Reif Larsen – Die Karte meiner Träume

Der erste Roman und gleich einmal ein nahezu vollumfänglich gelungenes Spitzenbuch. Dieser beeindruckende Husarenstreich gelingt dem Amerikaner Reif Larsen mit seinem Debüt Die Karte meiner Träume. Ein Buch, das zeigt, was Literatur zu leisten im Stande ist, wenn man sich ihrer ganzen Fülle bedient und sie ernst nimmt.


Es ist die letzte Seite dieses ebenso schönen wie verspielten Buchs, auf der sich die Losung des Romans versteckt hat. Inmitten eines großflächigen Gemäldes prangt die Postulat Alles ist Fiktion. Das lässt sich für Larsens Debütroman auch umdrehen, der den Beweis antritt, dass Fiktion alles sein kann. Fiktion kann Geschichten erzählen, andere Welten errichten und den Lesenden völlig seiner Umwelt entziehen. Mir erging es so im Laufe der Lektüre, die so bunt, so mitreißend, so clever konstruiert und so umwerfend gelungen ist, das ich ihr postwendend einen Platz in meinem ohnehin schon knapp bemessenen Buchregal freigeräumt habe. Hier lässt sich nämlich wieder der Zauber gut gemachter Geschichten erleben, den gelungene Bücher verströmen.

Solche gut gemachten Geschichten beinhalten ja immer einen Helden oder eine Heldin, der die Geschichte trägt und sich im besten Falle über das Buch hinaus im Kopf der Lesenden verankert. Larsen gelingt dies mühelos, indem er den Ich-Erzähler Tecumseh Sparrow Spivet ersinnt. Dieser Zwölfjährige ist ein mehr als außergewöhnliches Kind. Das beginnt schon beim Vornamen, den er mit seinen männlichen, ursprünglich aus Finnland stammenden Vorfahren teilt. Den Beinamen verdankt er der Legende, dass im Moment seiner Geburt ein Spatz gegen die Scheibe seines Elternhauses prallte und starb. Ebenso ungewöhnlich wie T. S.‘ Namensgebung ist die ganze Familie Spivet, die sich unter dem Dach des Farmhauses in Montana versammelt.

Eine sonderliche Familie

Da ist T.S. Spivets Schwester Gracie, mit der Tecumseh so gar nichts anfangen kann. Ähnlich schwierig ist die Beziehung des hochbegabten Jungen zu seiner Mutter, die er nur Dr. Clair nennt. Sie hat sich der Erforschung des Tigermönchs gewidmet. Doch zum Leidwesen der Koleopterologin konnte auch sie bislang noch keinen Beweis erbringen, dass jene Käferart tatsächlich existiert. Während sich T. S. ihr aufgrund der Forschernatur wenigstens etwas verbunden fühlt, kann er mit seinem Vater rein gar nichts anfangen. Dieser geht dem Tagewerk eines Farmers nach und wäre doch so gerne auch ein Cowboy aus alten Tagen.

Und da ist dann zuletzt – beziehungsweise eigentlich schon nicht mehr – Layton, der Bruder von T. S.. Jener Bruder starb bei einem Unfall mit einer Flinte in einem Stall des Farmhauses. Der genaue Tathergang liegt im Dunklen, niemand in der Familie thematisiert dieses Unglück näher.

Diese Familie, die dem gängigen Bild einer harmonisches und miteinander (re)agierenden Gefüges so gar nicht entspricht, sie ist die Heimstatt von T. S. Seine Leidenschaft für Karten und fürs Kartographieren, sie wirkt in dieser Umgebung so fremd, wie er sich selbst im Familienverbund führt. Und doch löst diese Leidenschaft große Ereignisse aus, die von einem Telefonanruf in Gang gesetzt werden, der T. S. auf den ersten Seiten des Buchs ereilt.

Ein Anruf aus dem Smithsonian

Dieser Anruf kommt aus Washington, genauer gesagt aus der Smithsonian Institution. Dort, in dieser bedeutenden Forschungseinrichtung, ist man auf T. S. Spivet aufmerksam geworden. Ein Forscher hat nämlich die Karten und wissenschaftlichen Darstellungen des Zwölfjährigen unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eingereicht. Und dort, in der Forschungseinrichtung, die schon Größen wie Bohr oder Einstein besuchten, hat man nun entschieden: man möchte T. S. eine Ehrung in Form der Baird-Medaille zuerkennen. Doch dafür muss Tecumseh nach Washington reisen. Von Montana aus wirklich eine halbe Weltreise, selbst wenn man ein begnadeter Kartograph ist, aber weder Auto noch Führerschein besitzt.

Und so setzt sich die Handlung in Gang, die eine in drei Teile untergliederte Reise ist. Einmal quer durch den Norden bis in den Westen der USA. Auf diesen Roadtrip wagt sich Tecumseh ganz alleine, begleitet nur von seiner Kartographen-Ausrüstung, einem präparierten Spatzenskelett und dem Tagebuch seiner Mutter. Wird es Tecumseh gelingen, die Täuschung aufrechtzuerhalten und an die Baird-Medaille zu gelangen, obwohl alle von einem erwachsenen Preisträger ausgehen? Aus dieser Frage generiert das Buch einen Spannungsbogen, der von Tecumsehs Roadtrip unterstützt wird. Immer ist etwas in Bewegung, innerlich oder äußerlich, selbst wenn T.S. tagelang im selben Abteil eines Union-Pacific-Zugs sitzt.

