Polly Samson – Sommer der Träumer

Ein Elysion und ein Sommer, der scheinbar niemals zu Ende geht. Davon erzählt Polly Samson in ihrem Roman Sommer der Träumer, der auf griechischen Insel Hydra im Jahr 1960 spielt. Darin erzählt sie von (Überlebens-)Künstlern, Liebe, Eifersucht und dem Ringen um künstlerischen Erfolg. Und mittendrin die junge Erzählerin Erica, die nach dem Tod ihrer Mutter ihren Platz im Leben sucht.


Der Buchmarkt hat erkannt – was uns Leser*innen gerade fehlt. Unbeschwerte Sommerurlaube in fernen Ländern. Pandemiebedingt ist eine allzu exzessive Reisetätigkeit nicht möglich, weshalb uns die Verlage in diesem Bücherfrühling umso mehr mit Sommerbüchern im Dutzend versorgen. Egal ob Sommer in einer amerikanischen Kleinstadt in den 80ern (Benedict Wells mit Hard Land), in Wicklow im Irland 1959 (Sebastian Barry mit Annie Dunne) oder in der deutschen Provinz (Ewald Arenz mit Der große Sommer): Sommerbücher liegen im Trend. Der Ullstein-Verlag und Polly Samson erweitern die Palette neu erschienener Romane nun um den Schauplatz Griechenland. Dorthin verschlägt es die jugendliche Erica zusammen mit ihrem Bruder Bobby.

Ihre Mutter ist gestorben, das Auskommen zuhause mit dem Vater schwierig, und so beschließen die Geschwister, nach Griechenland aufzubrechen. Die Mutter hat den beiden einen Wagen und ein ebenso geheimes Sparkonto mit tausend Pfund Inhalt hinterlassen. Zudem hat Charmian Clift, eine frühere Mitbewohnerin im Haus der Familie, ihr neues Buch namens Peel me a lotus an die Familie geschickt. Darin erzählt sie von ihrem Leben auf einer griechischen Insel namens Hydra. Da sich Erica von Charmian Auskünfte über das Leben ihrer Mutter und deren Geheimnisse erhofft, steht der Beschluss der jungen Menschen schnell fest. Zusammen mit Ericas Freund machen sie sich gen Griechenland auf, das Land der Griechen mit der Seele suchend.

Eine pulsierende Gemeinschaft

Auf Hydra erwartet sie eine lebhafte Gruppe von Malern, Schriftsteller*innen und Einheimischen. Schnell wachsen die so unterschiedlichen Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen. Man zieht in Häuser, organisiert sich in Gruppen, erkundet die Insel und feiert rauschende Feste, stets auch auf der Suche nach der nächsten künstlerischen Eingebung. Das Zentrum der pulsierenden Gemeinschaft ist dabei stets Charmian Clift, die als mütterliche Inspirations- und Seelenhilfe fungiert. Auch Erica sucht beständig ihre Nähe.

Man liebt und streitet sich, Liebe, Treue und Affären sind ein beständiges Klatschthema. Es kriselt in so mancherlei Beziehung, mancher verschwindet im Laufe des Sommers von der Insel, andere Künstler stoßen wieder zur Gemeinschaft, wie etwa der junge kanadische Poet namens Leonard. Es hat den Anschein, als würde der Sommer auf der Insel für die Künstlergemeinschaft nie zu Ende gehen. Doch auch im vermeintlichen Paradies ist alles endlich.

Von großer Beschreibungsfreude

Davon erzählt Polly Samson in ihrem Buch auf detailgenaue Art und Weise. Ihr Buch atmet förmlich den Geist jenes Sommers vor siebzig Jahren, in dem alles noch nicht so kompliziert schien (aber in Wahrheit natürlich auch war). Wem der Griechenlandurlaub fehlt, bei dem kommt während der Lektüre sicher das ein ums andere Mal Nostalgie auf.

Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich über den Golf zu den Bergen von Troizen. Schönes breitet sich vor mir aus. Das Meer liegt wartend da, der Hafen verspricht Drama, der Fels hallt von den Glocken der vielen Inselkirchen wider. Ich stehe am oberen Ende der Stufen und sauge all das in mich auf. Die Hügel von gelben Blüten entflammt, die Berggipfel mit Rotgold überzogen, Quarz funkelt in den geweißten Mauern. Weinlaub ziert den weiß übertunnelten Anstieg. Reife Aprikosen zieren einen gewölbten Eingang, Wildblumen sprießen aus den Ritzen eingefallener Mauern und Ruinen. In einer Tür schüttelt eine Frau einen Teppich aus; selbst der Staub glitzert.

