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Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Sefi Atta – Die amerikanische Freundin

Wie lebt man eigentlich, wenn im eigenen Land plötzlich geputscht wird? Sefi Atta beschreibt es in ihrem Roman Die amerikanische Freundin, die von Lewi erzählt, deren Heimat Lagos in politischen Wirren versinkt. Hat sie vielleicht sogar selbst etwas Schuld daran?


Ikoyi ist ein Stadtviertel der nigerianischen Millionenstadt Lagos. Hier lebt die Oberschicht des Landes – und auch Lewi Lawal ist hier mit ihrer Familie zuhause. Zwei Kinder, ein Hund, Dienstpersonal – die Lebensverhältnisse der Familie könnten eigentlich nicht schlechter sein.

Auch eine Entlassung aus dem Staatsdienst hat Lewis Mann Tunde gut verwunden. Obschon kurzzeitig das Stadtgespräch, hat er inzwischen wieder in einer Gemeinschaftsbank Anstellung gefunden und wird sogar per Chauffeur zur Arbeit gebracht. Lewi selbst betreibt einen kleinen Laden für Grußkarten und andere Karten, die Kinder gehen auf gute Schulen, man hat sich also gut eingerichtet im Leben.

Die Oberschicht von Lagos

Das Sozialleben der Familie erschöpft sich mit Empfängen und Einladungen anderer Bewohner*innen von Ikoyi, die schon einmal eine Party geben, um einen eigenen Pool einzuweihen oder mit Expats zu feiern. Es ist ein Partyleben, das sich nicht nennenswert von der Sinnlosigkeit westlicher Dekadenz unterscheidet.

Nicht, dass mir nur edle Gedanken durch den Kopf gegangen wären, aber falls es einen interessierte, warum der Wohlstand in Nigeria so ungleich verteilt war, brauchte man sich nur die Gäste auf der Party anzusehen, die lachten und scherzten, während sie sich von den Kellnern servierte Cocktails gönnten, nur um sich später mit Essen vollzustopfen. Ich verhielt mich allerdings, obwohl ich mir dessen bewusst war, auch nicht anders als sie. Einen Moment lang machte ich Small Talk, im nächsten nippte ich an einem Cocktail.

Sefi Atta – Die amerikanische Freundin, S. 116

Bei einer solchen Party der Oberschicht trifft Lewi auf Frances. Sie ist so ganz anders, schon alleine, weil sie aus den USA stammt. In ihrer Blase aus Bekannten ist die Amerikanerin eine faszinierende Ausnahme, deren Nähe Lewi zusehends sucht.

Für ihren Mann Tunde hingegen steht fest, dass Lewis amerikanische Freundin eine Spionin der CIA sein muss. Denn wir schreiben das Jahr 1976 und hinter dem Land liegen katastrophale Jahre. So hat der Biafrakrieg Nigeria erschüttert, nun herrscht eine Phase der Ruhe. Dass diese aber nicht dauerhaft ist, das zeigen aber auch die Prozesse der politischen Findung, die das Land durchläuft. Ethnisch vielfältig mit höchst unterschiedlichen Landesteilen versehen bildet sich die politische Landschaft und die Verwaltung gerade aus. Eine interessante Einflusssphäre also auch für die USA, die sich zu der Zeit im Clinch mit den Sowjetstaaten befinden.

Die amerikanische Freundin – oder die amerikanische Spionin?

Sefi Atta - Die amerikanische Freundin (Cover)

Doch ist Frances wirklich eine Spionin oder einfach eine interessierte Amerikanerin, die um Zugang zu den Kreisen der Oberschicht bemüht ist? Sefi Atta zeigt in ihren Beschreibungen und den Dialogen, die zwischen die einzelnen Kapitel geschnitten sind, zwei Frauen, die viel gemeinsam haben, die aber auch aufeinander angewiesen sind. In Erklärdialogen, die sich an einigen Stellen im Buch finden, führt Lewi Frances in die wechselvolle Geschichte Nigerias ein.

Während Die amerikanische Freundin in der ersten Hälfte noch vor sich herdümpelt, entfaltet das Buch im zweiten Teil dann aber einen Drive. Denn die Phase der Stabilität, in der sich das Land aktuell unter der Regierung des General Muhammed befindet, sie ist nur kurzzeitig. Um Lewi und ihre Familie herum bricht plötzlich ein Putsch los, der das Land in eine neue Phase der Unsicherheit stürzt. Und auch bei Lewi selbst herrscht Unsicherheit: hat sie vielleicht Frances mit ihren Erklärungen und Kontakten dabei unterstützt, diesen Putsch vonseiten der CIA aus zu forcieren?