Wie Reif Larsen diesen inneren und äußeren Roadtrip gestaltet, durchkomponiert und nachvollziehbar rhythmisiert, das ist große Kunst. Mal passiert fast nichts, wenn T. S. im Tagebuch seiner Mutter versinkt und erstaunliche Entdeckungen macht. Dann wird die Prosa ruhig, melancholisch. Dann treibt wiederum alles nach vorne, die Ereignisse überschlagen sich, und auch die Kommentierung des Geschehens am Rand des Buchs nimmt zu. In diesen Einwürfen meldet sich T. S. mit Gedanken und Anekdoten immer wieder zu Wort, zeichnet, um seine Überlegungen zu illustrieren. Das ist clever gemacht und wunderschön gestaltet. So entsteht auch ein Dialog im Buch selbst, Abschweifungen, Ergänzungen, verblüffende Theorien und wild überbordende Arabesken ergänzen die „normale“ Handlung.

Inhalt, Sprache, Metaebenen – es passt

Eine Figur nur über die Sprache zu gestalten, auf Äußerlichkeiten kaum einzugehen, sie nach der alten Weisheit Show, don’t tell zu zeichnen, das schaffen in dieser Intensität nicht viele junge Autoren. Reif Larsen gehört dazu – und wurde auch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié sehr stimmig ins Deutsche übertragen.

Wie Larsen Tecumseh nie beschreibt, sondern ihn einfach erzählen lässt, wodurch ein ungemein facettenreiches und stimmiges Bild eines hochbegabten, aber auch problembeladenen Jungen entsteht, das ist große Kunst. Zudem gelingt es auch, zahlreiche ambivalente Figuren und Situationen entstehen zu lassen, die eine Fülle von Interpretationen zulassen. Auch ich habe mich gerne auf diese Deutungsmöglichkeiten eingelassen. So habe ich in Die Karte meiner Träume ein großes Buch der Trauer und der Trauerverarbeitung entdeckt.

Die Katastrophe um Layton und die Flinte wird zunächst ja immer nur peripher berührt. Doch die alte Binsenweisheit, dass man auf einer Reise, egal wie weit sie führen mag, am Ende doch immer wieder nur bei sich ankommt, sie bestätigt sich auch hier. So steht am Ende für mich auch nicht die mögliche Baird-Medaille oder die Ankunft Tecumsehs in Washington als Ergebnis, sondern die Trauerverarbeitung, die während T. S.‘ Reise geschieht. Am Ende zeigt sich, was damals in jenem Stall wirklich passierte. Hier wird Trauer plastisch und erfahrbar, von den kleinsten, scheinbar nebensächlichen Details, bis zum großen Ganzen.

Am Ende mag die Konstruktion etwas ächzen und stöhnen. Aber nichtsdestotrotz ist hier ein Autor zu entdecken, der seine Buchlosung, dass alles Fiktion sei, ernst nimmt. Eine begeisternde, toll gestaltete und geschriebene Lektüre, die auch ein Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen kein Gran an Qualität eingebüßt hat. Inhalt, Sprache, Deutungsmöglichkeiten, Metaebenen – hier werden all diese Versprechen nahezu vollständig eingelöst, die mir gute Literatur gibt. Ein beeindruckender Erstling, der mich begeistert zurückgelassen hat.


Bildquellen: Smithsonian Institut: Von David Bjorgen – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=523621

Buchseite und Cover: S.Fischer-Verlag

Mein Literaturblogjahr 2019

Nun, wenige Tage vor Ende dieser Dekade möchte ich auch die Gelegenheit zur Rückschau nutzen, nachdem bereits an dieser Stelle geschätzte Buchmenschen ihre Empfehlung für das beste Buch des Jahres abgegeben haben. Was hat sich auf dem Blog getan? Was waren meine Highlights? Und was sind meine besten Bücher des Jahres? Vorhang auf zur Rückschau auf mein Literaturblogjahr!


Am Anfang des Jahres standen zwei Vorsätze aus dem letzten Jahr. Zum Einen wollte ich mehr Frauen lesen, zum anderen mehr Bücher aus Indie-Verlagen besprechen. Ist es mir gelungen?

Da ist zunächst die Relation weiblicher zu männlichen Autor*innen: in diesem Jahr kann ich vermelden, dass 43 Büchern von Männern 40 von Frauen gegenüberstehen. Fast ist mir hier die Parität gelungen, nimmt man noch meinen Beitrag zum Autorinnenschuber dazu, kann man einen Gleichstand gelten lassen.

Und auch den Anteil an unabhängigen Verlagen konnte ich ausbauen (dass damit auch viele Indie-Titel unter meiner Top10 gelandet sind, ist eine erfreuliche Begleiterscheinung). So schlagen exakt 30 besprochene Bücher aus unabhängigen Verlagen zu Buche. Das macht immerhin eine Indie-Quote von knapp 40 Prozent auf dem Blog aus. Auch damit bin ich wirklich zufrieden.

So, nach den Hausaufgaben aus dem vorigen Jahr nun die Fragen: was waren meine Highlights des Jahres?

