Er kann sich aber nicht vorstellen, was die Italiener den Menschen antun, seinem Volk, seinen Untertanen, den Kindern einer Generation, die geboren wurden, um sein Land aufzubauen. Bald werden die Kaiserin, seine Kinder und seine Berater sich um dieses Radio versammeln, sich zu den Nachrichten neigen und ihnen lauschen, als könnten sie jedes knisternde Detail mit dem Körper aufnehmen. Er hingegen, der Kaiser, Jan Hoy, Haile Selassie, Terefi Mekonnen, hat nur den Wunsch, aufzustehen und einen anderen Raum zu betreten, um den Ozean zu überqueren, in seinen Hafen einzulaufen und sich in das Hochland zu schleichen, um seinem Volk zu verkünden, dass er für den Kampf heimgekehrt ist. Stattdessen ist er hier, wo es keine Sonne gibt, wo alles, was atmet, im Schatten überlebt.
Maaza Mengiste – Der Schattenkönig, S. 363
Ein hierzulande reichlich unbekanntes Kapitel äthiopisch-italienischer Geschichte bringt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste aufs Tapet. Sie schildert in Der Schattenkönig den Abessinienkrieg 1935 und den Kampf der Äthiopier*innen gegen die Besatzer. Fordernde Lektüre.
Verfolgt man nicht gerade ganz genau die aktuelle Nachrichtenlage oder liest beste italienische Literatur, dann kommt einem das Thema Äthiopien und das des Abessinienkriegs heute nicht mehr häufig unter. Das Bestreben Benito Mussolinis nach Expansion, die Überrumpelung des Gegners und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind hier in Deutschland ein Kapitel, das wir auch eingedenk der eigenen Geschichte, nicht wirklich präsent haben. Maaza Mengiste holt dieses Kapitel mit voller Wucht wieder hervor und macht den Krieg und das damit verbundene Leid wieder erfahrbar.
Hirut und Ettore
Hierzu stellt sie zwei Figuren in den Mittelpunkt: Hirut, die im Haus von Aster und deren Mann Kidane als eine Art Leibeigene lebt. Und später wird dann noch Ettore Navarra in den Fokus rücken. Er ist ein venezianischer Soldat, der unter seinem Befehlshaber Fucelli das Land Hiruts besetzt.
Doch zunächst lernen wir Hirut kennen, der einzig ein wuijgara von ihren Eltern geblieben ist. Dieses Gewehr soll sie nur in höchster Not abfeuern, so brachte es ihr Vater bei. Doch nun behält es Kidane ein. Er ist der Abkömmling großer Krieger und sieht sich in der Verantwortung, nach der Besatzung seines Landes durch die faschistischen Italiener Gegenwehr zu leisten. Er schart eine Gruppe lokaler Bauern um sich, um den Truppen Mussolinis (oder Mussolonis, wie er in Äthiopien geheißen wird) Paroli zu bieten. Seine Frau Aster und Hirut werden trotz eines mehr als komplizierten Verhältnisses zueinander zu Unterstützerinnen in diesem Kampf.
Derweil ficht Ettore seinen ganz eigenen Kampf aus. Er hadert ebenfalls mit seiner Herkunft, auch sein Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht einfach. Diese Herkunft erweist sich zudem als Gefahr für ihn, da er, wenngleich nicht praktizierend, Jude qua Abstammung, ist. Und Mussolini treibt die antisemitischen Säuberungen im Militär voran, sodass Navarra permanent unter Beobachtung steht. Für seinen brutalen Vorgesetzten Fucelli dokumentiert er derweil mit der Kamera den Eroberungsfeldzug und die unglaublichen Gräuel, die die Schwarzhemden vor Ort verursachen.
Die Herkunft beziehungsweise die Aufgabe der beiden Charaktere formen auch über die beiden Erzählstränge hinweg die Struktur des Buchs. Denn immer wieder unterbrechen Fotobeschreibungen und Chor-Einschübe die Handlung und rhythmisieren so das Ganze. Und zu guter Letzt flicht Maaza Mengiste auch immer wieder Passagen ein, in denen sie sich in den Kaiser Haile Selassie einfühlt, wie etwa im Eingangszitat. Der Herrscher, der ins Exil nach England flieht und mit seinen eigenen Entscheidungen hadert, bildet so etwas wie die dritte Hauptfigur.
