, das Klingeln an der Haustür wird zur Bedrohung.

Des Weiteren gibt es noch zwei kurze Geschichten (auch mit jener eingangs erwähnten Taxifahrt), ehe der Band dann nach 122 Seiten am Ende ist. Das liest sich alles wirklich sehr schnell weg und stellt eine gute Art von nordischem Literatur-Häppchen dar.

Einzig und allein die Frage, warum man dem Buch kein attraktiveres Cover spendiert hat, bleibt für mich am Ende bestehen. Aber anderseits: vorbildlich, wie Mare die Übersetzerin ebenfalls aufs Cover hebt. Damit schafft man Aufmerksamkeit für diesen so wichtigen Job.

Fazit

Ideal für alle, die eine junge, weibliche Stimme aus Norwegen kennenlernen wollen und die mal wieder keine Zeit für lange Erzählungen haben. In Königin-Maud-Land kann man auch einmal kurz eintauchen!

Diesen Beitrag teilen

Still und starr ruht der See

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Es ist kaputt, so kaputt
Das kann man nicht reparieren
So kaputt, so kaputt
Es fließen keine Tränen
Beim Familienfest im Grünen

Bosse: Familienfest im Grünen

Rückzugsort Uckermark: was schon bei Lola Randls Buch Der große Garten thematisiert wurde, ist auch beim ebenfalls für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman von Miku Sophie Kühmel ein prägendes Motiv. Draußen, im Grünen, abseits von Hektik und Stress, versuchen auch Kühmels Protagonisten dem Takt der Großstadt zu entgehen und ihr Leben neu zu ordnen und zu reparieren. Was bei Randl wenig überzeugend ausgestaltet war, gelingt Miku Sophie Kühmel deutlich besser. Das sah auch die Jury des Deutschen Buchpreises so – und nominierte die junge Autorin (Jahrgang 1992) für die Endrunde des diesjährigen Preises.

Die in Gotha geborene Kühmel wählt für ihren Roman die Form eines Kammerspiels. Vier Menschen, ein Haus am See in der Uckermark – mehr braucht sie nicht, um über fast 300 Seiten ihre Geschichte zu erzählen.

Vier Menschen, ein Haus, ein See

Da sind zum Einen Reik und Max. Ein homosexuelles Pärchen, das schon seit zwanzig Jahren zusammenlebt. Max lehrt als Professor für Archäologie an der Universität und ist ein zutiefst strukturierter Geist. Alles muss seine Ordnung haben, von der Teeschale auf dem Van-Duysen-Board bis hin zu den Ritualen im Alltag.

Miku Sophie Kühmel - Kintsugi (Cover)

Ganz anders da Reik. Als Künstler zieht er das Chaotische, Unperfekte an. In der Post-Wende-Zeit kam er mit seinen Kunstwerken zu großem Ruhm, der bis heute anhält. Ständig ist er in der Welt unterwegs, besucht Vernissagen, Galerien und Museen – und hat im gemeinsamen Ferienhaus mit Max seinen Ruhepunkt gefunden.

Das Pärchen, das den Kontrapunkt zu den beiden gealterten Bohémiens bildet, wird von Tonio und Pega gebildet. Pega ist Tonios Tochter, der auch früher einmal ein Liebhaber von Reik war. Aber diese Zeiten sind schon längst vorbei. Tonio hat in der Vaterschaft von Pega seine Bestimmung gefunden und geht in der Rolle als alleinerziehender Vater vollkommen auf. Pega hingegen ist ein wirklicher Wirbelwind, die in einer Berliner WG lebt und als auslösendes Moment von außen die eingespielte Riege der alten weißen Männer aus dem Tritt bringt.

Erstaunlich souverän in der Form erzählt Miku Sophie Kühmel nacheinander von den vier Menschen, ihren Geschichten und ihren Motivationen. Zwischen die vier Teile des Ganzen montiert sie kleine Theaterpassagen, die aus reinen Dialogen bestehen und die Handlung im Ferienhaus weiter vorantreiben. Denn die Handlung umspannt nur einen Tag, der um 8 Uhr am Morgen beginnt. Alles spielt sich innerhalb dieses Tages ab, ehe ein Epilog um 8 Uhr des nächsten Morgens die Geschehnisse in Kintsugi abschließt.