Meine Highlights

Da ist natürlich der Besuch der Leipziger und der Frankfurter Buchmesse zu nennen. Tolle Begegnungen mit anderen Blogger*innen, Gespräche mit Verlagen, Lesungen, etc. Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse hatte ich unter dem Titel #norwegenerlesen ein kleines Norwegen-Spezial gestartet und vermehrt Bücher aus dem Hohen Norden besprochen.

Im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse wird ja auch traditionell der Deutsche Buchpreis verliehen. Ich durfte als Bloggerpate ein Buch der Longlist näher vorstellen, nämlich Lola Randls Der große Garten. Was hat mich dieses Buch genervt. Dafür habe ich jede Menge anderer toller Bücher im Rahmen des Deutschen Buchpreises entdeckt. Unter dem Schlagwort #buchpreisbloggen finden sich diese hier auf dem Blog.

Etwas stolz bin ich auch auf meine prophetischen Fähigkeiten. So erwies sich mein Buchpreis-Lotto in diesem Jahr als ungewöhnlich treffsicher. Und auch den Sieg Sasa Stanisics und seine Reaktion auf den Gewinn habe ich komplett richtig vorhergesagt. Vielleicht sollte ich es doch noch einmal mit Glücksspiel probieren.

Gottschalk liest? und ein Eklat

Neben dem Deutschen Buchpreis durfte ich dieses Jahr auch wieder beim Bayerischen Buchpreis dabeisein. Jener Abend geriet heuer dank Eklat auf offener Bühne zu einem wirklich denkwürdigen Ereignis.

Im Februar war ich live vor Ort, als mit Gottschalk liest? die Pilotaufzeichnung der Literatursendung des BR aufgenommen wurde. Thomas Gottschalk wollte die Lust auf Literatur und Lesen wecken. Eine durchaus lobenswerte Idee mit äußerst kurzer Haltbarkeit. Die Sendung wurde inzwischen schon wieder eingestellt.

Ansonsten bin ich mit der Entwicklung, die der Blog nimmt, sehr zufrieden. Jedes Jahr steigen die Zugriffszahlen, die Literaturauswahl ist ebenso subjektiv wie bunt gemischt, und immer wieder ergeben sich schöne Kooperationen.

Die Liste meiner meistgeklickten Beiträge hat mich dieses Jahr überrascht. Die mit Abstand am besten laufenden Besprechung ist eigentlich ein Verriss, nämlich Daniel Masons Der Wintersoldat. Von Monat zu Monat wird diese Besprechung zu meiner Überraschung mehr gelesen. Ansonsten waren noch echte Tops meine Umfrage unter Literaturmenschen zum besten Buch des Jahres sowie mein Beitrag über die mögliche Zukunft des Lesens und von Bibliotheken.

Was nicht funktioniert hat

Was dagegen offensichtlich niemanden interessiert hat, das waren meine Besprechungen zu Zinzi Clemmons Was verloren geht, Whitney Scharers Die Zeit des Lichts und Burkhard Spinnens Rückwind (alle nicht einmal 30 mal aufgerufen). Generell funktionieren Besprechungen deutlich schlechter als alles andere auf dem Blog. Für mich natürlich kein Grund, damit nicht weiter zu machen.

Was ebenfalls kaum geht, ist das Kommentieren. Gesammelt auf dem Blog waren es nicht einmal drei Kommentare, die meine Beiträge hier hervorgerufen haben. Dennoch gibt es immer mal wieder schöne Rückmeldungen, die die Motivation dieses Literaturbloggers hochhalten.

Doch genug der Worte – jetzt gilt es. welche Bücher haben mich dieses Jahr begeistert? Welche werden auch künftige Regalrevisionen überstehen (es wäre ja utopisch zu glauben, alle 200 dieses Jahr gelesenen Bücher seien literarische Perlen gewesen)? Welche Bücher sind die besten des Jahres?

Meine besten zehn Bücher des Jahres

Wollte man alles auf eine Top 10 eindampfen, dann wären auf alle Fälle diese Bücher in meiner Liste vertreten:

Alle diese zehn Titel wurden auf dem Blog besprochen und finden sich unter folgenden Links: Obige Reihe: Emanuel Maeß Gelenke des Lichts (erschienen bei Wallstein). Valeria LuiselliArchiv der verlorenen Kinder (übersetzt von Brigitte Jakobeit, erschienen bei Kunstmann). Petina GappahAus der Dunkelheit strahlendes Licht (übersetzt von Anette Grube, erschienen bei S. Fischer). Ruth LillegravenSichel (übersetzt von Klaus Anders, erschienen bei Edition Rugerup). A. G. LombardoGraffiti Palast (übersetzt von Jan Schönherr, erschienen bei Kunstmann).

Untere Reihe. Nora BossongSchutzzone (erschienen bei Suhrkamp). Davide EniaSchiffbruch vor Lampedusa (übersetzt von Susanne Van Volxem und Olaf Matthias Roth, erschienen bei Wallstein). Ulrike DraesnerKanalschwimmer (erschienen bei mare). Norbert ScheuerWinterbienen (erschienen bei C.H. Beck). Jean-Baptiste del AmoTierreich (übersetzt von Karin Uttendörfer, erschienen bei Matthes&Seitz)


Das war mein Literaturblogjahr 2019. Was waren eure Bücher des Jahres? Welche Ereignisse haben euch begeistert oder verärgert (Handkedebatte etc.)? Ich bin auf eure Meinungen gespannt!

