Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Berit Glanz – Automaton

Schon mit ihrem ersten Buch Pixeltänzer hat sich Berit Glanz als Expertin für Spurensuchen im analog-digitalen Raum und die Überführung des Digitalen in die Welt der analogen Literatur erwiesen. Das führt die 1982 geborene Autorin nun in ihrem zweiten Roman Automaton fort und erzählt von trister Klickarbeit und einer Spurensuche in der technisch globalisierten Welt.


Wohl schon jeder hat sie einmal gesehen, wenn man sich häufiger im Netz bewegt und bestimmte Suchaufträge oder Webseiten konsultiert: die Rede ist von Captchas. Es handelt sich um mehrere kleinformatige Bildkacheln, die hinsichtlich bestimmter Kriterien angeklickt werden sollen, damit ausgeschlossen werden kann, dass ein Computer anstelle einer Maschine eine Anfrage gestellt hat. Meist muss man alle Bildkacheln, auf denen Autos oder Palmen oder Ähnliches zu sehen sind, markieren, um dem Abfragetool zu versichern, dass hier kein Roboter am Werk ist.

Früher nutzte Google solche Captchas, um die User*innen neben der Überprüfung ihrer Abfrage noch unauffällig weitere Arbeit erledigen zu lassen. So trainierten die Nutzer*innen nebenbei auch den Suchalgorithmus, indem sie lesbare Buchstaben oder andere Miniaufgaben erledigten und so die Suchmaschinen optimierten, deren Bild- und Texterkennung durch die Mitarbeit immer besser und leistungsfähiger wurden. Eine ziemlich schlaue Art, um neben der primären Authentifizierung Arbeit auf Nutzerinnen und Nutzer zu übertragen.

Neue Arbeit im Internet

Generell zeigt sich, dass durch das Internet ganz neue Tätigkeitsfelder und Arbeitsprozesse entstanden sind. Berit Glanz untermauert das in Automaton, indem sie Tiffany, genannt Tiff, in den Mittelpunkt des Buchs stellt. Früher sichtete sie von Unser*innen gemeldete Videoausschnitte und Bilder, allerdings traumatisierte die Arbeit die junge Frau zunehmend, sodass sie auf ein neues Tätigkeitsumfeld ausgewichen ist.

Berit Glanz - Automaton (Cover)

Für die gesichtslose Firma Automa erledigt sie sogenannte „Autobs“, als Miniaufträge, wie das Sichten von Bildstrecken hinsichtlich bestimmter Kriterien. Diese Mini- oder besser Microjobs ermöglichen ihr einerseits die Versorgung ihres Sohnes, andererseits verheißt die Arbeit für die Internetfirma aber auch ein Einkommen, wenngleich man es kaum so nennen kann. Denn „schlecht bezahlt“ ist eigentlich ein Euphemismus für das, was Tiff für ihre Arbeit erhält. Oftmals sind es nur wenige Dollar und Cents, mit denen die genauen Sichtungen und Verschlagwortungen von Bildstrecken oder Videos dotiert sind.

Tiff kann so als Alleinerziehende zwar ihre Arbeitszeit um die Betreuung ihres Sohnes herum gruppieren. Zum Lebensunterhalt reicht das allerdings kaum aus und ist in aller Monotonie und Einsamkeit wenig sinnstiftend.

Ein Auftrag für den Subunternehmer ExtraEye verheißt in der ganzen Tristesse der Klickarbeit da etwas Sicherheit. Tiffany soll Überwachungsvideos hinsichtlich des Auftauchens von Menschen oder Tieren sichten. Mal sind es Videos aus Häfen, mal aus Warenlagern oder Firmenfluren. 6 Dollar gibt es für die Sichtung von 30 Filmminuten. Geld, auf das Tiff dringend angewiesen ist und das im Vergleich zu den anderen Microjobs wie ein echter Jackpot wirkt.

Und so beginnt sie mit der Sichtung der Videos und tauscht sich trotz unterzeichneter Geheimhaltungserklärung nebenbei mit Gleichgesinnten aus, die ebenfalls an Aufträgen für ExtraEye arbeiten. Als dann aber ein Obdachloser verschwindet, der sonst regelmäßig in den Videos auftauchte, schließen sich die Klickarbeiter*innen zusammen, um den Verbleib des Mannes zu klären.