Tolle Inneneinsichten der Figuren

Das ist toll gemacht, diese Verdichtung auf einen Tag und vier verschiedenen Figuren, aus deren Beziehung zueinander sich die Handlung ergibt. Alle vier Perspektiven konstruiert Miku Sophie Kühmel sehr glaubhaft. Die Widersprüche in den Figuren, ihre Wünsche und heimlichen Sorgen, davon erzählt die junge Autorin erstaunlich reif und psychologisch glaubwürdig. Während sich Reik eigentlich Kinder wünscht, kann Max mit diesem Gedanken gar nichts anfangen. Auch solche vermeintlich spießigen Themen wie „Heirat“ oder die Ausgestaltung der bürgerlichen Existenz beschreibt Kühmel sehr nachvollziehbar und kohärent.

Alle vier Berliner*innen wirken lebensnah, die Brüche in ihren Leben sind nachvollziehbar gestaltet – Miku Sophie Kühmel ist eine genaue Beobachterin von Menschen, die auch unter die Oberfläche von vermeintlich Glattem sieht. Würden Max, Pega und Co. nach ihrem Wochenende aus dem Buch ins Leben übertreten – sie würden sich wunderbar in unser Miteinander einpassen. Eine solche Figurengestaltung ist für mich große Kunst und aller Ehren wert (wenngleich die vier Protagonist*innen natürlich auch noch etwas unterscheidbarer hätten klingen dürfen).

Toll in der Form, Schwächen in der Sprache

Doch so stark das Debüt auch in der Introspektive seiner Figuren und der Form ist: einen Kritikpunkt habe ich dennoch vorzubringen. Und das ist der sprachliche Stilwillen, der in Miku Sophie Kühmels Debüt noch etwas ungebändigt wirkt. So „zischelt“ den Figuren beim Besteigen eines Hochsitzes eine Ladung Käfer entgegen (S. 79) oder „die Zeitanzeige glüht [Reik] auf Augenhöhe entgegen (S. 8). Manchmal kippt das Ganze auch ins Schwülstige oder Kitschige, wie beispielsweise auf Seite 12:

Sie beginnen, sich zu küssen, und die Baumwollwolken wogen um sie her.

Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi, S.12

Hier hätte sicher ein strengeres Lektorat noch die ein oder andere Formulierung glätten oder streichen können. Aber im Falle eines ansonsten so starken Debüts bin ich gerne auch einmal bereit, über diesen Punkt gnädig hinwegzusehen.

Auf diese Debütantin lohnt es zu schauen

Zwar rechne ich angesichts der starken Konkurrenz nicht wirklich mit einem Sieg von Miku Sophie Kühmel. Davon unbesehen ist Kintsugi wirklich ein tolles Debüt einer Erzählerin, die genau hinschaut und sich für ihre Figuren interessiert. Von ihr erwarte ich mir noch einiges – denn wer jetzt schon so souverän Form und Inhalt beherrscht, der hat noch eine große Karriere vor sich, so meine persönliche Einschätzung. Hier könnte Großes entstehen!

Und ein letztes Rätsel sei an dieser Stelle auch noch aufgelöst: wer oder was ist denn eigentlich jenes titelgebende Kintsugi? Im Appendix des Buchs werden sämtliche japanische Titelüberschriften erklärt, darunter eben auch jenes Kintsugi:

das kunsthandwerk, zerbrochenes porzellan mit gold zu reparieren

Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi, S.295

Das passt auf die Figuren und die Handlung des Romans wirklich exzellent und wird auch noch einmal im Cover wirklich kongenial aufgegriffen. Kaputtes reparieren und dadurch sogar aufwerten, das könnte wirklich eine Umschreibung von Kühmels Debüt sein. Sehr stimmig!

Beispiel einer mithilfe von Kintsugi veredelten Schale. (Quelle Twitter/Josh Corman)

Andere Meinungen zu dem Buch gibts beim Freitag, bei Letteratura, beim Textmagazin und bei Bleisatz.

