C Pam Zhang – Wie viel von diesen Hügeln ist Gold

Was für ein Debüt! Mit Wie viel von diesen Hügeln ist Gold legt C Pam Zhang ein Buch vor, dem das Kunststück gelingt, sowohl von zeitlosen Themen zu erzählen, als auch in alle aktuellen Debatten vorzustoßen. Ein vermeintlich historischer Roman, der erstaunlich viele Berührungspunkte mit der Gegenwart aufweist und der angenehm vieldeutig ist. Sehr stark!

Ob Zhangs Buch ein historischer Roman ist, darüber lässt sich schon einmal vortrefflich streiten. Denn C Pam Zhang entzieht sich einer allzu eindeutigen Zuordnung, indem sie einen Kniff anwendet. Denn anstelle einer ganz konkreten Verhaftung in Zeit und Ort wählt sie für ihre verschiedenen Teile des Buchs eine semi-konkrete Zeitbeschreibung. Ihre Kapitel spielen in den Jahren XX59 oder XX68. So enthebt sie sich einer althergebrachten und klassischen Geschichtsschreibung und zielt etwas am Eindeutigen vorbei. Das ist auch in vielen anderen Bereichen des Romans ein Kennzeichen ihres Schreibens. Das Uneindeutige, vielfach lesbare findet sich in verschiedensten Ausprägungen im ganzen Buch wieder.

Das beginnt bei der Geschlechtszuordnung und endet bei der Frage, wie konkret das Beschriebene überhaupt ist. Goldfunde vor dem Goldrausch, Tiger in der Prärie, die eigenen Familienlegenden die genaue Herkunft ihrer Protagonistinnen: was davon kann man trauen? Was ist im Fakt, was Fiktion? Vieles entzieht sich in Wie viel von diesen Hügeln ist Gold einer eindeutigen Lesart – was das Buch so vielschichtig und grandios macht. Aber der Reihe nach.

Zwei Waisenkinder auf der Flucht

C Pam Zhang - Wie viel von diesen Hügeln ist Gold (Cover)

Alles beginnt in Zhangs Roman mit der Flucht zweier Waisenkinder. Sam und Lucy sind auf der Flucht, nachdem sie zwei Silberdollars geraubt haben. Diese benötigen sie, um ihrem Vater ein rituelles Begräbnis zukommen zu lassen. Nach ihrer Mutter ist nun auch der Vater verstorben, ein jähzorniger und schwieriger Zeitgenosse, der den Tod der eigenen Frau nicht verwinden konnte. Dieser Tyrann ist nun tot und Sam und Lucy möchten seine Beine gestatten. Mit der Leiche des Vaters auf dem Rücken ihres Pferdes reiten sie nun durch die Prärie, damit seine Seele nach dem Begräbnis Frieden finden kann.

Nachdem uns die Autorin hier eine schon nahezu völlig fragmentierte Familie präsentiert, geht es in den folgenden Teilen zurück zu den Anfängen. Vater und Mutter dürfen erzählen, ihre Sichtweise zu Gehör bringen. Wie fanden sich die Eltern, beide aufgrund ihres Aussehens und ihrer Andersartigkeit Außenseiter? Wie erlebten die beiden den Goldrausch, was bedeutet und bedeutete Familie für die beiden? Zhang zeigt hier einen ganz besonderen Familienverbund, die als Kuriosum in der lokalen Goldgräbergemeinde angesehen wurde. Sprache, Aussehen, Verhalten – alles an dieser Familie war anders als die Mehrheit. So gelingt es C Pam Zhang, einen alternativen Blick auf den amerikanischen Goldrausch und seiner Abgründe zu werfen, wie er mit seit Jugendtagen (damals in Form von Rainer M. Schröders Goldrausch in Kalifornien) nicht mehr begegnet ist. Fernab von jeder Klondike- und Glücksritterromantik zeigt sie hier den Raubbau an Mensch und Natur, den dieser Rausch bedeutete.