Arbeit im Maschinenraum des Internets

Automaton erzählt von der Trostlosigkeit und Grausamkeit der Arbeit, die Menschen im Maschinenraum des Internets verrichten müssen. Wohl jeder von uns hat schon einmal anstößige oder diskriminierende Inhalte auf Webseiten oder sozialen Netzwerken gemeldet. Doch welchen Weg diese markierten Inhalte gehen, das beleuchtet Berit Glanz in ihrem Roman auf eindrucksvolle Art und Weise.

Es sind Menschen, die für viel zu geringes Geld diese abstoßenden, diskriminierenden und kriminellen Videos und Bilder sichten und sortieren müssen. Menschen, die angesichts des beständigen Stroms an verstörenden Inhalten schnell Schaden an ihrer Seele nehmen. Glanz muss nicht alles ausbuchstabieren, um durch das Schicksal von Tiffany zu zeigen, was die dunkle Seite des Internets und der Kontakt mit ebenjener Seite zur Folge haben kann.

Auch zeigt sie, wie durch die technische Globalisierung alles eins geworden ist. Distanzen zwischen Ländern und Menschen bedeuten nichts mehr, seitdem es das Internet mit seinen Möglichkeiten gibt.

Eine Suche in der technisch globalisierten Welt

Die Suche nach dem Obdachlosen verknüpft Glanz mit der Geschichte einer Frau in Kalifornien und zeigt, wie die Suche nach Menschen durch das Internet eine ganz neue Dynamik gewonnen hätte. Früher wäre es unmöglich gewesen, von Deutschland aus den Verbleib eines Obdachlosen in Amerika und den dessen Hundes zu klären. Was früher wohl eine personal- und ressourcenintensive Arbeit von bisweilen Jahren gewesen wäre, funktioniert in Zeiten des Internets mithilfe einiger Verbündeter und passender Suchstrategien in wenigen Stunden bis Tagen. Welche Chancen, aber auch Risiken in diesem Datennetz namens Internet stecken, das beweist Automaton auf eindrucksvolle Art und Weise.

Es gelingt Berit Glanz dabei aber auch wieder hervorragend, die Welt des Digitalen und des Internets mit ihrer ganz eigenen Syntax aus Twitterfeeds, Chats und Begrifflichkeiten in einen überzeugenden Roman zu überführen. Die technische Welt der Klickarbeit wird bei ihr spürbar, Chats ergänzen und beschleunigen die Handlung sinnig – und auch die Verschmelzung der über weite Strecken recht disparat wirkenden beiden Erzählstränge um Tiff und eine Frau in Kalifornien verbinden sich in Automaton zum Ende hin sinnstiftend.

Fazit

So ist Automaton ein eindrucksvoller Roman, der von der Arbeit im Maschinenraum des Internets erzählt, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, Einsamkeit, Ausgrenzung, aber eben auch von dem potentiell Guten, das im Internet und ins uns allen steckt. Ein Buch, das angenehm vielschichtig und ambivalent an sein Thema herantritt und das Berit Glanz‘ Rang als Spezialistin für analog-digitale Literaturräume und Spurensuchen untermauert.

Weitere kluge Analysen zum Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz und Bookster HRO.


  • Berit Glanz – Automaton
  • ISBN: 978-3-8270-1438-2 (Berlin Verlag)
  • 28 Seiten. Preis: 22,00 €

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Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese

Manchmal braucht es eine kleine Tat im Leben, die allen Konventionen widerspricht, die man aber trotzdem tun muss, um mit sich im Reinen zu bleiben. Dem Kohlehändler Bill Furlong offenbart sich jener entscheidende Moment kurz vor dem Weihnachtsfest 1985. Inmitten der Kälte des irischen Winters beschließt er in Claire Keegans Geschichte, zum Retter einer jungen Frau zu werden.


Während sie weitergingen und immer mehr Menschen begegneten, die Furlong kannte und doch nicht wirklich kannte, fragte er sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte, am Leben zu sein, wenn man einander nicht half. War es möglich, all die Jahre, die Jahrzehnte, eine ganzes Leben lang weiterzumachen, ohne wenigstens einmal den Mut aufzubringen, gegen die Gegebenheiten anzugehen, und sich dennoch Christ zu nennen und sich im Spiegel anzuschauen?

Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese, S. 103

Bill Furlong beantwortet diese Frage einfach, indem er handelt. Nicht lange überlegt, Pro und Kontra abwägt, lange Diskussionen und Erörterungen anstößt und abwartet. Nein, er stimmt mit den Füßen ab und wird zum Retter einer jungen Frau und erfüllt die christliche Weihnachtsbotschaft damit mit ganz eigenem Leben.

Hinter den Mauern des Magadalenenheims

Claire Keegan - Kleine Dinge wie diese (Cover)

Im kleinen irischen Städtchen New Ross beliefert Bill viele Haushalte mit Kohle. Die Lage im Land ist prekär, Arbeitslosigkeit und Perspektivlosigkeit greifen um sich in jenem Winter 1985, von dem Claire Keegan erzählt. Daheim hat Furlong vier Töchter und lebt mehr oder minder von der Hand in den Mund. Das Kohlegeschäft wirft wenig ab, viele Abnehmer*innen stunden vor Weihnachten die Rechnung. Gemeinsam mit seiner Frau muss Bill deshalb äußerst gut haushalten, um über die Runden zu kommen.

In dieser einfachen Existenz hat sich Bill aber gut eingerichtet – und doch wirft ihn eine Begegnung hinter den Mauern des Magdalenenheims nachhaltig aus der Bahn. In jenem Magdalenenheim vor den Toren von New Ross betreiben Nonnen eine Wäscherei, die für ihre Qualität weithin gerühmt wird. Doch die Mädchen, die hinter den Klostermauern in der Obhut der Nonnen leben, sie scheinen nicht ganz so makellos zu sein. Man munkelt von gefallenen Mädchen, unehelichen Kindern und großer Schande, die solche Mädchen im erzkatholischen Irland nach allgemeiner Auffassung auf sich geladen hätten.

Eine Kohlelieferung mit Folgen

Als er nun kurz vor Weihnachten die Nonnen beliefert, wird er bei einer zufälligen Begegnung von einem jungen Mädchen angefleht, sie zum Fluss zu bringen, wo sie sich ertränken will. Zwar unterbinden die Nonnen weiteren Kontakt zu den Insassinnen des Heims, aber dennoch entdeckt Bill bei seinen Lieferfahrten ein weiteres Mädchen, das im Kohleschuppen eingesperrt war. Den Beteuerungen der Nonnen schenkt Bill keinen Glauben und so reift in ihm der Entschluss, kurz vor Weihnachten ein Werk der Barmherzigkeit und Nächstenliebe zu verrichten. Er befreit die junge Frau heimlich aus dem Kohleschuppen des Klosters und nimmt sie mit zu sich nach Hause.

Eine Weihnachtserzählung

Es ist ein knappes, aber dafür umso intensiveres Erzählung oder Novelle, die Claire Keegan hier in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser vorlegt. Sie erzählt von Mitmenschlichkeit und der kleinen Grenzüberschreitung, die es braucht, um sich selbst noch in bestimmten Momenten in die Augen blicken zu können. So ist Bill Furlong auch kein Held sondern ein einfacher Mann, der einmal im Leben etwas Richtiges tun möchte, das ihm sein Herz befiehlt, auf dass er mit sich weiterhin im Reinen sein kann.

Weihnachten ist ja eh die Zeit, in der man die eigene Mitmenschlichkeit und Gnade erkennt, besonders in der Tradition der angelsächsischen Weihnachtserzählungen. Das reicht von Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte bis hin zum kleinen Lord Fauntleroy, der das Herz seines strengen Großvaters erweicht und in ihm die Mitmenschlichkeit wieder erweckt. Claire Keegan fügt sich mit Kleine Dinge wie diese in diesen Kanon ein und liefert eine Erzählung, die eine universelle Botschaft besitzt. In dieser Erzählung lodert ein humanistischer Glutkern, der inmitten der Kälte des irischen Winters hell lodert.

Das Grauen der Magdalenenheime

Und nicht zuletzt wirft die Autorin einen sprichwörtlichen Blick hinter die Mauern der Magdalenenheime, die für zahlreiche Frauen inkommensurables Leid bedeuteten. Im Nachwort ihrer Geschichte weist die Autorin darauf hin, dass die Geschichte dieser Heime immer noch nicht richtig aufgearbeitet ist. Das letzte Magdalenenheim auf der irischen Insel schloss erst 1996 und bis heute ist unbekannt, wie viele Frauen und Kinder in den Heimen gehalten wurden oder umgekommen sind. Keegan spricht von ungefähr 30.000 Frauen, die dieses Schicksal ereilt hat.

