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Robbie Arnott – Limberlost

Literatur aus Tasmanien findet sich gar nicht so häufig in den hiesigen Buchläden. Richard Flanagan dürfte der bekannteste Vertreter der Literaturszene auf der australischen Insel sein. Doch mit Robbie Arnott hat der Berlin-Verlag nun einen weiteren Vertreter aus Down Under in seinem Portfolio. Dieser macht mit seinem deutschsprachigen Debüt Limberlost gleich einmal auf sich aufmerksam.


Limberlost, so heißt jene Plantage, auf der der junge Ned West aufwächst. Seine beiden großen Brüder Bill und Toby sind verdingen sich als Rekruten irgendwo im Zweiten Weltkrieg. Da zu jung, ist Ned der einzige männliche Spross, der zusammen mit seiner Schwester Maggie bei seinem Vater auf der Plantage zurückgeblieben ist.

Während der schweigsame Vater mit dem Ertrag der Apfelplantage kämpft, durchstreift Ned die paradiesische Natur Tasmaniens, die vor seiner Haustür beginnt. Dabei treibt ihn ein bestimmtes Ziel an. Denn seit er im Alter von fünf Jahren von einem Wal hörte, der im nahegelegenen Fluss für Zerstörung und vor allem viel Gerüchte gesorgt hatte, ist er von der Welt des Wassers fasziniert. Mit einem eigenen Boot könnte er den Fluss vor der Haustür bereisen, selbst auf Fahrt gehen und so dem Trott zuhause entfliehen.

Der Traum vom eigenen Boot

Robbie Arnott - Limberlost (Cover)

Doch für einen Jungen mit keinem nennenswerten Einkommen liegt der Traum eines eigenen Boots natürlich in weiter Ferne. Doch Ned ist erfinderisch und beginnt, die Kaninchen zu jagen, die das Gelände um die heimische Farm zu Hunderten bevölkern. Er wird zu einem geschickten Jäger und Fallensteller, der die Kaninchen erlegt, um ihre Felle dann einem Krämer im nahegelegenen Beaconsfield im Norden der Insel zu verkaufen. Aus den Fellen werden Mützen für die Soldaten im Zweiten Weltkrieg – und Ned erhält für die abgenommenen Felle ein Honorar, das er eisern spart, um seinem Traum so näherzukommen.

Limberlost erzählt die Geschichte eines Sommers, der an einigen Stellen von Rückblenden des Lebens des erwachsenen Ned durchbrochen wird. Es ist ein Sommer, in dem Ned an der Schwelle vom Jungen zum Mann steht, was auch durch die Rückblenden so noch einmal betont wird. Dadurch fällt Arnotts Roman in die Gattung des klassischen Coming of Age Novels.

Genauso ist sein Roman aber auch eine Feier der überwältigenden Schönheit der Natur Tasmaniens, die Arnott ebenso vorzüglich wie seine Landsmänner Richard Flanagan oder auch Kyle Perry in Prosa zu bannen weiß (die Nikolaus Hansen ins Deutsche übersetzt hat):

ein Wald voll großer Farne und heller Pilze, mit ebenem Boden und dickstämmigen Bäumen, klaren Bächen und kühlem Schatten, ein Wald von unergründlichen, geheimnisvollen Tiefen. Ein Ort mit dunkeläugigen Wallabys und feistgesichtigen Possums und flackernden Zaunkönigen und adlergroßen Raben und vorstellbaren Mengen von Kaninchen. Ein Ort, so gänzlich anders als Weideland, Flusslandschaft und Obstplantagen, dass Ned, als er anfing, sich seinen Weg durch diese Natur zu bahnen, die belaubte Erde hinter sich ließ und jener Version der Welt, wie er sie kannte, entschwebte.