Von der Frage der Identität

Nicht nur in diesem Punkt der Ökologie und des fragwürdigen Umgangs mit den Ressourcen der Natur weist Wie viel von diesen Hügeln ist Gold viele Berührungspunkte mit der Gegenwart auf. Auch die Frage von Geschlecht und gesellschaftlicher Zuschreibung spielt in diesem Roman eine wichtige Rolle. So nutzt Zhang geschickt den Kniff, Sam stets nur mit dem geschlechtslosen Kurznamen anzusprechen (was auch gut in die tolle deutsche Übersetzung von Eva Regul hinübergerettet wird). Denn obwohl Sam eigentlich ein Mädchen ist, wurde ihr vom Vater die Rolle des nicht vorhandenen Sohns zugewiesen. Und Sam fühlt sich mit dieser Zuschreibung ganz wohl. Sie trägt das Haar kurz und ist mit ihrem durchaus aggressiven Charakter so ganz anders als Lucy, die versucht, die letzten Rumpfbestände der Familie zusammenzuhalten. Hochinteressant, wie Zhang hier zeigt, wie Geschlecht eben nicht nur Biologie sondern auch gesellschaftliche Zuschreibung sein kann.

Und nicht zuletzt ist es auch die Sprache, die dieses Buch so besonders macht. Wie viel von diesen Hügeln ist Gold besitzt einen eigenen Sound ist sprachmächtig und ragt aus der Masse heraus. C Pam Zhang besitzt die Gabe, poetische Schilderungen mit höchster Grausamkeit zu verbinden, Elegie, Tod und Action zu einer eindringlichen Melange zu verschmelzen. Immer wieder sind chinesische Satzfetzen in die Gespräche eingeflochten, reden Menschen aneinander vorbei und sind auch hier wieder: uneindeutig.

Fazit

Diese Ambiguität, Vielfalt der Themen und überzeugende literarische und poetische Gestaltung neben einer interessanten Konstruktion machen für mich den Reiz von Wie viel von diesen Hügeln ist Gold aus. Eine Gegenerzählung zum oftmals romantisierten „Goldrausch“ und seiner Glücksritter, das Porträt einer auseinanderdriftenden Familie und dazu noch viele Berührungspunkten mit aktuellen Diskursen und Fragestellungen. Ein Buch, das auf ganzer Linie überzeugt und viele Denkanstöße liefert.


  • C Pam Zhang – Wie viel von diesen Hügeln ist Gold
  • Aus dem Amerikanischen von Eva Regul
  • ISBN: 978-3-10-397392-1 (S. Fischer)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €
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James Scudamore – English Monsters

Missbrauchsskandale wie etwa der in der Odenwaldschule oder bei den Regensburger Domspatzen erschüttern immer wieder die Öffentlichkeit. Erst nach Jahrzehnten kommen diese Skandale ans Tageslicht, wenn Betroffene den Mut haben, sich mit dem Erlebten an die Öffentlichkeit zu wenden. Man verspricht Aufarbeitung, Untersuchungskommissionen werden eingeleitet, manchmal werden auch Entschädigungen geleistet – doch die Traumata bleiben. In seinem Roman English Monsters erzählt James Scudamore die Geschichte einer Clique von Freunden, die auf einem Internat Übergriffe erlebten und seither nicht wirklich loskommen von diesen Erfahrungen. Ein Roman, der sich differenziert einem schwierigen Thema nähert.


Sie wird nur die „Schule auf dem Berg“ genannt. Dorthin wird der junge Ich-Erzähler Max Denyer von seinen abwesenden Eltern geschickt. Der Großvater und die Großmutter kümmern sich auf dem eigenen Hof um den Jungen, abseits davon erfährt er wenig Geborgenheit und soziale Bindung. Seine eigentlichen Eltern sind immer unterwegs, momentan haben sie ihre Zelte in Mexiko aufgeschlagen. Für ihren Sohn ist in diesem Leben allerdings wenig Platz.

Und so ist das Internat für sie die passende Lösung. Dort beginnt für den Jungen eine besondere Zeit. Nach und nach lernt er die undurchsichtigen Regeln der Schule dort kennen. Die Pädagogen vor Ort pflegen einen strengen Umgang, körperliche Gewalt ist zu Züchtigungszwecken ein probates Mittel. Wer sich dem harten Regiment nicht fügt, bekommt die Konsequenzen am eigenen Leib zu spüren. Auch Max muss diese Erfahrung machen.