Polly Samson – Sommer der Träumer, S. 81

Diese Schilderungen sind Bonus und Malus des Buchs zugleich. Denn wenn der Berghirte mit seinem Esel über die Bergpfade der Insel zuckelt, im Gepäck rahmiger Joghurt, die Schwammfischer zurückkehren und auf dem Fensterbrett die Honigwabe im Sonnenlicht glänzt, dann schrammt das Ganze oftmals nicht am „Mamma Mia“-Kitsch vorbei, nein, dann ist es „Mamma Mia“-Kitsch. Man wäre nicht überrascht, spränge Pierce Brosnan „Dancing Queen“ knödelnd hinter der nächsten weiß gekalkten Häuserwand hervor.

Aber zugleich ist Polly Samsons Beschreibungsgabe so reich, ihre Schilderungen der Flora und Fauna der griechischen Inselwelt immer reich an präzisen Bildern (Übersetzung Bernhard Robben), sodass ich ihr nach dem abschließenden Lektüreeindruck diese Postkartenkitsch-Passagen gerne verzeihe.

Eine weibliche Coming of-Age-Erzählung

Polly Samson - Sommer der Träumer (Cover)

Ihre Prosa ist reich, geradezu überbordend an Beschreibungsfreude, die das Bild einer nahezu paradiesischen Insel heraufbeschwört. Doch es zählt zu den Qualitäten von Sommer der Träumer, dass das Buch eben nicht nur den Eskapismus feiert, sondern auch von der Suche nach einem Platz im Leben, vom Scheitern von Lebensträumen und der Brüchigkeit der Idylle erzählt. In die Künstlergemeinschaft, die sich auf Hydra trifft, ist die Vergänglichkeit schon eingeschrieben. Und diese Vergänglichkeit und Nostalgie kleidet Polly Samson in schöne Worte und Bilder und schafft so neben aller Nostalgie und allen Kitschmomenten auch einen ernsten Hintergrund ihrer Erzählung.

Zudem ist Polly Samsons Buch der rare Fall einer weiblichen Coming of Age-Erzählung. Ein Genre, das in diesem Bücherfrühling zumeist von Männern bedient wurde. Aber Polly Samson zeigt, dass auch sie mithalten kann im Konzert dieser nostalgischen Adoleszenzromane. Die Zutaten sind die ähnlichen, wie sie etwa die eingangs erwähnten Ewald Arenz, Callan Wink oder auch Benedict Wells in ihren letzten Büchern anwendeten: ein junger Mensch an der Schwelle zum Erwachsenenwerden, ein Sommer, randvoll mit Erlebtem, die Rückschau, aus der heraus die Handlung geschildert wird. Es ist alles drin. Und auch im Vergleich zu den anderen Titeln dieser Saison kann Polly Samson bestehen und aufgrund ihres Beschreibungsreichtums sogar leicht herausstechen.

Fazit

Polly Samson hat ein Buch über den Zustand des Paradieses und dessen Bröckeln geschrieben. Ein Buch, das vielleicht die ein oder andere Nostalgie- und Kitschschleife zu viel dreht, insgesamt aber eine bildmächtige Erzählung über einen längst vergangen Griechenland- und Künstlerbegriff darstellt. Ein starkes Buch, das Sehnsucht nach Griechenland weckt und in diesen unsicheren pandemischen Zeiten wenigstens eine Lehnstuhlreise auf die Insel Hydra erlaubt. Schöne Sommerlektüre mit Mehrwert!


  • Polly Samson – Sommer der Träumer
  • Aus dem Englischen von Bernhard Robben
  • ISBN 978-3-550-20142-4 (Ullstein)
  • 384 Seiten. Preis: 20,00 €
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Tom Hillenbrand – Montecrypto

Immer wieder melden sich in Mithu Sanyals Roman Identitti Personen zu Wort, die für ihr Debüt Tweets über einen fiktiven Skandal gespendet haben. Einer dieser Spender ist der Zeit-Redakteur Lars Weisbrod, der sämtliche Twitter-Diskussionen im Buch mit dem Hinweis crasht, er möchte jetzt über Geldtheorie diskutieren. Damit findet er im Falle des Identitti-Skandals sein Glück nicht. Ganz anders aber bei Tom Hillenbrands neuem Roman Montecrypto. Dieses Werk dürfe den Zeit-Redakteur und Power-Twitterer zufrieden stellen. Denn Tom Hillenbrand erzählt nicht nur von einer Schatzsuche, sondern reichert diese mit zahlreichen Informationen über Geldsysteme, neue Formen des Bezahlens und den Megatrend Bitcoin an.