Robbie Arnott – Limberlost, S. 98

Blut und Sonnenschein

Dass dieses Buch allerdings keineswegs die Verklärung einer Kindheit oder einer unberührten, romantischen Naturidylle ist, das macht Arnott auch klar. Wenn es in einer Passage des Buchs heißt, dass Blut und Sonnenschein Neds Tage erfüllten, dann bringt das auch die Programmatik dieses Romans gut auf den Punkt. Denn neben der jugendlichen Begeisterung für das Boot und das Tom Sawyer-artige Durchstreifen der Landschaft erzählt Limberlost auch von den Brüchen, von der Allgegenwart des Todes, etwa in Form des blutigen Handwerks der Kaninchenjagd oder des aus der Ferne grüßenden Geschehens auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs.

So muss Ned im Lauf seines Lebens nicht nur den Traum des eigenen Schiffes beerdigen, ohne an dieser Stelle weitere Volten der Handlung vorwegnehmen zu wollen. Ebenso wie Limberlost von Idealen und Paradiesen erzählt, findet auch eine Zerstörung dieser Paradiese statt. Immer wieder bricht die erwachsene Welt des Abschieds in die kindliche Welt der Idylle dort in Tasmanien ein.

Das verleiht dem Buch Tiefe und kontrastiert die Welt Neds auf hervorragende Art und Weise, sodass dieses Buch für eine wirklich große Leserschaft eine Empfehlung verdient

Fazit

Robbie Arnotts Einstand namens Limberlost ist ein bittersüßes, melancholisches, lebenspralles, ebenso sinnliches wie luzides Werk, mit dem er sich schon jetzt einen Platz auf der literarischen Landkarte Tasmaniens sichert. Eine wirklich Entdeckung, die Lust macht auf weitere Titel aus seiner Feder!


  • Robbie Arnott – Limberlost
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Hansen
  • ISBN 978-3-8270-1490-0 (Berlin-Verlag)
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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Gaea Schoeters – Trophäe

Menschenjagd in Afrika. In ihrem Roman Trophäe fragt sich die flämische Autorin Gaea Schoeters, was passiert, wenn sich ein Jäger bei seiner Jagd sprichwörtlich nicht mehr nur auf Tiere einschießt. Ein Roman mit einer spannenden Fragestellung, der auch die Leserinnen und Leser vor moralische Dilemma stellt und der gut in die Riege ethischer Grenzauslotungen in privilegierten Milieus á la Saltburn passt.


Hunter White. Gibt es einen besseren (wahlweise auch platteren) Namen, um einen Großwildjäger in eine Geschichte zu verpflanzen? Die Niederländerin Gaea Schoeters schickt den Jäger, der diesen Namen trägt, auf Großwildjagd in Afrika. Seine Biografie bleibt dabei ebenso nebulös wie sein Name funktionell. Außer Andeutung erfährt man wenig über ihn. Sein Job, die familiären Verhältnisse, alles schmückende Beiwerk bleibt hier recht schematisch auf das Nötigste reduziert – ebenso wie der Handlungsort irgendwo in Afrika, bei dem Schoeters ebenfalls auf eine genaue Verortung verzichtet. Vielmehr sind die Jagdgelüste des Mannes beziehungsweise die Motivation für sein Tun die beherrschenden Themen in ihrem Roman.

Seit zwei Jahren treibt diesen Hunter White schon der Plan des Abschusses eines Nashorns um. Viel Geld hat er berappt, um dort in Afrika endlich ein Exemplar vor seine Büchse zu bekommen. Und nun ist es endlich soweit. Zusammen mit dem Jagdleiter van Heeren und ein paar Spurensuchern macht er sich auf die Suche nach einem alten Nashornbullen, der von seiner Herde ausgestoßen wurde und dessen Existenz das Gleichgewicht der Nashornsippe bedroht (so zumindest die Argumentation, die den Abschuss des Tieres in der freien Wildbahn mit gutem Gewissen rechtfertigt).

Die Männer streifen im Busch umher und machen das Tier schnell aus – und nach einigen Verwicklungen und unvorhergesehenen Ereignissen ist das Tier dann auch erlegt. Bei einer reinen Beschreibung dieser Jagd und der argumentativen Stützung ihres Treibens dort belässt es Schoeters allerdings nicht. Denn etwa in der Mitte des Buchs legt van Heeren Hunter ein unmoralisches Angebot vor.