Esi Edugyan – Washington Black

Man nehme etwa 30 Prozent Jules Verne und 70 Prozent Colson Whitehead, vermische kräftig, rühre einmal um et voilà: man erhält Washington Black von Esi Edugyan. Ein Roman, der von einer unglaublichen Reise erzählt, von Rassismus und von unbändigem Forscherdrang (übersetzt von Anabelle Assaf).


Schon das Cover zeigt die Richtung, in die sich das Buch bewegt. Denn die darauf abgebildete Flugmaschine spielt eine zentrale Rolle in Edugyans Buch. Sie ist es, die den Sklavenjungen George Washington Black und den Weißen Christopher Wilde zusammenbringt. Dieser ist der Bruder von Blacks Herr und Plantagenbesitzer Erasmus Wilde. Jener herrscht auf Barbados über seine Leibeigenen mit sadistischer Härte und quält sie, wo er nur kann. Ganz anders sein Bruder Christopher, der Erasmus besuchen kommt und zu dem Washington schon bald eine Beziehung aufbaut.

Christopher, genannt Titch, ist ein Charakter, der Züge Alexander von Humboldts trägt: Naturwissenschaftler, aufgeschlossener Geist und Abolitionist. Ihn treibt der Plan eines Luftschiffs um – und Washington Black erscheint ihm dafür der perfekte Partner zu sein. Der junge Schwarze ist ein talentierter Zeichner, neugierig und ergänzt sich intuitiv mit Wilde. Zusammen arbeiten sie an dem Start der wunderlichen Flugmaschine, die tatsächlich bald zur Notwendigkeit für Titch und Washington wird. Denn nach dem Freitod von Christophers Cousin müssen die beiden von Erasmus‘ Plantage fliehen. Zusammen treten sie die Reise im Fluggerät an, die die beiden einmal um die Welt führen wird. Südamerika, Nova Scotia und England sind dabei nur ein paar Stationen, die wir mit Washington im Laufe des Buchs bereisen.

Einmal um die halbe Welt

Washington Black ist eine reizvolle Mischung aus historischer Fiktion und Reiseroman. Wie der eingangs erwähnt Jules Verne hat auch Esi Edugyan viel Freude dabei, technische Gerätschaften zu erfinden, mit der sie ihr Personal auf Reisen schickt. Doch eine heitere Schnitzeljagd ist ihr Buch zu keiner Zeit. Stattdessen wirft sie auch einen genauen Blick auf die damaligen Zustände auf Barbados, Südamerika und anderswo. Die brutale Sklaverei (die Colson Whitehead in seinem Roman Underground Railroad ähnlich präzise beschrieb) und die ständige Gefahr, selbst außerhalb der Südstaaten gefangen genommen und versklavt zu werden, Edugyan schildert sie eindrücklich. Sie zeigt den brutalen Rassismus ungeschönt und wie verschiedene Gesellschaften auf Washington Black reagieren (etwa im vermeintlich aufgeklärten England oder im Ewigen Eis).

Dennoch hat ihr Roman nie eine zu große Schwere, weil Esi Edugyan eben auch viel auf Tempo und Handlung setzt. Auf den über 500 Seiten hetzen die beiden Protagonisten manchmal fast etwas atemlos (und für meinen Geschmack zu reibungslos) durch die Weltgeschichte. Kleine Abzüge gibt es von mir auch für die Figurengestaltung, denn Washington Black ist ja eigentlich noch ein Kind. Er hat nie eine Schulbildung erhalten und wird nur kursorisch von Titch erzogen. Dennoch teilt er uns Lesern mit, dass es nach „Holzkohle und Naphthalin“ (S. 337) röche. Woher er eine derartige Benennungsstärke und solche olfaktorischen Kenntnisse hat, das erschließt sich mir nicht ganz. Solche Unstimmigkeiten gibt es einige im Lauf des Buchs, wo die Perspektive verrutscht oder Washington mehr Kenntnisse besitzt, als er eigentlich haben kann. Hier merkt man die Schwäche des historischen Romans, der doch mit unserer heutigen Sicht auf die Welt verfasst ist, statt eine genuine Figur in den Mittelpunkt zu stellen. Auch fehlen Widerstände, die eine solche im Buch beschriebene Reise mit sich bringen würde (Krankheiten, Irrwege, etc.). Alles geht glatt.

Fazit

Nichtsdestotrotz unterhält das Buch wirklich gut. Es besitzt Tempo und Drive, nimmt die Leser*innen mit an exotische Schauplätze und wirft einen Blick auf die Themen Sklaverei und Rassismus. Unstimmigkeiten in der Figurengestaltung oder leichte Unwuchten im Plot seien da verziehen. Ein Buch in der Tradition von Underground Railroad.

Weitere Meinungen zum Buch gibts auch hier: Lesen in vollen Zügen (die auch ein Interview mit der Autorin geführt hat), Schiefgelesen und Bingereader.

Whitney Scharer – Die Zeit des Lichts

Whitney Scharer schreibt in ihrem Debüt Die Zeit des Lichts ein klassisches Biopic über Lee Miller, die Geliebte Man Rays. Nicht weniger, leider aber auch nicht mehr.