Während er zögerlich Freundschaften schließt, lernt er auch seine Dozenten besser kennen. Exzentriker, Waffennarren und andere Unikate bilden das Lehrerkollegium des Internats. Erst im Erwachsenenalter zeigen sich Max und der ganzen Öffentlichkeit die wahren Abgründe, die hinter den Schulmauern auftaten. Auch auf seine Freunde gewinnt der ehemalige Internatszögling einen neuen Blick.

Kein leichtes Thema, souverän erzählt

James Scudamore - English Monsters (Cover)

Es ist wahrlich kein leichtes Thema, das sich James Scudamore ausgewählt hat. Sexueller Missbrauch in einer schulischen Institution und Missbrauch von Schutzbefohlenen sind keine Themen, die einem in zeitgenössischen Roman häufig begegnen. Zu heikel, zu unverkäuflich, zu unangenehm für den Buchmarkt, so heißt es oft. Umso schöner, dass Scudamore das Risiko eingegangen ist und genau das in English Monsters thematisiert.

Dabei vermeidet der Autor dankenswerterweise allzu plakative Aussagen und Weisheiten. Sein Buch ist angenehm differenziert und weiß das schwierige Verhältnis der Jungen untereinander und zu den Lehrern in Worte zu fassen. Seine Beschreibungen des Lebens in der englischen Lehranstalt, der Drill und die Abgründe des Erziehungssystems zeichnet der Brite klar und schonungslos. Auch kommt Scudamore der gewählte Erzählansatz zupass.

Denn immer wieder vermischt er die Zeitebenen. So erzählt er von Max‘ Kindheit im Internat und seinem Leben danach in fließenden Übergängen, statt einen chronologischen Erzählansatz zu wählen. Mal trifft er seine Schulfreunde von damals im gesetzten Alter, dann ist er wieder zurück in der Schule am Berg und erinnert sich, wie er sich in dem Schulkosmos einlebte. Die Konsequenzen des Erlebten, das Fortwirken der Taten der Lehrer werden so nachvollziehbar geschildert. Auch das schwierige Verhältnis zu den inzwischen greisen Pädagogen nimmt in seinem Roman Raum ein. Vor allem sein Freund Simon, der den körperlichen Missbrauch unmittelbar erlebte, weiß hierbei Erschütterndes zu berichten, ohne dass der Roman ins Platt-Voyeuristische kippt. Der Blick zurück, die Erfahrungen der Kindheit, all das ist gut ausbalanciert und nachvollziehbar erzählt.

Fazit

Die Ambiguität und Vielstimmigkeit der Erinnerungen und Erinnerungen Max‘, die seinen Charakter geformt haben, beschreibt James Scudamore wirklich eindringlich. Sein Roman steckt voller Themen, die in den oftmals etwas einfach geführten Debatten zu kurz kommen. Was begünstigt den Missbrauch, welche Mechanismen begünstigen das Vertuschen, wie kann man über das Erlebte reden? English Monsters bietet gute Ansätze für Debatten und begegnet der Thematik angenehm komplex und vielschichtig. Die Erfahrung des Missbrauchs, das komplizierte Leben mit der Wahrheit, das Verdrängen oder Aufarbeiten der Erfahrungen, all das bettet Scudamore fundiert und klug in seinen Roman ein. Ein außergewöhnliches und engagiertes Buch, dessen Mut ich gerne mit vielen Leserinnen und Lesern belohnt sähe.


  • James Scudamore – English Monsters
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-446-26946-0 (Hanser)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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Belfast revisited

„Ich werde mich zur Rückseite dieser verlassenen Häuser dort schleichen, mich in einem davon verstecken und darauf warten, dass unser Bursche auftaucht.“

„Billy?“

„Nein, Billys kleiner Freund Shane. Ich glaube, er weiß etwas, das er uns nicht sagt.“

„Jeder in Belfast weiß etwas, das er uns nicht sagt.“

Adrian McKinty – Der katholische Bulle, S. 222

Acht Jahre nach der Erstlektüre war es für mich mal wieder an der Zeit, mich ins Irland der 80er Jahre zu begeben. Nachdem die Irland-Sehnsucht in letzter Zeit doch zu groß wurde, konnte ich Adrians McKinty Der katholische Bulle in meinem Regal nicht länger ignorieren. Eine Reise zurück in eine der wohl explosivsten Phasen irischer Geschichte stand an. Belfast revisited quasi.