Die Grenzen der Jagd – und darüber hinaus

Warum sollte sich dieser nur auf den Abschuss eines Nashorns oder auf Löwen, also Teile der legendären Big Five beschränken? Warum das Ganze nicht um eine menschliche Komponente erweitern? Der Mensch als gefährlichstes Raubtier der Welt müsste ja genau genommen eigentlich auch Aufnahme in die Liste der tödlichsten Raubtiere der Welt finden und so würde aus den Big Five die Big Six. Warum diesen dann nicht auch einfach einmal jagen?

Gaea Schoeters - Trophäe (Cover)

Vor diese Frage stellt Gaea Schoeters Hunter White – und damit auch uns als Leserinnen und Leser. Denn Trophäe lotet die moralische Fragwürdigkeit der Jagd aus und blickt auch auf die letzten Konsequenzen des Tuns. Der Roman greift dabei auch in einigen Momenten Debatten auf, etwa die, die sich um den Abschuss des Löwen Cecil durch einen jagdnärrischen Zahnarzt aus den USA entspann.

Daraus bastelt Schoeters in ihrem von Lisa Mensing aus dem Niederländischen übertragenen Roman eine temporeiche Erzählung, der von der kolonialistischen Überlegenheit und weißem Suprematismus erzählt, der hier aber beständig mit Argumenten der Beteiligten schöngeredet und als notwendig dargestellt wird. Dies macht uns ein Stück weit auch zu Mittätern, die das Treiben dort in der Savanne und dem Buschland gespannt verfolgen.

Mit einem klareren Schwerpunkt auf Handlung denn auf psychologische Feinheiten erinnert das Ganze in Ansätzen an den Krimi Die letzte Jagd, in dem Jean-Christophe Grangé zuletzt eine solche Menschenjagd (beziehungsweise dort die Pirsch) im Milieu der Reichen und Schönen im Schwarzwald zwischen Frankreich und Deutschland inszenierte. Die Erhebung des einen Menschen über den anderen, die Rechtfertigung des Treibens und die Einbindung in die lokalen Bräuche, das sind Themen, die in Gaea Schoeters Trophäe im Mittelpunkt stehen.

Fazit

Es lässt sich hier mitfiebern und überlegen – auch wenn dem Roman noch ein wenig mehr an Tiefenschärfe in Sachen Figurenzeichnung gutgetan hätte, um wirklich in der letzten Konsequenz die Bitternis dieses Romans zu schmecken. So ist Trophäe ein interessantes, moralisch herausforderndes Buch, das vom Rausch der Jagd erzählt und das nach Afrika versetzt, auch wenn die genauen Umstände der Geschichte und Figuren im Dunkeln bleiben.


  • Gaea Schoeters – Trophäe
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • ISBN 978-3-552-07388-3 (Zsolnay)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
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Auf Murmeljagd

Gibt es einen schlechten Zeitpunkt, um ein Buch über die Schrecken des Dritten Reichs zu veröffentlichen? Offensichtlich ja, wie der Fall Ulrich Becher zeigt. Er entschied sich nämlich, sein Opus Magnum, den 700-seitigen Roman Murmeljagd, 1969 zu veröffentlichen. Ein Buch, das sich mit Flucht, Terror und Menschenjagd auseinandersetzt – das aber kaum jemand lesen wollte. Die 68er-Bewegung hatte ihre Wirkmacht noch nicht entfaltet, die Ohrfeige Kurt Georg Kiesingers durch Beate Klarsfeld lag gerade einmal ein Jahr zurück. Sich literarisch mit den Schrecken der Jahre 33-45 auseinanderzusetzen, das stand für die damalige Gesellschaft noch nicht wirklich auf dem Programm, die Phase der Exilliteratur war schon vorbei.