Ausgangspunkt ist dabei Aufenthalt Lee Millers in Paris. In ihrer Heimat, den USA, war sie als gefragtes Model für Vogue und Co aktiv. Nun verbringt sie ihre Tage in den Bistros und auf den Partys rund um Montparnasse. Bei einer dieser Partys begegnet Lee Miller Man Ray. Der Fotograf hat sich mit seinen Porträtfotografien und Auftragsarbeiten einen Namen gemacht und betreibt ein Atelier, bei dem die Pariser Bohème ein und aus geht.

Die Fotografin Lee Miller

Mit Beharrlichkeit wird Lee Miller zunächst zu Rays Assistentin, später auch zu seiner Geliebten. Im brodelnden Paris der 20/30er Jahre reift Lee zur ernstzunehmenden Fotografin und Künstlerin heran und macht die Bekanntschaft von Personen wie Jean Cocteau, Ilse Bing oder André Breton. Doch nach und nach stellt Lee Miller fest, dass auch in Paris deutlich mehr Schein als Sein herrscht. So mancher strahlende Künstler stellt sich doch eher als trügerisch und falsch heraus. Auch Man Ray selbst hat seine Abgründe und ihre Liaison entpuppt sich als reichlich explosiv. Doch die Amerikanerin kämpft um ihre Selbstbestimmung und künstlerische Anerkennung. So ist Die Zeit des Lichts auch eine Geschichte des Kampfs gegen Konventionen und eine Geschichte einer Emanzipation.

Ein brodelndes und rauschhaftes Paris

Whitney Scharer entführt mit ihrem Debüt direkt hinein in ein pittoresk-brodelndes Paris voller Bistros, Kleinkunstbühnen und rauschhaften Partys. Künstlercliquen ziehen durch die Stadt, private Mäzene schmeißen Gatsby-ähnliche Partys. Sie inszeniert die Stadt und ihre Bewohner als großen Rausch, in dem sich Lee Miller zunehmend sicherer und souveräner bewegt.

Doch weder für die Schilderung der Kunst der Fotografie noch der von Paris findet Scharer neue Wege oder einen überzeugenden Zugriff. Genauso gut hätte der Roman in Berlin zur gleichen Zeit spielen können, Unterschiede wären nicht auszumachen. Und auch von der Faszination, die durch Bilder entstehen kann, konnte mir Whitney Scharer kaum etwas vermitteln. Das Problem, das ich schon bei William Boyds Die Fotografin hatte, kam auch bei Die Zeit des Lichts für mich zu tragen: die Übersetzung der Welt des Bildermachens in die der Sprache klappt nur bedingt. Eine eigene Möglichkeit, das Fotografieren und dessen Reize in Sprache zu übertragen, auch Whitney Scharer findet sie nicht.

Unkonventionelles Leben, konventioneller Roman

So unkonventionell das Leben Lee Millers auch gewesen sein mag, so konventionell ist leider das Buch gestaltet. Wir lernen zu Beginn Lee als Schatten ihrer selbst kennen. Als Kolumnistin für Kochkultur verdingt sie sich und bewirtet daheim große Tafelrunden. Sie ist dem Alkohol alles andere als abgeneigt und die Zeit war nicht gut zu ihr. Ihre Chefin stellt sie bei einer dieser Tafelrunden vor die Wahl: entweder beschreibt Miller ihre Lebensgeschichte, oder ihr Vertrag als Kolumnistin endet.

Mit diesem erzählerischen Kniff setzt dann die Rahmenhandlung ein, die die chronologisch die Paris-Phase aus Lee Millers Leben schildert. In diese geradlinig ablaufende Erzählung schneidet Whitney Scharer immer wieder kurze Episoden aus Millers Leben als Kriegsfotografin während des Zweiten Weltkriegs. Doch wie wurde aus Lee Miller diese Kriegsreporterin? Was passierte zwischen ihren Erlebnissen in Paris und im Zweiten Weltkrieg? Was geschah, bis wir Lee Miller im Prolog 1966 und Epilog 1974 wiedertreffen? All das erzählt Whitney Scharer zu meinem Bedauern nicht. Die Zeit des Lichts ist für mich voller Leerstellen, die ich gerne von der Autorin gefüllt bekommen hätte. Lee Millers Leben gäbe dies ja auf alle Fälle her. Aber stattdessen viel Weißraum in diesem Biopic, das von Nicolai von Schweder-Schreiner aus dem Englischen übertragen wurde. Leider für meinen Geschmack zu konventionell und zu brav, als dass es mich wirklich begeistert hätte.


Ein kleiner Tipp am Rande: wer neugierig geworden ist auf die Beziehung von Man Ray und Lee Miller, dem sei die unten angehängte Arte-Doku anempfohlen. Und ein Interview mit Whitney Scharer gibt es auch, und zwar unter folgendem Link.

https://www.youtube.com/watch?v=fVA4AG67BmI

Bücher des Jahres 2019

Dezember: Zeit der Jahresrückblicke. Auch ich mach hier auf dem Blog keine Ausnahme. Aber diesmal halte ich mich persönlich fürs erste zurück und lasse andere Leser*innen zu Wort kommen.

Ich habe verschiedenste Menschen innerhalb und außerhalb der Buchbranche gefragt, was für sie ihre Bücher des Jahres waren. Welches Buch hat sie 2019 am meisten begeistert? Warum haben sie die genannten Titel so berührt? Was leisten ihre Bücher für unsere Gesellschaft? Was empfehlen sie zur Weihnachtszeit? Über die vielen ganz unterschiedlichen Antworten habe ich mich sehr gefreut. Vielleicht ist für euch auch die ein oder andere Anregungen bei den Tipps mit dabei?