Auslöser des Ganzen ist der Tod des Bitcoin-Nestors und Millardärs Greg Hollister. Dieser kam bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Seine Schwester beauftragt den Finanzermittler – Dumas lässt grüßen – Ed Dante. Dieser soll den Tode des Milliardärs genauer untersuchen soll. Denn obwohl sich Hollister aus der von ihm gegründeten Bitcoin-Firma zurückgezogen hat, könnte er einen unbekannten Geldbetrag zur Seite geschafft haben. Bei seinen Recherchen stößt Dante auch tatsächlich auf Hinweise, dass der Schatz des exzentrischen Milliardärs existiert. Schnell sorgt die Kunde für einen Schatzsucher-Boom, zumal Hollister aus dem Grab heraus mit postum veröffentlichten Videos die Schatzsuche anheizt. Die Medien taufen den sagenumwobenen Schatz schnell Montecrypto und Date muss feststellen, dass mit dem Bitcoin-Universum eine Welt entstanden ist, die nach ganz anderen Regeln funktioniert, als er es gewohnt ist.

Auf der Jagd nach dem Bitcoinschatz

Mit Montecrypto hat Tom Hillenbrand ein Buch geschrieben, das den klassischen Hardboiled-Detektivroman mit der Welt digitaler Währungen zusammenbringt. Eine Idee, die zunächst widersprüchlich klingt, im Buch allerdings gut funktioniert. So reichert Hillenbrand die bekannten Genremotive (einsamer und trinkender Ermittler, Teamarbeit mit einer externen Expertin, klassische Ermittlungsarbeit für die Suche nach Hinweise etc.) durch die Welt der Bitcoins, Blockchains und Bytes an. Stellvertretend für den unbedarften Leser stößt Dante langsam in die Welt der digitalen Finanzen vor, die so anders ist, als man das aus dem Wirtschaftsunterricht kennt. Denn mit Sparbuch und dem herkömmlichen Fiat-Geld hat die neue Welt des Geldes nur mehr wenig gemeinsam.

In einigen Erklärdialogen und -szenen wird Dante in diese Welt eingeführt und lernt langsam die Möglichkeiten, aber auch Abgründe kennen, die dieser Art digitalen Geldes innewohnen. Warum befeuerte Hollister mit seinem Eintreten für eine unregulierte Währung die Hoffnung der Ultraliberalen? War er mit seinen Visionen eher Held oder der Totengräber unserer Währungssysteme? Und wo zum Teufel ist dieser digitale Schatz von Montecrypto versteckt?

Fazit

Montecrypto besitzt ein gutes Pacing, treibt immer wieder voran und lässt so etwas wie Langeweile nicht aufkommen. Auch wenn man bei den ganzen im Buch verarbeiteten Themen eine arge Theorielastigkeit und viele Erklärdialoge befürchten könnte, stellt sich das Ganze realiter dann allerdings weitaus spannender dar. Hillenbrand schickt Dante auf eine turbulente Schnitzeljagd, die von Kalifornien über New York und Frankfurt bis in die Schweiz führt. Eine Schnitzeljagd, deren wahre Natur lange im Dunkeln bleibt, auch für Ed Dante.

Mag auch die Pointe des Buchs etwas arg vorhersehbar sein, so überzeugt das Buch durch seine Rasanz und sein innovatives Thema. Hillenbrand gelingt es zu zeigen, dass die Welt der Geldtheorie und der Kryptowährung tatsächlich viel Spannungspotenzial bietet. Einmal mehr stellt Tom Hillenbrand hier seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis. Nach Sci-Fi, Kulinarikkrimis und historischem Roman nun eben eine Schnitzeljagd auf den Spuren Dumas‘ (wenngleich ohne Chateau d’If). Ein guter und aktueller Thriller, reich an Schauplätzen und Themen.