Und so blieb auch Ulrich Becher mit seinem Buch der Erfolg und die Aufmerksamkeit verwehrt. Ein Status, der sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Ulrich Becher? Eher kennt man noch Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Schöpfer der DDR-Nationalhymne. Aber Ulrich Becher? Dieser Name lässt wohl höchstens bei Germanisten und eingefleischten Literaturkenner*innen die Glocken läuten, wie auch Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage der Murmeljagd bemerkt.

Schon einmal wagte Schöffling im Jahr 2010 eine Neuauflage dieses apokryphen Klassikers. Nun, zehn Jahre später gibt es wieder einen Versuch, Bechers Buch dem geneigten Publikum nahezubringen. Diesmal publiziert der Verlag zudem auch noch die New Yorker Novellen, die zwanzig Jahre vor der Murmeljagd entstanden. Ähnlich wie im Falle Gabriele Tergits oder Jens Rehns versucht Schöffling auch hier eine Wiederentdeckung eines Buch, das in einer gerechten Welt ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden wäre – und das bei allen Schwächen, die dem Buch auch zweifelsohne innewohnen.

Albert Trebla wird gejagt

Held von Bechers monumentalen Roman ist der Jagdflieger Albert ***, der sich in seiner Funktion als Journalist den Palindromnamen Albert Trebla zugelegt hat. Im Ersten Weltkrieg diente er als Aufklärungsflieger. Bei einem seiner Einsätze kam er einem feindlichen Flugzeug zu nahe, sodass er einen Kopfschuss kassierte. Nach einem Lazarettaufenthalt hilft ihm nur noch Ephedrin, um den oftmals pochenden Schmerz der Stirn zu betäuben.

Ulrich Becher - Murmeljagd (Cover)

Jener Trebla hat dem Krieg abgeschworen, er ist zum linken Journalisten geworden. Doch nun, zwanzig Jahre nach seinem Abschuss über den Wolken, dräut der Zweite Weltkrieg am Horizont. Die Nazis haben die Macht übernommen, Säuberungswellen und Gleichschaltung bedrohen Menschen wie Trebla. Und so entkommt er mithilfe eines waghalsigen Skimanövers über Vorarlberg in die Schweiz. Den SS-Patrouillen entgeht er nur um Haaresbreite. Dort in der Schweiz wartet seine Frau Xane auf ihn.

Da er unter dem tückischen Heufieber leidet, ist eine Tarnung kein Problem. Er zieht sich als Hotelgast zur Heufieberkur ins Engadiner Oberland zwischen Pontresina und Sils Maria zurück. Dort, in der abgeschiedenen alpenländischen Bergwelt möchte er zur Ruhe kommen. Doch damit ist es nicht weit her. Denn das Engadin wird von einer Reihe merkwürdiger Selbstmorde erschüttert. Immer ist es Trebla, der sich in unmittelbarer Nähe der Suizidanten befand. Zudem begegnet Trebla merkwürdigen Hotelgästen, die sein Misstrauen wecken. Sind es wirklich harmlose Murmeltierjäger, die im ladinischen Gebirge umhersteigen? Oder ist Trebla selbst das Murmeltier, auf das Jagd gemacht wird?

Engadiner Gestalten

Wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seiner politischen Einstellung zur unerwünschten Person und zur gejagten Figur wird, davon weiß Ulrich Becher eindrücklich zu berichten. Changierend zwischen bedrohlicher Stimmung und Komödiantentum, zwischen Tod und Kalauer durchlebt sein Trebla ein wahres Wechselbad der Gefühle. Zusammen mit seiner Frau begegnet er höchst skurrilen Gestalten, die Bechers Engadin bevölkern. Ein Cocker Spaniel-züchtender und dem Alkohol fröhlich zusprechender Landanwalt, genannt Avoccato Wau Wau. Ein ehemaliger irischer Jockey. Ein Berliner Schlossbesitzer, ein Arzt namens Dr. Pompejus Tardüser. Dieser Roman ist voller Figuren, die auf mysteriöse Art und Weise aus dem Leben scheiden oder bei denen lange nicht klar ist, was sie Trebla so wollen.