„Kintsugi“ von Miku Sophie Kühmel.

Schon vor der Buchpreis-Nominierung wurde mir das Buch von der Lektorin wärmstens ans Herz gelegt und ich kann diese Empfehlung nur genauso weitergeben.
Vier Menschen in einem Ferienhaus irgendwo auf dem Land. Es ist Winter. Still und starr ruht der See. Im Haus bricht das Leben aus den Fugen und hinterlässt nichts als Scherben.
Kintsugi fühlt sich beim Lesen an wie eine Kaschmirdecke, die einem schlussendlich aber das Herz bricht. Man sitzt weinend auf der Couch und freut sich über diesen Schmerz. Wie gut das doch tut.

Kühmel, Miku Sophie: Kintsugi. Erschienen bei S.-Fischer. ISBN: 978-3-10-397459-1, Preis: 21,00 Euro

Gespräch mit Freunden“ von Sally Rooney  

Warum ich es empfehle? Sally Rooney ist eine noch sehr junge, dafür aber schon hoch gelobte irische Schriftstellerin und, wenn ich ehrlich bin, bin ich immer etwas skeptisch, wenn Kritiker sich so überschlagen. Aber hier ist es wirklich anders: Von Beginn an hat mich ihre Sprache in den Bann gezogen. Die Charaktere sind derart filigran gezeichnet, dass von Beginn an eine ganz besondere Atmosphäre herrscht.  

Nur ganz kurz, um was es geht: Zwei junge Frauen lernen ein Künstlerehepaar kennen und verbringen mit ihnen und einen Urlaub. Die Beziehungsgefüge innerhalb dieser Gruppe sind fein verwoben, wirken ganz selbstverständlich, gar nicht konstruiert oder auf Effekt ausgelegt. Es werden viele unterschiedliche Themen besprochen, kaum etwas wird ausgelassen. Nichts ist aber besonders dominant, sondern alle haben scheinbar die gleiche Wertigkeit. Man wird des Lesens nicht überdrüssig, sondern verliert sich sehr schnell in den Seiten dieses sensiblen Romans. Einiges hat mich selbst direkt angesprochen und zum Nachdenken angeregt, daher hat sich für mich mit dem Titel Gespräch unter Freunden sozusagen der Kreis geschlossen.

Rooney, Sally: Gespräche mit Freunden. Übersetzt von Zoe Beck. Erschienen bei Luchterhand. ISBN: 978-3-63087541-5, Preis: 20,00 Euro

„Sand“ von Wolfgang Herrndorf / „Dschungel“ von Friedemann Karig

Es gibt wenig Öderes als Menschen, die laut darüber ächzen, dass sie ja „nur noch im Urlaub“ zum Bücherlesen kommen. Aber ich kann es doch auch nicht ändern. In der thailändischen Hängematte lief ich dieses Jahr aber zu Höchstform auf und las wie ein junger Schmökergott vor Erfindung von Pokemon Go. Bis die Hängematte nicht mehr schaukelte, sondern auf einem Stapel ausgelesener Bücher aufsaß. Absoluter Favorit: Sand von Wolfgang Herrndorf. Damit bin ich spät dran, schon klar. Aber what a ride! Und wie traurig ich war, als es nach fast 500 Seiten zu Ende ging.

Lobend, nein jubelnd, erwähnt werden muss auch Dschungel von meinem Freund Friedemann Karig: Ein Debütroman, bei dem ich das Vergnügen hatte, den Entstehungsprozess  beobachten zu dürfen, wenn auch aus der Berliner Ferne mal nach München mal nach Kambodscha. Die erste Version als Word-Datei gelesen, dann eine Zwischenstufe auf dem Kindle, in der noch auszutauschende Wörter gefettet waren (lustiger Moment, als ich das kapierte). Und am Ende ist es so ein wunderbarer Coming-of-Ageturner geworden über Freundschaft, Unterwegssein und das Erinnern. 

Für 2020 übrigens vorgenommen: Mehr Bücher von Frauen lesen, vielleicht sogar ausschließlich. Habe da beschämt ein Defizit festgestellt und Till Raether hat mich mit Muriel Spark schon so angefixt, dass allein damit schon ein oder zwei Hängemattenwochen zu bestreiten sein werden.

Herrndorf, Wolfgang: Sand. Erschienen bei Rowohlt. ISBN: 978-3-87134-734-4, Preis: 19,95 €

Karig, Friedemann: Dschungel. Erschienen bei Ullstein. ISBN 978-3-550-20013-7, Preis: 22,00 €