  • Tom Hillenbrand – Montecrypto
  • ISBN 978-3-462-00157-0 (Kiepenheuer-Witsch)
  • 448 Seiten. Preis: 16,00 €
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Ian McGuire – Der Abstinent

Einmal mehr stellt Ian McGuire sein Talent für wuchtige, brutale und schmutzige Blockbuster unter Beweis. Was ihm schon in „Nordwasser“ gelang, wiederholt er nun mit „Der Abstinent“ (Deutsch von Jan Schönherr)

Schmutzig geht es wieder zu in Ian McGuires neuem Roman. Wir befinden uns diesmal nicht auf hoher See und im ewigen Eis, sondern in den Gassen Manchesters 1867. Dort versieht James O’Connor seinen Dienst als Constable. Von seinen Kollegen aufgrund seiner irischen Herkunft argwöhnisch beäugt, soll er die Fenians im Auge behalten. Diese kämpfen für die irische Unabhängigkeit und scheuen als Untergrundkämpfer nicht vor Gewalt zurück. Nachdem zu Beginn des Buchs drei dieser Fenians gehenkt wurden, gleicht die Stimmung in den schmutzigen Gassen Manchesters einem Pulverfass. James O’Connor bedient sich seiner Spitzel, um eine realistische Einschätzung der Gefahren zu erhalten.

Durch das Auftauchen eines Mannes ändert sich allerdings alles: Stephen Doyle reist auf Bitte der Fenians aus Amerika nach Manchester, um den Kampf der Revolutionäre zu unterstützen. Er hat im amerikanischen Bürgerkrieg gedient und kennt sich aus mit dem Geschäft der Gewalt. Er wird zum Gegenspieler James O’Connors, den Doyles Auftauchen und Handeln in echte Bedrängnis bringt. Das Duell der beiden wächst sich aus zu einem Kampf Mann gegen Mann. Einem Kampf, der über Manchester Grenzen hinaus ausgetragen werden wird.

In den schmutzigen Gassen Manchesters

Wieder einmal gelingt Ian McGuire ein Buch, das die damalige Zeit fast sinnlich erlebbar macht. Die Beschreibung der Gassen, des Gestanks, der Gewalt – all das ist unglaublich intensiv. Man fühlt sich selber als Teil der Menge, wenn in den Hinterhöfen die Tradition des Rattenbeißens zelebriert wird oder die irischen Verschwörer in den Pubs einkehren. Der Abstinent ist eine spannende Mischung aus historischem Roman, Krimi, Spitzelspiel und Western. Der Kampf von Stephen Doyle gegen James O’Connor mit allen Mitteln wird von Ian McGuire temporeich und wirklich spannend inszeniert.

Zudem ist das Buch ein Musterbeispiel für das, was ich unter atmosphärisch dicht und plastisch verstehe. Die Prosa Ian McGuires lässt (zumindest für mich gesprochen) Kopfkino entstehen und ist sehr gut von Jan Schönherr ins Deutsche übertragen worden. Ein Beispiel aus dem Anfang sei hier zitiert:

Mitternacht. Feldgeschütze in der Stanley Street, Barrikaden an jeder Brücke und Kreuzung. Die hellen Flammen der Wachfeuer spiegeln sich rötlich schimmernd auf dem schwarzen, bootlosen River Irwell. Im Rathaus in der King Street klopft James O’Connor den Regen von seiner Melone, knöpft den Mantel auf und hängt beides an den Haken neben dem Pausenraum. Sanders, Malone und vier, fünf schlafen in einer Ecke auf Strohsäcken; die anderen sitzen an den Tischen, spielen Whist, plaudern oder lesen den Courier. In der Luft hängt der vertraute Kasernendunst aus starkem Tee und Tabak, links an der Wand verstaubt ein Regal voller Turnkeulen und Medizinbälle, in der Mitte steht ein mit Brettern abgedeckter Billardtisch.

Ian McGuire – Der Abstinent, S. 7

So beginnt dieses Buch und schon befindet man sich mitten im Geschehen. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die verstaubte Kaserne, das ungastliche Wetter. Mit wenigen Sätzen entstehen hier ganze Welten, die von kantigen Figuren bevölkert werden.

Fazit

Mit Der Abstinent ist Ian McGuire ein Buch gelungen, das die Troubles einmal aus englischer Perspektive beleuchtet und die die Kämpfe zwischen Iren und Engländern auf dem Boden des englischen Mutterlandes schildert. Ein spannender historischer Krimi mit einem genau beschriebenen Schauplatz und einem Duell auf Leben und Tod. Ein überzeugendes Buch. Düster und realistisch. Und nicht zuletzt von großer atmosphärischer Dichte.