Im vergangenen Jahr wurde eine Untersuchung vorgestellt, in der 18 Heime unter die Lupe genommen wurden, in denen über 9000 Kinder starben, die wegadoptierten Kinder hier nicht eingeschlossen. Wenn man Claire Keegans Erzählung liest, bekommt man eine Ahnung davon, wie tiefgreifend das System dieser Heime war und wie mächtig das System der Kirche, das solche Einrichtungen stützte und protegierte.

Fazit

Kleine Dinge wie diese erzählt von der Tat eines Einzelnen, der seinem Gewissen folgte und sich diesem System entgegenstellte. Sie zeigt mit Bill Furlong einen Mann, der seinem Herz und seiner Mitmenschlichkeit folgt und der die christliche Botschaft im Gegensatz zu den Nonnen im Magdalenenheim wirklich lebt. Eine Weihnachtserzählung, eine schmerzhafte Auseinandersetzung mit den dunklen Stellen der irischen Vergangenheit und ein Buch, das demonstriert, wie einfach Heldentum aussehen kann.


  • Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese
  • Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-065-0 (Steidl)
  • 109 Seiten. Preis: 18,00 €

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Jonathan Lee – Der große Fehler

„Andrew Haswell Green war eine Persönlichkeit, ohne die es keinen Central Park, kein Metropolitan Museum of Art, keine New York Public Library und keinen Zusammenschluss von Manhattan und Brooklyn zu einer einzigen Stadt geben würde. Und doch ist er völlig in Vergessenheit geraten, was erstaunlich ist! Sein einziges wirkliches Denkmal ist eine Steinbank im Central Park, die mit Taubenkot bedeckt ist. Ich bin vor zehn Jahren zufällig auf diese Bank gestoßen. Ich las die Inschrift, die ihn als „Vater des Greater New York“ bezeichnete. Und ich wurde neugierig. Wer war diese Person? Warum hatte ich noch nie von ihm gehört? Und wie kam es dazu, dass dieser Verfechter des öffentlichen Raums 1903 am helllichten Tag in der Park Avenue erschossen wurde, was etwas voreilig als „Mord des Jahrhunderts“ bezeichnet wurde?“

Jonathan Lee im Interview mit Stephanie Uhlig über seinen Roman „Der große Fehler“

So Jonathan Lee im Interview zu seinem Roman, mit dem der 1981 in England geborene Autor nun zum ersten Mal auf dem deutschsprachigen Buchmarkt in Erscheinung tritt. Ähnlich wie zuletzt Christian Schulteisz oder Matthias Lohre bringt auch Jonathan Lee in seinem Roman eine von der Weltgeschichte fast vergessene Person zurück auf die ganz große Bühne. Er erzählt in Der große Fehler von einem Mann, ohne den New York nicht das New York wäre, das man heute kennt.


Dabei beginnt alles mit einem Mord. Der betagte Andrew Haswell Green wird vor seinem Haus in New York von einem Schwarzen angesprochen, der ihn vor den Augen der Öffentlichkeit erschießt. Der Täter wird festgenommen – und somit beginnt sich die Geschichte zu entspinnen. Im Folgenden erzählt Lee von den Hintergründen des Verbrechens und den Ermittlungen des Polizisten McClusky, die dann den titelgebenden großen Fehler ans Tageslicht bringen werden, der zum Tode Greens führte.

Genauso interessiert sich Lee aber auch für das Leben seines Helden, das er in chronologischen Etappen zwischen den Ermittlungsstrang setzt. Die Qualität des Buchs – um das gleich vorwegzunehmen – besteht nun auch darin, dass diese beiden Erzählstränge keineswegs lose nebeneinander herlaufen, sondern dass Lee sie immer wieder mal auf subtilere, mal auf augenscheinlichere Art und Weise miteinander verknüpft, sodass er mit Der große Fehler seinem Porträtierten erstaunlich nahekommt.