„Treideln“ von Juli Zeh

Treideln ist kein Roman. Es ist trotzdem (oder deshalb?) Juli Zehs bestes Buch. Im Jahr 2013 sollte sie die Frankfurter Poetikvorlesung halten – sprich: über ihr eigenes Schreiben Auskunft geben. In Treideln druckt sie einige höchst amüsante, unterhaltsame und geistreiche„Briefwechsel“ (im Grunde sind es aber nur ihre Briefe) zwischen sich und anderen Personen (im Wesentlichen ihrem Mann, ihrem Verleger, einem befreundeten Schriftsteller, einer befreundeten Lyrikerin) ab, in denen sie erklärt, warum sie die öffentliche Auskunft in Form der Poetikvorlesung ganz grundsätzlich ablehnt. In Form der Briefe tut sie es dann natürlich doch – denn sie schreibt genau über das, worum es einer Poetikvorlesung geht: über sich als Schriftstellerin. Das ist nicht nur unheimlich lustig (auch, wenn sie zwischen den Emails kurze Schreiben an die städtische Abfallbehörde abdruckt, in denen sie für eine weitere Papiermülltonne kämpft, oder von peinlichen Erinnerungslücken berichtet, die sie auf Podien ereilt haben, als ihr die Namen ihrer eigenen Romanfiguren nicht mehr einfielen), sondern auch sehr lehrreich: es wäscht all den Lesern gehörig den Kopf, die viel zu viel in Texte sowie in die privaten Verstrickungen von Schriftstellerin in ihre eigenen Texte hineininterpretieren.

Für alle, die Juli Zehs Romane mögen, ist Treideln ein absolutes Muss – und für alle, die Juli Zehs Bücher nicht mögen, erst recht. Warum? Nicht zuletzt um zu erkennen (wie auch ich es tat!), dass Schriftsteller auf keinen Fall nur an ihren Romanen zu messen sind. Meine literarisch begründeten Vorbehalte Juli Zeh gegenüber drohten durchaus auf die (mir natürlich völlig unbekannte) Person Juli Zeh durchzuschlagen – sie sind nach der Lektüre dieses Buches mehr als ausgeräumt. Juli Zeh hat hier so viel Wahres, Geistreiches, Abgründiges, vielzu selten von Schriftstellern Ausgesprochenes, über Literatur und vor allem die Menschen hinter der Literatur – die Schriftsteller und die Leser – zu Papier gebracht, dass ich ihre Romane zwar noch immer nicht gerne lese, Juli Zeh aber nun immerhin als Person jenseits ihrer Romane (die ich leider weiterhin natürlich nicht persönlich kenne) enorm zu schätzen begonnen habe.

Zeh, Juli: Treideln. Erschienen im Schöffling-Verlag, Taschenbuch im btb-Verlag. ISBN; 978-3-442-74814-3, Preis 8,99 €

„Eine unsterbliche Frau“ von Sibylle Knauss  

Warum: Besser spät als nie. Ich habe die 75-jährige Schriftstellerin erst durch dieses Buch entdeckt. Ein echtes „Erweckunserlebnis“, weil ich mir inzwischen auch einige ihrer älteren Romane besorgt habe und beim ersten Reinlesen genauso begeistert bin wie von der unsterblichen Frau. Die Unsterbliche, das ist eine Seherin, die Sibylle von Cumae, die durch die Jahrtausende wandert und unsere wechselnden Gesellschaften betrachtet. Das ist so klug und sanft ironisch bis bissig beschrieben, ein Stil, der mir außerordentlich gefällt. Immer wieder streut Sibylle Knauss in den Erzählfluss amüsante Bemerkungen ein, blitzen ihr trockener Humor und eine gewisse Scharfzüngigkeit durch.

Die Sibylle von Cumae: Eine unsterbliche Frau. Und nach diesem Roman auch eine unvergessliche Frau, eine ungewöhnliche Gestalt der Literatur.

Knaus, Sibylle: Eine unsterbliche Frau. Erschienen bei Klöpfer&Narr. ISBN: 978-3-7496-1003-7, Preis: 22,00 €

„Kritische Masse“ von Sara Paretsky

Die Privatdetektivin V.I. Warshawski sucht auf Anfrage einer Freundin eine Vermisste. Auf der Suche erfährt sie mehr zur Familie ihrer Auftraggeberin und gerät in ein aufsehenerregendes Stück Wissenschaftsgeschichte, zurück ins Wien der 1930er und 1940er Jahre. Eine jüdische Vorfahrin arbeitete als Physikerin am Institut für Radiumforschung. Ihre Spur verliert sich nach der Deportation und doch hat sie mit jenen Problemen zu tun, die V.I. Warshawski lösen muss.


Sara Paretsky verknüpft in ihrem Kriminalfall sehr elegant die Geschichte der frühen Forschung in der Kernphysik mit der Existenzneugründung jüdischer Forscher in den USA und zugleich der Geschichte der Frauen in der universitären Forschung. Selbst die brillantesten Forscherinnen blieben meist unbezahlt und bei Auszeichnungen gingen sie trotz ihrer fundamentalen Beiträge oft leer aus. Der Kriminalroman klärt darüber erzählerisch hervorragend auf und löst implizit die Frage aus, inwieweit sich die Gesellschaft seither bei der Beurteilung und Anerkennung von Leistung weiterentwickelt hat.