Die grüne Insel, ein cooler Ermittler, viel Zeitkolorit und Popkultur, das waren die Landmarken, die ich im Bezug auf Der katholische Bulle noch im Kopf hatte. Ebenso im Kopf war dabei aber auch stets die Frage, ob die Zweitlektüre meiner Begeisterung vor acht Jahren noch Stand halten würden. Hatte sich mein Geschmack entscheidend weiterentwickelt, ist das Buch durch neue Kriminalliteratur inzwischen ästhetisch überholt worden, kurz: vermag das Buch nicht mehr zu begeistern?

Adrian McKinty - Der katholische Bulle (Cover)

All diese Fragen konnte ich nach wenigen Seiten schon mit einem klaren Nein beantworten. Denn obschon nun einige Zeit seit dem Erscheinenen des ersten Bandes der Reihe vergangen ist, besitzt es eine zeitlose Qualität, die das Buch der breiten Masse an Kriminalliteratur deutlich enthebt.

Da ist zum einen der Entschluss, sich nicht mit dem Zeitgeist auseinanderzusetzen, sondern zurückzublicken. Der katholische Bulle spielt zur Hochzeit der Troubles im Jahr 1981. Die Hohzeit von Charles und Diana steht kurz bevor, im Gefängnis sterben IRA-Mitglieder im Hungerstreik. Margaret Thatcher regiert mit eiserner Hand und Sean McDuffy ist in eine eine heruntergekommene Sozialwohnung in der Coronation Road in Carrickferrgus gezogen. Als katholischer Bulle in protestantischem Land hat er es schwer. Von seinen IRA-Nachbarn auch als Fenier geschmäht bekommt er es mit aufdringlichen Strohwitwen, komplizierten Liebschaften und einem echten Serienkiller zu tun.

Nach dem Fund eines ermordeten Homosexuellen bekommt Duffy Post vom Täter, der weitere Morde ankündigt. Besonders dringlich wird der Fall, als man herausfindet, dass die eine Hand des Ermordeten zu einem weiteren Toten führt. Dieser wurde ebenfalls hingerichtet, eine Spur aus Notenblättern verbindet die beiden. Doch nicht nur Duffys Kollegen sind skeptisch, auch sein Vorgesetzter ist sich sicher: so etwas wie einen Serienkiller hat es noch nie auf irischem Boden gegeben. Sämtliche mörderische Psychopathen stehen im Dienst der IRA oder anderen Terrororganisationen und benutzen den Mantel des Politischen, um ihr Treiben zu verbrämen. Aber Duffy lässt nicht locker und verbeißt sich in den Fall.

Bestechendes erzählerisches Handwerkszeug

Neben dem Thema, das erzählt wird, ist es vor allem die Art, wie es erzählt wird, die die Güte dieses Buchs ausmacht. Atemlos hetzt Duffy zwischen Carrickferrgus und Belfast hinterher, findet sich in Angriffen der IRA wieder, ermittelt ertrag- und orientierungslos im Fall des Serientäters und kippt Wodka Gimlet um Wodka Gimlet.

Der katholische Bulle ist superb rhythmisiert und zeigt einen Adrian McKinty auf der Höhe seiner Kreativität und literarischen Schaffenskraft. Er stellt einen umfassend gebildeten Erzähler mit klaren Schwächen in den Mittelpunkt, bricht die Männlichkeit in allen Facetten und hat keine Scheu vor Ironie und Uneindeutigkeit. Der Ire kann Action und Liebesszenen, er kann langsam und schnell erzählen und er vermag ein Gefühl dafür zu wecken, wie es sich damals angefühlt haben muss zwischen allen Fronten. Das Handwerkszeug, das er in Der katholische Bulle zeigt, ist in seiner Vielfalt und Güte beeindruckend (und ebenso großartig und souverän von Peter Torberg ins Deutsche übertragen).