Diese Entwicklung macht aus Sefi Attas Roman im Großen und Ganzen dann doch eine reizvolle Lektüre, während gerade Lewi und den Menschen, mit denen sie sich umgibt, zunächst noch etwas Reiz fehlt. Denn die überprivilegierte Oberschicht dort in Lagos ist nicht unbedingt das, was ich gemeinhin unter spannendem Romanpersonal verstehen, dessen Charaktere einen Roman tragen könnten. Auch werden größere Konflikte ausgespart, eher erschöpft man sich in den Partys, die weit weg sind von der übrigen Bevölkerung Nigerias und deren Problemen. Große Brüche oder charakterliche Tiefenschärfe oder Charaktertiefe sind somit erst einmal Mangelware. Erst durch die Ereignisse des Putsches, den die Figuren auch nicht unmittelbar selbst erfahren, bekommt das Buch dann Drive und Dringlichkeit.

Fazit

So bietet Die amerikanische Freundin doch viel Einsichten in die wechselvolle Geschichte eines Landes, das Sefi Atta manchmal in etwas zu dozierenden Erklärdialogen ausbreitet. Auf der Zielgerade kann Attas Buch aber doch noch Meter gutmachen und gewinnt mit der Innensicht aus einem Land, das gerade wieder einmal in politischer Orientierungslosigkeit versinkt. Gerade da Nigeria ebenso wie Afrika im Ganzen auf dem deutschen Buchmarkt ein Schattendasein führen, sei auf dieses von Simone Jakob übersetzte und im Peter Hammer-Verlag erschienene Buch gerne besonders hingewiesen!


  • Sefi Atta – Die amerikanische Freundin
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob
  • ISBN 978-3-7795-0623-2 (Peter Hammer-Verlag)
  • 400 Seiten. Preis: 26,00 €
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Klaus Modick – Sunset

Ein Tag im Leben des Lion Feuchtwanger. Klaus Modick macht daraus ein berührendes Kunstwerk, das von der Freundschaft Feuchtwangers zu Bertolt Brecht erzählt, vom Leben und Schreiben der Männer – und vom Exil. Das ist Sunset.


Der Rahmen ist in Klaus Modicks Roman eng gesteckt. Vom frühmorgendlichen Aufgang der Sonne über dem gischtumnebelten Pazifik bis zum Untergang ebenjener Sonne reicht der erzählerische Bogen, der Sunset ausmacht. Diese enge Einheit eines einzigen Sommertages nutzt Modick, um wie in seinen später folgenden Romanen Keyserlings Geheimnis und Konzert ohne Dichter ein Künstlerporträt zu zeichnen.

Ähnlich wie bei letztem Roman ist es auch hier nicht nur ein einfaches, sondern eigentlich ein zweifaches Künstlerporträt. Denn bereits vier Jahre vor seinem Roman um das komplizierte Miteinander oder Gegeneinander des Worpsweder Malers Heinrich Vogler und des Dichters Rainer Maria Rilke widmete sich Modick 2011 bereits der Beziehung zweier Künstler, wie sie auf den ersten Blick gegensätzlicher eigenlich nicht sein könnten. Die Rede ist von Lion Feuchtwanger und Bertolt Brecht.

Da der Münchner Jude Lion Feuchtwanger, der mit großen historischen Romanen für hohe Auflagen und viel Aufmerksamkeit sorgte. Da Bertolt Brecht, Augsburger Kommunist und Verfechter des Epischen Theaters. Während Feuchtwanger nach einer kräftezehrenden Flucht in den USA an der Westküste heimisch wird, wird es Brecht in die entgegengesetzte Richtung in den Osten ziehen, wo er später auch begraben werden wird, nämlich in Ost-Berlin. Da der virile Feuchtwanger, dessen Potenz sich mittlerweile erschöpft und seine Beziehung zu seiner Marta alle Krisen überstanden hat, da Brecht mit seinen vielen Frauen und Nebenfrauen, Kindern und Bankerts.

Feuchtwanger und Brecht

Diese unwahrscheinliche Freundschaft, sie arbeitet Klaus Modick in seinem Roman noch einmal auf. Auslöser des Ganzen ist eine Todesnachricht, die Lion Feuchtwangers morgendliche Körperertüchtigung in seiner Villa am Paseo Miramar unterbricht. Niemand geringeres als Johannes Becher, der Kulturminister der neugegründeten DDR erbittet die Teilnahme Feuchtwangers an einem Staatsakt in Ost-Berlin, denn Bertolt Brecht ist tot.