Von Massachusetts bis nach Trinidad

Jonathan Lee - Der große Fehler (Cover)

So wird Andrew Haswell Green 1820 als siebtes von elf Kindern im ländlichen Massachusetts geboren. Nach einer amourösen Eskapade die so gar nicht den Konventionen entsprach, beschließen Andrews Eltern, ihren Sohn nach New York zu schicken, wo er ins Handelsgewerbe einsteigen soll. Dort in New York lernt er den älteren Samuel Tilden kennen, der zur Liebe und Inspiration seines Lebens werden soll. Tilden führt ihn in das Leben der New Yorker Oberschicht ein, er lernt die Bücherei kennen, die damals mit ihren Jahresgebühren und elitären Zugangsregeln allerdings allein den Privilegierten offenstand. Nachdem die Nähe der beiden Männer unerwünschte Aufmerksamkeit erhält, muss Green aus der Stadt fliehen. Er entweicht nach Trinidad, wo ihn sein Begehren und die Erinnerungen an New York und Samuel doch nicht wirklich loslassen.

Er kehrt nach einer weiteren unrühmlichen Eskapade Hals über Kopf nach New York zurück, wo er zum wichtigen Impulsgeber avanciert, der das New York zu formt, das wir heute kennen. So verschmilzt er Brooklyn mit Manhattan, hebt bisherige Stadtgrenzen auf und gestaltet getrieben von einer unbändigen Kraft das Stadtbild neu. Die Bücherei soll nicht mehr nur Reichen offenstehen, vielmehr strebt er eine Bücherei für alle an, was zur Gründung der New York Public Library führt. Ein Park in der Mitte der Stadt soll für alle Schichten geöffnet sein und Erholung und Entspannung verheißen (so tragen sämtliche Kapitel auch Namen der Eingangstore des Central Park). Doch damit nicht genug.

Ein Mann mit vielen Facetten

In den Nachworten nach dem Mord an Green gibt es viele weitere Facetten des Mannes zu entdecken, die Lee in seinem Buch mal deutlicher anreißt und manchmal auch nur kurz touchiert:

Andrew Haswell Green
Andrew Haswell Green

Zu vielen Würdigungen, die Mrs. Bray sich vorgestellt hatte, kam es tatsächlich. Mächtige Menschen beschrieben ihren Arbeitgeber als Pionier. Alle fanden einen anderen Zugang für ihre Nachrufe, unterschiedliche Perspektiven, aus denen sie seine Errungenschaften betrachteten – seine Parks, Brücken, Museen. Seine Bemühungen, ein faireres, geordneteres öffentliches Schulsystem in New York einzurichten, als er Präsident des Bildungsrates war. Seinen unermüdlichen Kampf gegen die Korruption als oberster New Yorker Rechnungsprüfer. Seine maßgebliche Rolle bei der Gründung der ersten großen öffentlichen Bibliothek der Stadt, nach dem Tod seines von Büchern besessenen Freundes Samuel Tilden 1886. Oder dass er spät noch im Leben gleichsam im Alleingang die bestehende City of New York mit Brooklyn, dem westlichen Queens County und Staten Island zu dem Greater New York verbunden hatte, wie wir es heute kennen.

Jonathan Lee – Der große Fehler, S. 76

Dass dieser Mann heute völlig unbekannt ist und gerade einmal die im Interview zitierte mit Vogelkot übersäte Bank an einem versteckten Ort des Central Park an diesen Mann erinnert, verblüfft. Jonathan Lee gelingt es in seinem Buch auf alle Fälle sehr gut, dass Andenken an Andrew Haswell Green hochzuhalten. Er erzählt von queerem Begehren, schwindelerregenden Bauplänen und einem Mann, der von Ideen und Visionen getrieben war und sein ganzes Leben in den Dienst der Stadt New York setzte. Lee macht dabei allerdings auch nicht den Fehler, seinen Protagonisten zu verklären, sondern schafft ein Porträt mit Ecken und Kanten.

Fazit

Der große Fehler ist ein Denkmal für einen Mann, ohne den New York deutlich anders aussähe und sicherlich nicht so lebenswert wäre, wie es heute ist. Dieses Buch zu lesen ist alles andere als ein großer Fehler, sondern eine lohnenswerte Geschichtsstunde, gut geschrieben und außerordentlich informativ.


  • Jonathan Lee – Der große Fehler
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-257-07191-7
  • 380 Seiten. Preis: 24,00 €
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