Diesen Beitrag teilen
Die Bücherei der Zukunft - Das Konzept der Open Library

Wie wir lesen wollen

Abseits von Büchern, Lesungen und literarischen Trends stelle ich mir ab und an auch übergreifende Fragen zum Lesen und zur Rolle der Literatur in der Gesellschaft. Auch bedingt durch meinen Job als Bibliothekar treibt mich die Frage um, welche Rolle das Lesen und die Bibliotheken in Zukunft wohl spielen wird. Vor einigen Tagen habe ich eine mögliche Antwort auf diese Frage erhalten. Ich besuchte nämlich die Stadtbücherei Würzburg, genauer gesagt die neue Filiale Am Hubland.

Ist das ein Co-Working-Space oder eine Bücherei?

Dort, wo früher Flugzeuge abhoben, entsteht gerade ein völlig neues Stadtviertel. Einer der ersten Fixpunkte in diesem Viertel ist die Bücherei, die schon eingezogen ist, obwohl die meisten Häuser um die Bücherei herum erst im Bestehen inbegriffen sind. Das Haus ist als Open Library konzipiert, das heißt eine automatisierte Büchereifiliale, die teilweise geöffnet ist, obwohl kein Personal anwesend ist.

Was beispielsweise bei Bankfilialen selbstverständlich ist, gilt bei uns noch exotisch. Eine Bücherei, bei der niemand als Ansprechpartner vor Ort ist? Eine Bücherei, die ich auch schnell noch um 9 Uhr abends aufsuchen kann, wenn ich ein Kochbuch oder eine DVD für einen schönen Abend benötige? Erst langsam setzt sich dieses Konzept durch, in Hamburg-Finkenwerder oder Köln-Kalk etwa gibt es schon solche Filialen. Meist steht (wie im Falle von Köln oder Würzburg) der niederländische Architekt Aat Vos hinter der Realisierung solcher Projekte.

Die Bibliothek als Dritter Ort

Der Gedanke ist bestechend. Schon heute gelten Büchereien als sogenannte Dritte Orte. Während das Zuhause der Erste Ort und die Arbeitsstelle der Zweite Ort ist, besagt die Theorie des Dritten Orts, dass es abseits von Zuhause und Arbeit noch mehr geben sollte. Der Dritte Ort will eine Art erweitertes Wohnzimmer sein. Ein Ort, an dem man sich gerne und lange aufhält, ohne unbedingt einem Konsumzwang zu unterliegen. Ein Ort, der Begegnungen und Bildung ermöglicht – und das möglichst niedrigschwellig. Solche Räume sind für den Niederländer Aat Vos Bibliotheken, weshalb bei ihrer Gestaltung das Wohlfühlen im Vordergrund steht.

Couchen, Krabbelzone, Ideenboard – hier kann man sich begegnen

Wer sich schon einmal lange in brutalistischen Unibibliotheken oder grauen Büchereien mit entsprechender Inneneinrichtung aus den 70er-Jahren aufgehalten hat, wird das Vos’sche Konzept schätzen. Statt möglichst vieler Regale mit (teils überholter) Literatur, funktionaler Sitzmöglichkeiten und einer asketischen Innengestaltung hat der Architekt alles auf den Kopf gestellt. Das fällt auch beim Besuch in Würzburg direkt ins Auge. Die Bücher sind in den Hintergrund gerückt, sie bilden auf zwei Etagen den Rahmen um die Innenflächen. Diese sind mit vielen Stühlen, Tischen und einer Krabbelzone ausgestattet. Ähnlich wie im vielbeachteten Konzept der Hugendubel-Filiale am Stachus in München geht man nun auch hier weg von thematischen Bereichen, bricht das Raumkonzept auf und schafft kleine Inseln im Raum, die als Anlaufpunkt fungieren.