Randvoll mit Popkultur, vertrackten Fährten und Zeitkolorit ist Der katholische Bulle nichts anderes als ein Meisterwerk, das Adrian McKinty da gelungen ist. Auch Jahre nach seinem Erscheinen hat es nicht einen Gran an Qualität eingebüßt. Bestechende Kriminalliteratur, weit weg von dem Quatsch, den Adrian McKinty Jahre später unter dem Titel The Chain publizieren sollte. Auch nach acht Jahren immer noch von zeitloser Qualität und Güte. Ein erneuter Besuch, der sich mehr als gelohnt hat. Oder um es in der Sprache des katholischen Bullen zu sagen: ein stróc ádh!


  • Adrian McKinty – Der katholische Buller
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-518-46523-3 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 10,00 €
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Beth Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Missisippi

Überschwemmungen in einigen Teil Deutschlands wie aktuell in Teilen Frankens und Nordrhein-Westfalens lassen aufhorchen. Immer wieder sind es Starkregen oder Wetterlagen wie die in Stuttgart, die Teile des Landes unter Wasser setzen. Solche Ereignisse lassen Erinnerungen hochkommen an Naturkatastrophen, die zu Landmarken der deutschen Geschichte wurden, etwa die Sturmflut in Hamburg oder das Elb-Hochwasser im Jahr 2002.

Während wir uns in Deutschland an diese Ereignisse immer wieder erinnern, ist es in Amerika eine deutlich größere Flutkatastrophe, die nahezu dem Vergessen anheimgefallen ist, wie es das Autorenpaar Beth Ann Fennelly und Tom Franklin im Vorwort zu Das Meer von Mississippi schildert. 1927 kam es in großen Teilen der Mississippi-Region nach starken Regenfällen zu einer Überflutung der Region, die zahlreiche Menschenleben forderte.

Doch weder den amtierenden Präsidenten Coolidge noch sonstige ranghohe Repräsentanten schien die Katastrophe zu kümmern. Während bei uns schnell Regierungsvertreter zu den Schauplätzen solcher Katastrophen eilen und sich als Krisenmanager*innen inszenieren, glänzte die Obrigkeit in Mississippi mit Abwesenheit und Desinteresse. Aber nachdem der Landstrich von überwiegend armer und damit nicht wahlentscheidender Bevölkerung besiedelt war, hielt sich das Engagement der Regierung eher in Grenzen (was sich ja nicht nur beim Hurrikan Katrina wiederholen sollte). Auch das Erinnern an die Katastrophe wurde nicht wirklich aktiv betrieben, der Blick ging schnell nach vorne. Und so haben es sich Fennelly und Franklin zum Ziel gesetzt, die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse noch einmal wachzurufen und die Leserinnen und Leser mitzunehmen in ein von Regen getränktes Mississippi-Delta im Jahr 1927.

Ein Paar voller Gegensätze

Dazu setzen sie ein äußerst gegensätzliches Paar Protagonisten in den Mittelpunkt des Buchs. Da ist der Bluesliebhaber und Prohibitionsagent Ted Ingersoll, der mit seinem Partner Johnson einen Spezialauftrag von Herbert Hoover erhält. Im Süden der USA sind zwei andere Agenten verschwunden, die mit dem Aufspüren von Schwarzbrennern beauftragt waren. Nachdem die Männer wie vom Erdboden verschluckt sind, sollen Ingersoll und Johnson nun Licht in die Angelegenheit bringen. Bei ihrer Suche im Dauerregen von Mississippi stoßen die beiden bei ihrer Suche auf ein herrenloses Baby, dessen sich Ingersoll annimmt.

Beth An Fennelly / Tom Franklin - Das Meer von Mississippi (Cover)

Um sich auf ihre Suche konzentrieren zu können, gibt Ingersoll das Baby in die Obhut von Dixie Clay Holliver, der zweiten Hauptfigur des Romans. Dabei ahnt Ingersoll allerdings nicht, dass es just Dixies Mann war, in dessen Gegenwart man die zwei verschwundenen Agenten zuletzt gesehen hat. Denn Dixies Mann ist ein Alkoholschmuggler, der die strengen Prohibitionsgesetze geschickt zu umgehen weiß. Die eigentliche Kraft hinter seinen Umtrieben ist allerdings Dixie selbst, eine hochtalentierte Schwarzbrennerin, die auf ihrer Farm in der Nähe des kleinen Dörfchens Hobnob den besten Moonshine im Süden brennt.