  • Ian McGuire – Der Abstinent
  • Aus dem Englischen von Jan Schönherr
  • ISBN 978-3-423-28272-7 (dtv)
  • 336 Seiten. Preis: 23,00 €

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Eva Ladipo – Räuber

„Karlsruhe kippt den Mietendeckel“. Diese Nachricht sorgte vor einigen Tagen für bundesweite Aufmerksamkeit. So kassierte Deutschlands höchstes Gericht den Versuch des Berliner Senats, die Mieten zu deckeln. Einstweilen fand damit der politische Versuch ein Ende, die Mieten im Ballungsraum auf einem wenigstens etwas erschwinglichen Niveau einzufrieren. Der Jubel der Vermieter und die Klagen einiger politischer Parteien und Mieterverbände ließ nicht lange auf sich warten.

Vom Kampf gegen Mietwucher und zivilen Widerstand in Berlin erzählt auch Eva Ladipo in ihrem Roman Räuber. Sie beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn man aus seinem angestammten Zuhause vertrieben wird und zu welchen Exzessen die Mietpolitik in Deutschland bereits geführt hat. Ein Roman, der eine der drängendsten Fragen unserer Tage thematisiert: wie geht bezahlbares Wohnen?


Drei Figuren aus ganz unterschiedlichen Schichten sind es, die Ladipo in den Mittelpunkt ihres Roman stellt. Da ist Olli Leber, ein Arbeiterkind, der binnen Kurzem zwei Schicksalsschläge verkraften muss. Zunächst stirbt sein Vater und dann wird auch noch das Haus, in dem er und seine Mutter wohnen, von eine Konsortium namens Europäische Wohnen aufgekauft. Der Auszug der beiden ist damit unausweichlich. Doch wohin in einer Stadt mit Hartz IV und unregelmäßigem Einkommen?

Bei ihrem Umzug vor elf Jahren war die Gegend ein zurückgebliebenes Armenviertel gewesen. Niemand mit Geld hatte jenseits des S-Bahn-Rings wohnen wollen. Die Ringbahntrasse war die neue Mauer, sie hatte Arm und Reich zuverlässig voneinander getrennt. Dass diese neue Mauer noch schneller fallen sollte als die alte, hätte niemand für möglich gehalten. Auch er nicht. Diese verdammten Gleise hatten ihn in falscher Sicherheit gewiegt. Obwohl er den Goldrausch tagtäglich von Nahem erlebte, obwohl er wusste, welche Reichtümer sich aus dem Geld schöpfen ließen, das in unerklärlichen Strömen in Berliner Immobilien floss, hatte er geglaubt, in der abgerockten Sozialwohnung hinter den Gleisen seien sie in Sicherheit.

Eva Ladipo – Räuber, S. 41

Vom Mietrecht und Unrecht

Eva Ladipo - Räuber (Cover)

Die zweite Hauptfigur ist Amelie Warlimont. Sie ist mit dem Chefredakteur der kriselnden Berliner Post verheiratet. Das jüngste von zwei Kindern ist gerade einmal 13 Wochen alt, da gesteht ihr der meist absente Kindsvater, dass er eine Affäre hat. Aus der Bahn geworfen begegnet Amelie Olli Leber und hat plötzlich wieder ein Ziel vor Augen. Dieser will gegen die Enteignung als Mieter kämpfen und die Mietwohnung seiner Mutter behalten, schließlich war das das Versprechen des verstorbenen Vaters: ein Dach über dem Kopf, für den Rest des Lebens. Amelie hilft dem jungen Bauarbeiter bei seinem Kampf gegen die Europäische Wohnen und stößt darüber auf einen alten Bekannten: den ehemaligen sozialdemokratischen Finanzsenator Falk Hagen, der der Politik mittlerweile den Rücken gekehrt hat.

Dieser hat erkannt, dass der Wohnungsmarkt deutlich erträglicher als das Feld der Politik ist. Zusammen mit zwei Partner hat er ein Unternehmen für Luxusimmobilien und Bauprojekte gegründet. Das Geld muss fließen. Schließlich hat Hagen Ex-Frauen, diverse Kinder und eine bevorstehende Traumhochzeit seines Lieblingskindes zu finanzieren.