Alles bleibt anders

Schon seit geraumer Zeit ist das Bild der Bibliotheken und Büchereien im Umbruch. Reine Buchausleihstätten sind die Häuser schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Mediale Trends lassen sich nirgends so gut beobachten wie in den Bibliotheken. Wo früher Kassetten, Atlanten oder Adressverzeichnisse nachgefragt waren, stehen heute Hörbücher und DVDs in den Regalen. Streamingangebote wie Freegal, die Onleihe oder Wissendatenbanken wie Munzinger sind aktuelle Umsatzbringer. Kaum ein medialer Trend übersteht ein Jahrzehnt, schon gibt es die nächste Speichertechnik oder digitalen Trend. Die Halbwertszeiten werden immer kürzer, doch die Büchereien pass(t)en sich immer wieder an. Doch was lässt sich aus dem Blick zurück für den Blick nach vorne mitnehmen?

Wer braucht noch Bücher in Bibliotheken?

Umfassend und luftig gefüllte Regale bilden den Rand der Bibliothek

Wenn es einen übergreifenden Trend gibt, den man an Bibliotheken ablesen kann, dann ist es meiner Meinung nach aber jener: die Bücher und Medien nehmen an Bedeutung ab. Dem (Vor)Lesen kommt in der Gesellschaft keine große Bedeutung mehr zu, stattdessen wandeln sich die Häuser zu Begegnungsstätten und Lernorten. So sind beispielsweise die Lesesäle in den großen Bibliotheken des Landes immer dann besonders ausgelastet, wenn Prüfungszeiten anstehen. Die Bücher in den Sälen sind dabei aber eher meist Kulisse, die für eine ruhige und konzentrierte Lernatmosphäre sorgen. Fürs Lernen selbst sind sie allerdings meist kaum von Belang für die Menschen, die die Lesesäle frequentieren. Als Lernorte und Räume der Stille bieten die Büchereien eine Atmosphäre, die Konzentration und Produktivität begünstigt. Aber die Medien der Häuser selbst, sie spielen doch eine eher untergeordnete Rolle, was sich auch in Würzburg beobachten lässt.

Das Konzept der Kolleg*innen, das das Begegnen und den Aufenthalt in den Mittelpunkt rückt, ist für moderne Bücherei in meinen Augen richtungsweisend. Doch nicht nur für diese – sondern auch für alle Leser*innen und letzten Endes auch für unsere Gesellschaft. Und das aus mehreren Gründen:

Begegnungsstätte

Ich beobachte eine zunehmende Aufspaltung der Gesellschaft nach Interessen, Einkommen oder auch Teilhabe. Man kann es Echokammern, Filterblasen oder Milieus nennen – Tatsache ist doch, dass Begegnungsstätten, in denen sich alle Schichten, Interessen, Ethnien und Alter vorurteilslos begegnen können, verschwinden. Kirchen verlieren an Bedeutung, Stadtviertel werden gentrifiziert – die Möglichkeiten von übergreifenden Kontaktmöglichkeiten schrumpfen. Der virtuelle Raum ersetzt oftmals den reellen Begegnungsraum, mit teils auch verheerenden Folgen. Der Erfolg des Rechtspopulismus, der bedenkliche Rechtsdrift der Gesellschaft und die ressentimentbeladene Sprache und die dadurch verrohenden Diskurse sind meiner Meinung nach nur ein paar Konsequenzen dieses Mangels an Begegnungsstätten und Foren im eigentlichen Sinne. Das Miteinanderreden und Sich begegnen verschwindet oder ist teilweise schon verlorengegangen. Man bleibt lieber unter sich und bestärkt sich in seiner Weltsicht. Aber genau dagegen können und sollen Bibliotheken ankämpfen. Als kostenlose Begegnungsstätten, als Kontaktmöglichkeiten, Menschen außerhalb der eigenen Lebenskreise kennenzulernen.

Damit verbunden ist auch ein weiterer Grund, weshalb ich dieses Konzept so wichtig finde.