Dieser hetzt fiebrig durchs Engadin, immer mit Druck auf der Brust und der dräuenden Gefahr im Nacken. Dabei entstehen Szenen, die man nach dem Lesen nie wieder vergisst. So erzählt Becher vom brutalen Umgang der Schergen im KZ, vom Todesritt eines vormals weltbekannten Clowns in die Elektrozäune des KZ Dachaus oder dem brutalen Tod von Treblas bestem Freund, einem Wiener Arzt, durch jugendliche Nazischergen in einem Viehwaggon. Diese Bilder, die Becher in Murmeljagd zeichnet, sind von einer unfasslichen Wucht. Ihm gelingt in diesem Buch einer Meisterwerk der nuancierten Stimmungen, die von dramatischen Todesfällen bis zu schwarzem Humor reicht. Da stören auch die paar erzählerischen Volten, die das Buch beständig schlägt, nicht wirklich.

Und damit ist der wichtigste Punkt, der dieses Buch eigentlich kanonwürdig macht, noch gar nicht angesprochen. Es ist der Punkt der Sprache. Beziehungsweise der der Sprachgewalt. Denn Murmeljagd ist zuvorderst ein Sprachmeisterwerk im Guten wie im Schlechten. So ist die Erzählweise Bechers mit dem Adjektiv expressionistisch noch kaum erschlagen. Es ist ein Buch, das knallt, das explodiert, das sprüht, das fordert, oftmals auch überfordert und das zeigt, wozu Sprache im Stande ist.

Ein Meisterwerk der Sprache

Die größte Hürde dürften dabei schon die ersten Seiten sein, zumindest mir erging es so. Was da über die Seiten purzelt, könnte so manch eine*n veranlassen, das Buch wieder zuzuklappen und wegzulegen. Und das wäre ein Fehler. Denn Ulrich Becher zeigt hier über 700 Seiten, wie vielfältig Sprache ist, wie sie eine Geschichte bereichern und veredeln kann. Denn die Virtuosität des Meisterschülers von Georg Grozs ist unerhört. Eine Virtuosität, die manchmal auch nerven und überfordern kann, wie auf den ersten Seiten dieses Romans. Manchmal wirkt Becher wie ein naseweises kleines Kind, das alles zeigen will, was es kann. Da stecken Seiten voller Fix Laudon!, ausgeschriebener Ja-Jotts, Ka-Zetts und Ess Ess, die Charaktere geben sich häufig unterschiedlichste Kosenamen, sämtliche Dialekte werden ausgeschrieben, egal ob österreichisch, berlinerisch oder schweizerisch.

Dann gelingen Becher auch wieder Passagen, die man einfach nur bewundern kann, so etwa wie diese.

Der Berge Elefantengrau hatte mittlerweile einen Malventon angenommen, aber vom Berninapass herüber züngelte Homers „Rosenfinger der Frühe“. Spielten auf einem Firnzipfel Piz Palü, indes überm Rosatscheine formlose Ampel schwebte, der zur Sichel geschrumpfte Junimond verwischte hinter einer Federwolke, seit Tagen der erste überm Hochtal. Kein Kuhglockenklimpern, kein Vogelzwitschern, Verhallen zweier Schläge von der Pfarrkirche her, halb vier, eines schläfrig-heisern, fast grunzenden Hahnenschreis, der ohne Antwort blieb. Trotz des lästigen Tocketocke – ohne es wäre die Stille beispielslos geweisen – rührte ich mich nicht von der betonierten Stelle, als er herangetragen wurde, der unwirklich sachte Pfiff.

Becher, Ulrich: Murmeljagd, S. 581

In einer Zeit, in der viele Bücher in einer uniformen und austauschbaren Sprache geschrieben scheinen, ist Murmeljagd ein Buch, das zeigt, wie das auch aussehen könnte, mit spannender Sprache. Die Vielfalt, die in diesem Buch steckt, ergäbe genug Material für ein ganzes dutzend spannender Forschungsprojekte (an dieser Stelle sei auch auf das mehr als hilfreiche Online-Projekt zur Murmeljagd von Dieter Häner hingewiesen).