Auf diese drei Hauptfiguren legt Eva Ladipo ihren Fokus. Zwar gibt es einige weitere Figuren im Ensemble, den Löwenanteil in der Erzählung bestreiten aber Amelie, OIli und Falk Hagen. Wie in einer guten Serie springt die Autorin dabei immer wieder von Figur zu Figur und treibt die Handlung unterhaltsam voran. Der Kampf gegen den Mietwucher, Liebe, das Werben um die Gunst eines Finanziers, der vielleicht die Berliner Post übernehmen könnte, eine Räuberpistole – Ladipo hat viele Themen in das Buch gepackt. Sie versteht es aber auch, diese lesenswert zu erzählen, manchmal vielleicht sogar etwas zu seicht und oberflächlich. Obschon das Buch mit 540 Seiten kein dünner Schmöker ist, liest sich Räuber schnell weg und ist höchst unterhaltsam. Und die manchmal etwas plakative Art verzeihe ich persönlich gerne, schließlich bricht Ladipo so die Sperrigkeit des zugrundeliegenden Themas.

Fazit

Räuber ist auf der Höhe der Zeit und greift viele aktuelle Debatten auf Klassimus, das Auseinanderdriften von Ober- und Unterschicht. Die Frage, was eine Stadt lebenswert macht. All das steckt in diesem Gesellschaftsroman, der alle Ebenen unserer Gesellschaft von Hartz IV bis zur Wohlstandsverwahrlosung abbildet. Genauso erzählt das Buch von skrupellosen Enteignungsversuchen und der neuen sozialen Frage, die Wohnen bedeutet. Auch als Berlin-Roman funktioniert Räuber sehr gut. Viele Themen also, die das Buch zu einer empfehlenswerte Lektüre machen!


  • Eva Ladipo – Räuber
  • ISBN 978-3-89667-678-8 (Blessing)
  • 545 Seiten. Preis: 24,00 €
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Casey Cep – Grimme Stunden

Sechs Morde, ein Prediger und Harper Lees letzter Roman

Zeit Verbrechen, Stern Crime, zahlreiche Dokumentationen echter Verbrechen in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten: das Genre des True Crime boomt. Die Nacherzählungen und Aufbereitungen von Morden und anderen Gräueltaten erfreuen sich größter Beliebtheit. Die Medien haben diesen Trend schon lang erkannt und bedienen die Nachfrage fleißig. Man irrt jedoch, reduziert man die Faszination am Genre True Crime auf ein Merkmal unserer Zeit.

Denn schon vor Jahrzehnten gab es diese sensationslüsterne Betrachtung solcher Verbrechen. Man denke etwa nur an Truman Capotes Roman Kaltblütig aus dem Jahr 1965, der den Mehrfachmord an einer Farmerfamilie in Kansas beschreibt. Eine enge Freundin Truman Capotes, die ebenfalls nach einem literarischen Ausdruck für die Darstellung eines Verbrechens suchte, war Harper Lee. Die Journalistin Casey Cep schildert in ihrem erzählenden Sachbuch Grimme Stunden den Versuch Harper Lees, einen Tatsachenroman über einen todbringenden Reverend im Alabama der 70er Jahre zu schreiben. Gewissermaßen der Fall eines True Crime-Buchs im True Crime-Buch.


Für ihre Erzählung wählt Casey Cep eine Dreigliederung. Im ersten Teil erzählt sie die Geschichte des Reverend William Maxwells. Dieser wirbt in Alabama für seinen Glauben, ist selbst aber alles andere als fromm. Immer wieder kommt es zu mysteriösen Morden im Umfeld des Predigers. Man findet mehrmals Partnerinnen oder Verwandte von Maxwell ermordet in Autos, die am Rande von Straßen achtlos abgestellt wurden. Ein Nachweis der Tötung durch den Prediger fällt allerdings schwer. Eine Mordanklage muss niedergeschlagen werden.

Auffallend aber: immer wenn ein Verwandter oder Partner stirbt, profitiert William Maxwell von zahlreichen zuvor abgeschlossenen Lebensversicherungen. Nicht nur bei den Versicherern lässt die Totenquote im Umfeld des Predigers die Alarmglocken schrillen.

Nach insgesamt sechs Morden in seinem Umfeld, steht William Maxwell dann wieder vor Gericht, wo er während des Prozesses erschossen wird. Damit endet der erste Part von Grimme Stunden.