Bibliotheken als gesellschaftliche Labors

Viel Arbeitsflächen, Zeitschriften und 3-D-Drucker: Einrichtung der Bücherei Am Hubland

Unlängst überschrieb der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen sein Debattenbuch mit dem Titel Die gereizte Gesellschaft. Darin konstatiert er, dass das Erregungspotential der Gesellschaft zugenommen hat. Der Tübinger Professor spricht von einer nationalen Erregung. Dinge, die früher einfach versandet wären, werden – digital begünstigt – schnell zu Shitstorms. Die Gerichte sind überarbeitet, die Streitfreude nimmt zu, die Toleranz ab. Gegen dieses ungute Klima einer Erosion des Miteinanders muss eine Bibliothek wirken und ihre Angebote machen. Exemplarisch lässt sich das in Würzburg beobachten. Wo – aufgrund des begrenzten Platzangebots – verschiedene Bedürfnisse aufeinander treffen, müssen die Menschen auch wieder lernen, Lösungen für ein gutes Miteinander zu finden. Denn das Platzangebot ist endlich, die Nerven mancher Bibliotheksnutzer*innen auch. Die Bücherei kann hier als Labor für ein gutes menschliches Miteinander wirken. Lösungen im Dialog erzielen, Rücksicht auf andere nehmen – das lässt sich nirgends so gut lernen wie in einer so konzipierten Begegnungszone Bücherei.

Rund-Um-die-Uhr-Verfügbarkeit

Schon oft wurde der Rückgang des linearen Medienkonsums prophezeiht und in Studien belegt. Besonders junge Menschen wissen den tageszeitunabhängigen Konsum von Medien zu schätzen. Auch generell greift ein Anspruch nach Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit um sich. Was Spotify, Netflix, Mediatheken und Co. im medialen Umfeld möglich machen, ist auch bei Dienstleistern wie etwa Banken ja schon lange gang und gäbe. Warum sollen Bibliotheken auf diese Anforderungen keine Antworten geben? Ich empfinde auch in dieser Hinsicht den Würzburger Weg als wichtig und richtig. Warum muss ich auf die Dienstzeiten von Angestellten warten, wenn ich schon vor meiner Arbeit um 7 oder am Feierabend nach 8 noch eine Bücherei zum Lernen oder Entleihen von Medien aufsuchen kann? Entleihen und zurückstellen können die Kunden die Bücher selber – warum also nicht unter dem Einsatz von technischen Kontrollmöglichkeiten den Menschen, die mit ihren Steuern solche Einrichtungen finanzieren, die Möglichkeit zur Benutzung geben?


Es gibt also viele gute Gründe, die für die Öffnung der Büchereien sprechen – gerade in diesen Zeiten. Was in Skandinavien gang und gäbe ist, setzt sich hier erst langsam durch. Was haltet ihr von dieser Art von Bücherei? Wie seht ihr die Rolle jetzt und in der Gegenwart, die Lesen und Büchereien spielen? Wart ihr selbst schon einmal in einer solchen Bücherei oder würdet eine solche besuchen? Ich freue mich auf eure Rückmeldungen!

Hier noch ein paar Eindrücke aus der Bücherei

Diesen Beitrag teilen

Auf anderen Wegen

Jackie Thomae – Brüder

Ist es Schicksal oder sind nur wir allein für unser Leben verantwortlich? Wie prägen uns unsere Wurzeln? Was beeinflusst unser Leben? Was macht uns zu den Menschen, die wir sind? Die Fragen stellt sich wohl jeder Mensch an bestimmten Scheidepunkten seines Lebens. Die Antworten, die daraus erwachsen, reichen von banalen Feststellungen bis hin zu tiefgehenden philosophischen Gedankengängen, die man sich machen kann.

Auch Jackie Thomae hat sich diesen Fragen gestellt und liefert in Brüder den Versuch einer Antwort, die einen guten Mittelweg zwischen den beiden obigen Polen findet. Vor allem der Aufbau ihrer Versuchsantwort ist spannend.