Die Grausamkeiten des Abessinienkriegs
Durch diese drei Figuren entsteht ein Panorama des Abessinienkriegs, das von Leid, Unterdrückung und unfassbarer Gewalt erzählt. So schildert Mengiste plastisch den Tod, den Mussolinis Schwarzhemden über die Menschen bringen. Sie setzten Gas gegen die lokale Bevölkerung ein. Navarras Vorgesetzter Fucelli errichtet im Hochland ein Lager, in das er Gefangene interniert und hundertfach in den Tod schickt. Während Ettore Navarra mit der Kamera das Geschehen dokumentiert, lässt Fucelli die Äthiopier über Klippen in der Nähe des Lagers in den Tod springen.
Hier wird der Krieg mit seiner ganzen Härte erfahrbar. Aber auch Hiruts Kampf und Verzweiflung zeichnet Maaza Mengiste plastisch nach. Zusammen mit Aster wird sie zur Leibgarde des Schattenkönigs, einer Finte ihres Mannes Kidane. Dieser macht einen Musiker zum Wiedergänger des geflohenen Präsidenten, der langsam in seine Rolle als Schattenkönig hineinfindet und die Äthiopier zum Durchhalten motiviert und unter den Italienern für Ablenkung sorgt.
So zoomt die Autorin auf die persönlichen Erfahrungen und stellt den Kampf in seiner ganzen Unmittelbarkeit dar. In dieser erzählerischen Mikroebene bleibt Maaza Mengiste ganz eng an ihren Figuren, Empfindungen, Gedanken und Reflexionen überwiegen. Persönlich hätte ich mir angesichts des hochspannenden und komplexen Themas noch etwas mehr Makroebene gegenüber der dominierenden Introspektive gewünscht. Der geschichtliche Rahmen, der politische Überblick und die Einordnung des Ganzen bleiben hinter dem subjektiven Blick zurück und fehlten mir persönlich. Viele Informationen zum Geschehen musste ich mir über Sekundärliteratur verschaffen.
Auch wäre mir eine etwas stärkere erzählerische Ausbalancierung zwischen den Figuren zupassgekommen. So bleibt Ettore zunächst blass und kaum greifbar, während Hirut stark im Vordergrund steht. Eine besser getaktete Engführung zwischen diesen beiden Figuren hätte mir persönlich gefallen.
Wie sie aber von ihnen erzählt, für Hirut, Ettore und Selassie eine eigene Sprache findet, das beeindruckt doch und rechtfertigt auch die Berufung in die finale Auswahl des Booker Prizes 2020. Zudem kommt hier mit Hirut eine Figur zu Wort, die in den herkömmlichen Chroniken sicher vergessen worden wäre. Sie steht symbolisch für den Krieg aus weiblicher Perspektive. Ihre Erfahrungen, ihr Kampf mit eigenen Mitteln und ihre Verarbeitung des Kriegs stehen als Sinnbild für viele tausende andere Abessinier*innen, die sonst nicht einmal als Fußnote in der Geschichtsschreibung auftauchen.
Fazit
In Der Schattenkönig beschwört Maaza Mengiste ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel italienisch-äthiopischer Geschichte herauf. Das Buch nur als Schilderung des Abessinienkriegs aus einer sonst eher marginalisierten Perspektive auszugeben, würde Mengistes Buch allerdings Unrecht tun. Die Erfahrungen, die der Krieg bedeutete, das unmittelbare Leid und der parallele Blick auf Unterdrücker und Unterdrückte machen aus diesem Buch eine eindringliche Lektüre, die zu weitergehenden Beschäftigung mit dieser Materie einlädt. Übersetzt von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit.
- Maaza Mengiste – Der Schattenkönig
- Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky
- ISBN 978-3-423-28292-5 (dtv Literatur)
- 576 Seiten. Preis: 25,00 €