Paretsky, Sara: Kritische Masse. Übersetzt von Laudan & Szelinski. Erschienen im Argument Verlag, ISBN: 978-3-86754-236-4, Preis 24,00 €

„Querwege“ von Albertine Sarrazin / „Afrotopia“ von Felwine Sarr

Obwohl Sarrazin fast die Hälfte ihres Lebens im Gefängnis saß, bereits mit 29 Jahren bei einer Nierenoperation starb (1967) und deshalb nur drei Romane schreiben konnte, ist sie für mich eine der größten und wichtigsten Autorinnen, die ich kenne. 2019 ist ihr letzter Roman Querwege in einer neuen Übersetzung von Claudia Steinitz erschienen. Schrieb sie ihre ersten beiden Bücher (Astragalus und Der Ausbruch) noch heimlich hinter Gittern, ist Querwege ihr einziger Roman, an dem sie in Freiheit arbeiten konnte. Im Text wird die Hauptfigur, die denselben Namen wie die Autorin trägt, frisch aus dem Gefängnis entlassen und wartet darauf, dass ihr Ehemann ebenfalls freikommt. Dabei beschreibt Sarrazin auf einmalige Weise ein Leben zwischen der Hoffnung auf eine bessere Zukunft und der lähmenden Verzweiflung an der Welt, in der sie lebt. Diese Mischung zwischen einer gewaltigen und wunderschönen Sprache und den feinen Schilderungen des Innenlebens ihrer Protagonistin macht diesen Text zu meinem absoluten Highlight im letzten Jahr.

Felwine Sarr ist Ökonom und stammt aus dem Senegal. Bekannt wurde er einem breiteren Publikum durch seinen Bericht zur Rückgabe der afrikanischen Kulturgüter, den er Ende 2018 zusammen mit dem Historiker Bénédict Savoy veröffentlicht hat (Sarr-Savoy Bericht, auf dt. „Zurückgeben – Über die Restitution afrikanischer Kulturgüter“). In Afrotopia, einem knapp 180 Seiten langen Essay, skizziert Sarr ganz grundlegend eine mögliche Zukunft für den afrikanischen Kontinent. Dabei ist auf jeder Seite die Wut über den Status Quo zu spüren, der durch die Gräueltaten der Europäer*innen bestimmt wurde, genau wie eine Hoffnung, dass es eine bessere Zukunft möglich ist. Dafür fordert Sarr, dass die Menschen Afrikas sich endlich von westlichen Maßstäben freimachen, was sowohl westliche Konzepte zur „Entwicklungshilfe“ betrifft (einen Begriff den er vollständig ablehnt), als auchgängige westliche Wohlstandsmaße wie das Bruttoinlandsprodukt. Vielmehr müssen sie sich ihrer Identität als Homo Africanus (statt des westlichen Homo Oeconomicus) bewusstwerden. Um zu verstehen, was der Westen den Menschen in Afrika angetan hat und wie eine selbstbestimmte Zukunft aussehen kann, gibt es kein besseres Buch als Afrotopia von Felwine Sarr.

Sarrazin, Albertine: Querwege. Neu übersetzt von Claudia Steinitz. Erschienen bei Ink-Press. ISBN: 978-3-906811-12-3, Preis: 25,00 €

Sarr, Felwine: Afrotopia. Übersetzt von Max Henninger. Erschienen bei Matthes & Seitz Berlin, ISBN: 978-3-95757-677-4, Preis: 20,00 €

„Fremde und Bürger“ von Joseph H. Carens

Eine schwangere Frau und ihr Mann sind auf der Flucht. Sie lassen alles zurück ­– Familie, Freunde, Beruf. Er ist Schreiner. Doch niemand nimmt sie auf. Alle Türen bleiben verschlossen. Schließlich finden sie Unterschlupf in einer Scheune. Das ist der Beginn der Weihnachtsgeschichte. Und deshalb ist dies mein Buchtipp zu Weihnachten: „Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten“ von Joseph H. Carens (Reclam, 64 Seiten, 6 Euro). Ein schmaler Text, dreißig Jahre alt, aber so aktuell wie nie. Mich hat seine Lektüre in diesem Jahr sehr beschäftigt und tut es immer noch. Er kann die Augen öffnen, Dein Weltbild ins Wanken bringen. Seine Kernidee ist revolutionär. Ein Text, über den man reden will, wenn man ihn gelesen hat. Und vielleicht sind die Weihnachtstage der ideale Zeitpunkt dafür.

Carens, Joseph H.: Fremde und Bürger. Weshalb Grenzen offen sein sollten. Erschienen bei Reclam, ISBN 978-3-15-019562-8, Preis: 6,00 €

„Die Mauer“ von John Lanchester

„Es ist kalt auf der Mauer.“ In der ewigen Hitliste der besten Buchanfänge ist John Lanchester mit diesem ersten Satz in seinem Roman Die Mauer ganz weit oben eingestiegen. Er führt mitten hinein in die Geschichte und nimmt die gesamte Stimmung des Romans vorweg. Bei vielen Dystopien spürt man bei der Lektüre ein wohliges Grauen, nicht so bei „Die Mauer“. Hier ist nichts wohlig, es läuft einem kalt den Rücken hinunter, denn die geschilderte Zukunft einer durch den Klimawandel vollkommen aus den Fugen geratenen Welt ist nur einen kleinen Schritt von uns entfernt. Und wir sind auf direktem Weg unterwegs in Richtung Wand. Mit Vollgas. Eigentlich gibt es zu „Die Mauer“ nur drei Wörter zu sagen: Lest. Dieses. Buch. 

Lanchester, John: Die Mauer. Übersetzt von Dorothee Merkel. Erschienen bei Klett-Cotta. ISBN: 978-3-608-96391-5 , Preis: 24,00 €

Bei allen Teilnehmenden meiner Rückschau möchte ich mich von Herzen fürs Mitmachen bedanken. Eine kleine subjektive Rückschau meines Blogger- und Literaturjahres 2019 folgt in den kommenden Tagen.