Zwei Brüder, zwei Leben, zwei Welten

Wie wäre es, wenn man einen Bruder hat, von dem man gar nichts ahnt? Woraus der durchschnittliche ARD-Degeto/ZDF-Fernsehredakteur eine Schmonzette gestrickt hätte, die gerne in fotogener skandinavischer oder alpiner Welt abgedreht worden wäre, so wählt Jackie Thomae einen anderen Weg. Sie erzählt zunächst von Michael, genannt Mick, der mit seiner Mutter in Ost- und dann Westberlin aufwächst. Beginnend 1985 schaut Jackie Thomae auf Micks Leben, der sich in Slacker-Manier durch sein Leben schummelt. Mal schmuggelt er als Muli Drogen nach Berlin, dann betreibt er mit Freunden eine Bar/Disco/Club, die ordentlich Profit abwirft. Aber einen wirklichen Plan für sein Leben, den hat Mick nicht.

Ganz anders da Gabriel, den wir im zweiten Teil des Buchs kennenlernen. Er arbeitet als Architekt, entwirft sowohl für arme Slum-Bewohner als auch für reiche Autokratien Gebäude und Wohnstätten. Zusammen mit seiner Frau Fleur lebt er in London eigentlich ein Bilderbuchleben. Kind, Villa, Erfolg – alles da. Doch auch Gabriels Leben ist nicht so glatt wie das nach außen gepflegte Bild. Glatt und reibungslos, das sind allenfalls die Baupläne, die er entwirft.

Von ihrer Verwandtschaft ahnen beide Männer lange Zeit gar nichts. Der eine versucht sich in London zu assimilieren, der andere taumelt durch ein schmutziges Berlin, ohne viel zuwege zu bringen. Ihren Vater Idris, gemeinsamer familiärer Nenner der beiden, lernen wir als Leser*innen dann im Mittelteil des Buchs kennen. Dieser kam als junger Student aus dem Senegal in die DDR. In Leipzig durfte er mit anderen Afrikanern ein Studium absolvieren, der sozialistische Bruderstaat wollte sich von seiner besten Seite zeigen. Aus seiner Studienzeit in der Deutschen Demokratischen Republik gingen zwei Kinder mit zwei Frauen hervor. Ebenjener Gabriel und Mick, zu denen er dann aber in der der Folge keinen Kontakt mehr pflegte, sondern zurück nach Afrika ging.

Ein Triptychon

Wie gestaltet Jackie Thomae ihre Geschichte nun aus? Sie wählt als Bauplan ihrer Erzählung die Form eines klassischen Triptychons. Zunächst erzählt Thomae im Kapitel Der Mitreisende von Mick, ehe sie sich im Mittelteil Intermezzo Idris zuwendet. Im Anschluss bildet Gabriel im Teil Der Fremde den letzten Teil der Familienaufstellung, ehe ein Epilog im Jahr 2017 Brüder vollendet.

Auch wenn die Form eines Triptychons eine große Achsensymmetrie und Harmonie in der Erzählung naheliegt – abgesehen von der Seitenaufteilung ist diese Harmonie nicht gegeben. Im Falle von Mick erzählt sich Jackie Thomae in personaler Erzählperspektive grob chronologisch durch dessen Leben.

Bei Gabriel hingegen wählt sie eine völlig andere Erzählweise. Immer abwechselnd berichten Gabriel und seine Frau Fleur aus Ich-Perspektive aus ihrem (Ehe)Leben und machen so gegenläufige Betrachtungsweisen offenbar. Das ist in meinen Augen deutlich besser gelungen und besitzt mehr Tiefenschärfe, was aber zugleich eine gewisse Unwucht ins Buch hineinbringt. Gegen den starken Gabriel-Teil fällt der Mick-Teil doch ab (was auch damit zu tun haben könnte, dass ich Gabriel mit der gewählten Erzähltechnik deutlich näher komme).

Abgesehen von dieser gestalterischen Unwucht ist Brüder ein Roman, der jene eingangs erwähnten Fragen elegant und en passant abhandelt. Immer bleibt Jackie Thomaes Buch gut lesbar und treibt die Handlung voran. Auch die Fragen von schwarzer Identität behandelt Brüder, ohne groß aus dem erzählerischen Tritt zu kommen (was auch kongenial auf dem Cover wieder aufgegriffen wird). Alles fügt sich gut ein. Die Entscheidung, das Buch für den Deutschen Buchpreis 2019 zu nominieren, ist durchaus nachvollziehbar.