Klaus Modick - Sunset (Cover)

Während nun Feuchtwanger rastlos durch sein Haus tigert und trotz der Abwesenheit seiner Frau so etwas wie Routine in seinen Tagesablauf zu bekommen versucht, brechen die Erinnerungen über ihn herein. Die unwahrscheinliche Freundschaft mit Brecht, dessen erste Kontaktaufnahme mit Feuchtwanger in München. Das Erlebnis nach der Lektüre von Brechts Spartakus, aus dem später die Trommeln in der Nacht werden sollten, der Baal als erstes Ausrufezeichen seines kraftgesättigten und kraftmeierischen Autors, all das scheint in kleinen Schlaglichtern in Modicks Roman wieder auf.

Aber auch Zeitgeschichtliches wie die Kommunistenehatz der McCarthy-Ära und das Verhör Brechts vor dem Tribunal wird durch die Erinnerungskaskade Feuchtwangers noch einmal greifbar. Überhaupt, die Zeitgeschichte: knapper, aber nicht minder eindringlich als in Uwe Wittstocks Marseille 1940 wird hier noch einmal an das Schicksal der Flucht und des Lebens im Exil erinnert.

Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst

Thomas Mann und seine Distanz zu Feuchtwanger, die Schwierigkeiten, in ein neues Leben hineinzufinden und in einem anderen Land mit anderer Sprache seine eigene Sprache und das Schreiben zu bewahren, all das tupft Modick grandios in diesen so kurzen, aber doch so intensiven Roman hinein.

Ihm gelingt mit Sunset das Kunststück, eine durchaus widersprüchliche Freundschaft und zwei ebenso kantige wie komplizierte Männer auf gerade einmal 190 Seiten in ein fabelhaftes Licht zu setzen. Biografisches, Werk der beiden Autoren und sprachliche Eleganz verbinden sich in diesem Roman zu einem großartigen Leseerlebnis, sodass man förmlich meint, selbst mit Feuchtwanger durch seine Villa über dem schimmernden Pazifik und sein wechselhaftes Leben zu spazieren.

Sunset ist ein reduzierter und gerade deswegen so starker historischer und zuvorderst Künstler-Roman. Er zeigt Klaus Modick auf der Höhe seiner Kunst. Es ist eine Höhe, die spätere Werke, allen voran Keyserlings Geheimnis nicht mehr so recht erreichen wollten.

Weitere Meinungen zu Sunset gibt es unter anderem bei Literaturkritik.de und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Klaus Modick – Sunset
  • ISBN 978-3-492-27418-0 (Piper)
  • 192 Seiten. Preis: 11,00 €
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Lucy Fricke – Das Fest

Eine Geburtstagsfeier wider Willen, viele Begegnungen mit der Vergangenheit und ebenso viele Blessuren muss der Regisseur Jakob in Lucy Frickes Roman Das Fest ertragen. Dabei wird der Tag zu einer nostalgischen Erinnerung und verbreitet eine lebensbejahende und beglückende Botschaft. Denn es ist auch mit fünfzig noch nicht zu spät, um im Leben die Weichen noch einmal neu zu stellen.


Es ist eine eindrucksvolle Reihe an Blessuren, die Lucy Frickes Held Jakob im Laufe der Handlung ihres neuen Romans erleiden muss. Ein ausgeschlagener Zahn inklusive Zahnarztbesuch, ein blaues Auge und ein dicker Daumen, ein verstauchter Fuß, dazu noch viel Anflüge von Wehmut und Nostalgie. Diese Reihe an Blessuren wird noch eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass die Handlung von Das Fest nur einen einzigen Tag umschließt.

Dabei ist es zu Beginn des Buchs noch weit her mit den Blessuren und dem titelgebenden Fest, das Lucy Fricke verspricht. Denn Jakob, ihr Geburtstagskind, hat sich eigentlich gegen jegliche Festlichkeiten verwahrt.

Es wird nicht gefeiert.

Das hatte er vor Monaten gesagt, und jetzt stand er in Boxershorts und gebügeltem Hemd in der offenen Wohnungstür und hatte offenbar geglaubt, ich würde mich daran halten.

Lucy Fricke – Das Fest, S. 9

Da hat Jakob allerdings nicht die Rechnung mit seiner guten Freundin Ellen gemacht. Denn diese setzt sich kurzerhand über Jakobs Anweisungen hinweg und organisiert im Geheimen ein Fest für Jakob, das sich über den ganzen Tag erstrecken soll.

Wie zufällig begegnet er an verschiedenen Ecken in Berlin wieder alten Freunden, Bekannten und mittlerweile schon wieder vergessenen Personen, die mit ihm einen Teil seines Tages verbringen, alte Erinnerungen wieder wachrufen und so auch langsam einen Eindruck von Jakob selbst entstehen lassen.