Aus der Spannung zwischen diesen eigentlich diametral entgegengesetzten Figuren zieht Das Meer von Mississippi seinen Reiz. Während der Regen unerbittlich vom Himmel fällt und einen immer größeren Druck auf die Flüsse und Deiche ausübt, kommen sich Ingersoll und Dixie näher. Beth Ann Fennelly und Tom Franklin inszenieren das mit wuchtigen Bildern und viel Gespür für Timing und Tempo. Wie sich die beiden immer weiter annähern, wie zugleich die Pegelstände steigen und sich die Handlung um die beiden gegensätzlichen Figuren herum immer schneller beschleunigt und schließlich in nicht nur einem metaphorischen Dammbruch endet, das ist ausnehmend gut gemacht. Immer wieder gelingen den beiden eindrucksvolle Szenen und farbig geschilderte Momentaufnahmen aus einer Welt, die sich zunehmend im Chaos verliert (übersetzt von Eva Bonné).

Fazit

Das Buch kann überzeugen und ist eine wirkliche Lesefreude, wenngleich der Publikationsort im Verlag Heyne Hardcore etwas in die Irre führt. Schreibt Tom Franklin sonst Thriller ganz anderen Kalibers, handelt es sich hier doch zuvorderst um einen Roman, der Elemente aus Krimi, Schmonzette und historischem Schmugglerepos á la Dennis Lehane miteinander formidabel verzahnt. Hardcore ist hier nichts, dafür aber durchaus eindrücklich. Und somit ist das Anliegen des Autoren- und Ehepaars durchaus gelungen, an diese vergessene Katastrophe zu erinnern und ihr ein literarisches Denkmal zu setzen! Ein Buch, das nicht nur in diesen regnerischen Tagen wärmstens empfohlen sei!


  • Benn Ann Fennelly / Tom Franklin – Das Meer von Mississippi
  • Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné
  • ISBN: 978-3-453-27285-9 (Heyne Hardcore)
  • 384 Seiten. Preis: 22,00 Euro
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Helga Schubert – Vom Aufstehen

Erinnerungssplitter

Es wird viel geklagt über Corona und den Wegfall von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Miteinander – und das völlig zurecht. Die Folgen der Pandemie sind gravierend – und momentan noch gar nicht reell abschätzbar. Allerdings bietet Corona auch Vorteile und Chancen. Eindrücklichstes Beispiel hierfür der Fall von Helga Schubert und ihrer Teilnahme am Bachmannpreis.

Denn eigentlich war das mit dem Preis und der Autorin mehr als unwahrscheinlich. Schon einmal hätte sie zu DDR-Zeiten beim Wettbewerb antreten sollen, durfte dann auf Geheiß der DDR-Führung allerdings nicht teilnehmen. Zwar wurde ihr dann 1987 bis 1990 die Ehre zuteil, als Kritikerin Teil der Jury des Preises zu sein. Aber noch einmal eine zweite Chance bei diesem Wettbewerb auf Teilnehmerseite? Das schien mehr als unwahrscheinlich.

Zu weit weg das Wettlesen am Wörthersee, da sie in Mecklenburg-Vorpommern zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann lebt. Zu alt mit ihren 80 Jahren für das normalerweise recht junge Teilnehmerfeld (sogar den Rekord für die älteste Teilnehmerin überhaupt stellte sie damit auf). Und doch gewann die Autorin den Preis – dank der Verlegenheitslösung, die der Preis 2020 versuchte. Denn anstelle einer Präsenzveranstaltung wurde der Preis digital durchgeführt. Die Juror*innen saßen zuhause, die Lesungen wurden voraufgezeichnet. So konnte auch Helga Schubert beim Wettlesen mitmachen – und gewann unter großem Medieninteresse den Preis. Nun, ein Jahr nach dem Bachmannpreis liegt ihr Werk Vom Aufstehen vor. Auf eine Gattungsbezeichnung hat der Verlag verzichtet. Stattdessen prangt der Untertitel Ein Leben in Geschichten auf dem Cover.