Mit Brüder gelingt Jackie Thomae ein wirklich unterhaltsamer, phasenweise wirklich einsichtsreicher und bestechender Familienroman der etwas anderen Sorte. Das Buch ist nicht unbedingt die Antwort, aber eine lesenswerte Ergänzung zu Paul Austers Lebensstudie 4,3,2,1.


Andere Meinungen und Eindrücke zu Jackie Thomae gibt es unter anderem auch hier bei Gérard von Sounds&Books, bei Deutschlandfunk Kultur und bei SWR 2 Kultur.

Diesen Beitrag teilen

Simone Buchholz – Hotel Cartagena

Neues von der Königin des deutschsprachigen Krimis: Simone Buchholz legt mit Hotel Cartagena den inzwischen neunten Band der Reihe um die Staatsanwältin Chastity Riley vor. Und sie liefert einmal mehr. Großes Kino vom Hamburger Kiez.


Diese Party hat sich Chastity Riley eigentlich ganz anders vorgestellt. Auf einer Geburtstagsparty in einem Hamburger Hotel trifft sie auf alte Kolleg*innen. Eigentlich ist ein lockerer Abend in feschem Ambiente geplant.

Die Wände sind aus Glas, von der schwarzen Decke baumeln ein paar gedimmte Kugellampen, zu unseren Füßen liegt der Hamburger Hafen in seinem gleißenden Nachtlicht. Diese Bar macht so sehr einen auf Ausblick, dass ich eigentlich keinem Drink, den ich nicht selber gemixt habe, über den Weg trauen sollte. Zu viel aufdringliche Schönheit, zu viele Sich-mich-an-Sachen, zu viel Ablenkung. Da kann sich doch keiner auf seinen Alkohol konzentrieren.

Buchholz, Simone: Hotel Cartagena, S. 15

Doch dann kommt alles anders. Geiselnehmer stürmen die Bar, nehmen die Beamt*innen und andere Gäste als Geiseln und verzichten zunächst auf Forderungen. Um was es den Geiselnehmern geht, das erfährt man als Leser*in in einer zweiten Geschichte, die bis ins ferne, titelgebende Cartagena führt.

Vom Hamburger Hafen nach Cartagena

Einmal mehr ist der Hamburger Hafen Ausgangsort für eine dramatische Geschichte, die mit tödlichen Konsequenzen enden soll. Auf wenigen Seiten gelingt es Simone Buchholz hier wieder, eine rasante Hintergrundgeschichte zu erzählen, die berührt und mitreißt.

Und auch auf den übrigen Seiten des Buchs lässt es die Wahlhamburgerin wieder ordentlich krachen. Titelüberschriften wie „Alex Meier, Fußballgott“, „Mein Herz macht ein ungesundes Geräusch“ oder „Ist die Hammerwerfertruppe schon unterwegs“ sprechen für sich. So gut wie kaum einer anderen Schriftstellerin gelingen Simone Buchholz knackige Dialoge, die auf den Punkt geschrieben sind. Und auch abseits der Dialoge schlägt ihr Talent im Finden von ungewöhnlichen (Sprach)Bildern in Hotel Cartagena einmal mehr Funken. Eine solche Originalität beim Kreiern von Formulierungen, die gibts im deutschen Krimi nicht so oft.

Er schmeißt die Zigarette in eine Pfütze, schließt den Mercedes ab, geht über die Straße und drückt auf die Klingel, die zur Wohnung im dritten Stock links gehört.

Der Druck auf seinen Brustkorb lässt etwas nach.

Er atmet tief durch, und die Nachtluft schraubt sein Herz auf, damit der Augenblick, der gleich kommt, da auch reinkann.

Buchholz, Simone: Hotel Cartagena, S. 12

Die coolste Staatsanwältin im deutschen Krimi, die besten Dialoge, dazu noch handfeste Action – Krimiherz, was will man mehr?


  • Simone Buchholz – Hotel Cartagena
  • ISBN 978-3-518-47003-9 (Suhrkamp)
  • 228 Seiten. Preis: 15,95 €
Diesen Beitrag teilen