Der erste Tag vom Rest des Lebens

Lucy Fricke - Das Fest (Cover)

Der nun 50 Jahre alte gewordene Regisseur bezeichnet sich selbst als arbeitslos. Sein letzter Film liegt Jahre zurück, der letzte Filmerfolg sogar noch länger. Junge Kreative und regieführende Schauspieler*innen haben ihn auf der Karriereleiter längst überholt. Beziehungen sind in die Brüche gegangen und irgendwie hat die die Midlife-Crisis bei Jakob zum Dauerzustand entwickelt. Zwanzig Jahre sieht er für sich selbst noch als Perspektive. Grund zur Hoffnung ist das allerdings nicht, vielmehr sind diese zwanzig Jahre eine gerade noch so aushaltbare Zahl an Jahren, wie er fatalistisch feststellt.

Dass der vor ihm liegende Rest des Lebens allerdings nicht Ballast sein muss, sondern auch eine große Chance sein kann, das lässt Fricke Jakob im Lauf des Buchs eindrucksvoll erfahren. Denn Ellen hat sich alle Mühe gegeben und konfrontiert ihn mit seiner Ex-Frau, Kindheitsfreundinnen und Jugendfreunden. Für sie ist das heutige Fest die große Gelegenheit, Jakob noch einmal an der Schulter zu rütteln und zu zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist . Das Ganze hat bei ihr allerdings auch nicht nur altruistische Gründe.

Alles hatte ich organisiert, mit allen gesprochen, die Treffpunkte bestimmt, ich war die Puppenspielerin im Dunkeln, die Göttin im Bühnenhimmel, alles hatte ich in der Hand und am Ende doch nichts.

Lucy Fricke – Das Fest, S. 120

Der Regisseur als Figur eines Films

Der Regisseur findet sich nun in einem Stück wieder, in dem andere – allen voran Ellen – die Regie führen. Der Film, der aus diesen Begegnungen erwächst, ist ein ebenso nostalgisch und wehmütiger wie auch beglückender Film, bei dem sogar die veraltete Super 8-Technik noch einmal zum Einsatz kommt.

An seinem Tag mitsamt inszenierten Reigen an Begegnungen mit der Vergangenheit wagt Jakob alles, was er sich in der lähmenden Routine der letzten Jahre selbst versagt hat. Ein wagemutiger Sprung vom 5-Meter-Brett oder das gemeinsame Kochen von indischen Spezialitäten sind nur zwei besondere Momente, die Lucy Fricke im Lauf ihres Buchs schildert.

Dass diese Versuche nicht immer Erfolg münden, sondern meist Blessuren nach sich ziehen, ist angenehm lebensnah und realistisch gestaltet. Schließlich mag Jakob in den letzten Jahren zwar an Erfahrung gewonnen haben, den Körper schützt das allerdings auch nicht vor der größer werdenden Verletzlichkeit.

Lucy Fricke schildert es glaubwürdig und lebensnah. Das Fest zeigt wieder einmal, welch großartige Autorin die in Berlin lebende Schriftstellerin ist. Realistische Figuren mit all ihren Stärken und Schwächen gelingen ihr wie kaum einer anderen deutschsprachigen Autor*innen. Auch hier ist man bereit zu glauben, dass Jakob problemlos aus den Buchseiten ins echte Leben entweichen könnte, wo er mitsamt seiner Makel und Fehler unter uns Menschen nicht nennenswert auffallen dürfte.

Fazit

Dieser Realismus und die gleichzeitige Herzenswärme, die ihrem Buch innewohnt, macht aus Das Fest wieder eine beglückende Lektüre, die niemals in Kitsch abgleitet, sehr wohl aber dazu aufruft, das Leben als Chance und nicht als Bürde zu begreifen.

Mit kleinen Bonmots und treffenden Betrachtungen versetzt gelingt Lucy Fricke erneut ein formidabler Roman, der auf kleinem Raum als Reigen des Vergangenen und möglich Zukünftigem überzeugt.

Das Fest gibt Zuversicht. Hat man solche Freunde an seiner Seite, dann kann es was werden mit Geburtstagen – und dem Rest des Lebens, der auf diese Geburtstage folgt!


  • Lucy Fricke – Das Fest
  • ISBN 978-3-546-10095-3 (Claassen)
  • 144 Seiten. Preis: 20,00 €
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Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch vor und belässt vieles im Ungefähren, statt sich mit eindeutigen Zuordnungen und Einordnungen aufzuhalten.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

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