Ein mörderischer Prediger, ein Verteidiger, Harper Lee

Casey Cep - Grimme Stunden (Cover)

Der zweite Teil behandelt dann die Geschichte von Tom Radney, der als Anwalt für den Mörder William Maxwells vertritt. Sie erzählt von seiner Prozessführung, der Gewinnung von Geschworenen, den taktischen Manövern vor Gericht. Ebenso erzählt Cep auch von Radneys Geschichte, die bestürzend aktuell wirkt. Als demokratischer Bewerber wollte er sich für einen Sitz im Senat bewerben und eine Stimme für die benachteiligte schwarze Bevölkerung im Süden sein. Aufgrund einer Kampagne sah er sich allerdings von Verleumdung und Bedrohung ausgesetzt, sodass er sich letztendlich von seinen politischen Ambitionen verabschiedete. Stattdessen erfand er sich gut vernetzter Strippenzieher und Ansprechpartner für sämtliche Belange neu. Und so ist er es, der den Todesschützen verteidigt.

Eine genaue Beobachterin des Prozesses ist Harper Lee, deren Geschichte den letzten und größten Teil des Sachbuchs einnimmt. Sie war nach dem Welterfolg ihres Romans Wer die Nachtigall stört auf der Suche nach neuem Material. Ihr enger Freund Truman Capote hatte eine neue Möglichkeit aufgezeigt, um Realität in Literatur zu verwandeln. Und auch wenn sie mit Capotes Umsetzung haderte, so war das Genre des True Crime doch eine reizvolle Möglichkeit für Harper Lee, um neuen literarischen Grund zu betreten.

Von ihrer Karriere, ihrer Freundschaft mit Capote, ihrem Versuch den Stoff in den Roman „The Reverend“ umzuwandeln (der schlussendlich nie erschien und verloren ist), davon erzählt sie in diesem letzten Teil.

Ein erzählendes Sachbuch mit leichten Mängeln

Und bei aller Begeisterung für das mitreißende Material: als erzählendes Sachbuch und True-Crime-Schilderung in der Schilderung konnte mich Grimme Stunden doch nicht rechtlos überzeugen.

Das beginnt bei der Übersetzung (Claudia Wenner), in der so einiges ruckelt und knirscht (was soll eine „Akkuratheit“ sein, ist es nicht viel mehr Akuratesse? Hätte man den „Saupfad“ nicht viel besser mit dem geläufigeren „Viehwechsel“ übersetzt?). Und auch im Erzählen von Casey Cep entdeckte ich ein paar Punkte, die mich störten.

So besitzt Grimme Stunden immer wieder Passagen, die ausufern und zahlreiche Hintergrundinfos liefern, die in ihrer Fülle und Genauigkeit nicht wirklich zum Vorankommen der Handlung beitragen. Die Flutungen und der Dammbau in Alabama werden zur Einleitung über mehrere Seiten hinweg geschildert. Die Entstehung und Auswüchse von Lebensversicherungen werden lang und breit erörtert. Die Lebensgeschichte von Tom Radney wird ausführlich geschildert (und ist in ihren Parallelen zur heutigen Zeit durchaus frappierend) – zum Ablauf des Prozesses trägt sie allerdings nicht sonderlich viel bei. Und auch in Sachen Harper Lee startet Casey Cep bei Adam und Eva. Ein wenig mehr Fokussierung und erzählerische Stringenz hätte dem Buch gut getan. Denn mit über 400 Seiten plus einem fünfzig Seiten langen Anmerkungsapparat fordert Grimme Stunden viel Aufmerksamkeit und Disziplin vom Leser ein. Ein paar Straffungen und ein konzentrierter Fokus hätten zumindest mir die Lektüre erleichtert

Fazit

Der Kern, der in Grimme Stunden steckt, ist wirklich spannend. Auch bietet das Buch immer wieder Anknüpfungspunkte in unsere Gegenwart hinein. Als Schilderung eines True Crime-Verbrechens und als Biographie überzeugt Casey Ceps Debüt leider nicht vollumfänglich. Für das nächste Buch wäre eine klarer erzählerische Ausrichtung und eine bessere Übersetzung wünschenswert.

Eine weitere Meinung zu Casey Ceps Buch gibt es von Sonja Hartl auf Dlf Kultur.


  • Casey Cep – Grimme Stunden
  • Aus dem Amerikanischen von Claudia Wenner
  • ISBN 978-3-550-08162-0 (Ullstein)
  • 480 Seiten. Preis: 24,00 €
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