Kurze Erinnerungen und Eindrücke

Und das trifft es ganz gut. Wobei viele der sogenannten Geschichten für mich gar keine Geschichten sind. Eher würde ich von Erinnerungs- und Gedankensplittern reden. Teilweise sind die Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, nicht einmal eine Seite lang. Die kurze Form dominiert, nur wenige Geschichten sind länger als drei bis fünf Seiten – beispielsweise die ans Ende gesetzte titelgebende Erzählung Vom Aufstehen, die Schubert den Bachmannpreis eintrug.

Helga Schubert - Vom Aufstehe (Cover)

Und jetzt begehe ich zu Beginn gleich den Frevel: trotz aller Meriten, Lobeshymnen und Nominierungen finde ich es auf literarischer Ebene eher schwach. Einen eigenen Sound hat Helga Schubert in meinen Augen nicht, eine besondere literarische Bearbeitung oder Überformung ihres Materials findet sich in diesem Buch nicht. Natürlich kann man einwenden, dass diese Kunstlosigkeit auch Kunst ist. Aber eine unverwechselbare Stimme konnte ich in den Erzählungen nicht entdecken. Klar fokussiert sind die Geschichten auch nicht immer und mäandern thematisch hin und her, etwa die Erzählung Vom Erinnern.

Hier wandert Helga Schubert von einem Besuch in Bad Kleinen zum dortigen GSG9-Einsatz, bei dem RAF-Mitglieder festgenommen werden sollten. Davon kommt sie zu einem Treffen mit ihrem Lektor an ihrem Wohnort in Mecklenburg, von wo aus sie zum Suizid eines benachbarten Bauern schweift, ehe es um Besucher aus dem Westen kurz nach dem Mauerfall geht, ehe sie wieder zu den Beschreibungen ihrer Heimat zurückkehrt. Und auch wenn die Geschichte vom Erinnern handelt und das Sprunghafte, Assoziative in den Mittelpunkt stellt, so hat mich diese Art des Erzählens nicht überzeugt. Auch irritierten mich die Anschlüsse und Bezüge der Geschichten, etwa wenn Schubert in der Schlussgeschichte Vom Aufstehen vieles zuvor Erzählte einfach noch einmal wortwörtlich aufgreift und wiederholt. Hier hätte eine Überarbeitung notgetan. Kurzum: dieses Erzählen überzeugte mich auf der Mikroebene leider nicht.

Ernüchterung auf Mikroebene, Faszination auf Makroebene

Anders hingegen auf der Makroebene – denn hier entfaltet das Buch seinen ganzen Reiz. Die Vielzahl von Erinnerungen, Gedankensplittern und Anekdote ergibt zusammen das Porträt einer faszinierenden Frau, an deren Leben sich die gesamten Bruchlinien der jüngeren deutschen Geschichte ablesen lassen. Flucht, Vertreibung, das schwierige Verhältnis mit der eigenen Mutter. Die Erfahrungen als regimekritische Autorin in der DDR, das literarische Leben dort, die Umstellungen nach der Wende. All das thematisiert Vom Aufstehen über die einzelnen Erzählungen hinweg und verschafft dem Leser und der Leserin einen Eindruck von dem, was man sonst mit dem schmalen Wort Lebensleistung erschlägt.

In Schuberts Leben (oder dem, das sie uns erzählt) wird offenbar, welche tiefgreifenden Wechsel der Systeme hin von der Nachkriegszeit hin in die Gegenwart und von der DDR hin zur Bunderepublik für die Menschen bedeutete. Auch eingedenk der Debatten im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit und die Frage nach der tatsächlichen Einheit von Ost und West kann Schuberts Prosa mitreden und mit Persönlichem die Debatte bereichern. So besitzt Vom Aufstehen gesellschaftliche und zeithistorische Relevanz, die mich mit dem eher schmalen literarischen Gehalt des Buchs versöhnte.

Weitere Meinungen zu diesem Buch gibt es unter anderem bei Aufklappen, masuko13 und Zeichen&Zeiten.


  • Helga Schubert – Vom Aufstehen
  • ISBN 978-3-423-28278-9 (dtv)
  • 221 Seiten. Preis: 22,00 €
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