Neugier und Wille zu Bechers Stil ist vonnöten

Natürlich ist Ulrich Bechers Buch eines, das viele Leser*innen überfordern dürfte. So etwas wie Entspannung und Zerstreuung findet sich hier nicht, zu fordernd ist der Stil, zu düster das Thema. Auch erklärt sich so der Status des Buchs, den die Murmeljagd bis heute besitzt.

Wer sich aber auf dieses Wagnis der Jagd einlässt, bekommt es mit einem der außergewöhnlichsten Bücher der jüngeren deutschen Literatur zu tun. Und nicht zuletzt ist auch die Figur des Ulrich Bechers auch eine hochgradig faszinierende. Schließlich zählt er zur Garde der Exilautoren, er war der jüngste Schriftsteller, dessen Werke von den Nazis 1933 verbrannt wurden. Sein Leben und sein heute fast vergessenes Werk verdienten auf alle Fälle einer Wiederentdeckung.

Schön dass Schöffling nun noch einmal von Eva Menasse sekundiert einen Versuch für dieses Werk startet. Denn die Murmeljagd hat es verdient. Hier gilt auf alle Fälle: wer wagt, der gewinnt. Sieht auch die geschätzte Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze so.

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Familie, Tod & Hirschgulasch

Sebastian Stuertz – Das eiserne Herz des Charlie Berg

Dass man ein Herz nicht reparieren kann, das wusste schon Udo Lindenberg. Dass man mit seinem schwachen Herzen mehrfach sterben kann, es aber trotzdem irgendwie weitergeht, das erfährt Charlie Berg in Sebastian Stuertz´ Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Ein skurriler Roman über Familie, den Tod, das Verlieben, die Kraft des Waldes, die Literatur und nicht zu vergessen: das Hirschgulasch.


Sebastian Stuertz, Jahrgang 1974, und lebt und arbeitet in Hamburg. Zu den Feldern, auf denen sich der umtriebige Künstler tummelt, gehören Filmanimationen wie etwa beim Tatort, ein Podcast übers Schreiben und die Komposition von Musik. Mit Das eiserne Herz des Charlie Berg liegt nun sein Debütroman vor, der mit über 700 Seiten Laufzeit eines der dickleibigsten Debüts des Bücherfrühlings 2020 geworden ist.

Sebastian Stuertz - Das eiserne Herz des Charlie Berg (Cover)

Im Roman erzählt er, hin- und herspringend zwischen den 80ern und dem Jahr 1993 die Geschichte von Charlie Berg und dessen Familie. Diese besteht durchweg aus Figuren, die selbst Wes Anderson für einen Film wahrscheinlich zu verrückt erschienen wären. Da ist Charlies Vater Dito, ein dauerkiffender und lebensunfähiger Musiker, der im Keller des Hauses der Familie haust und mit einem Freund das sogenannte Toytonic Swing Ensemble bildet. Charlies Mutter hingegen glänzt mit Abwesenheit.

Rita del Monte ist Künstlerin, deren Arbeiten wie etwa Hitlers Nutten bitten zum Tanz handfeste Skandale auslöste. Einigermaßen normal erscheinen da schon Charlies Großeltern, nämlich der Wildhüter August Bardo Kratzer und seine Frau. Er passionierter Jäger mit Nazi-Vergangenheit, sie Beschützerin Charlies und Köchin des legendären Hirschgulaschs, das stets bei Familienzusammenkünften kredenzt wird.

Um dieses Ensemble herum gruppieren sich noch etliche weitere Figuren, deren Lebensgeschichte Stuertz im Lauf des Buchs näher beleuchtet. Als da wären eine völlig durchgeknallte Ärztin namens Dr. Helsinki, Charlies Fast-Freundin Mayra, mit der sich Charlie per Videokassetten austauscht, oder sein ehemaliger Deutschlehrer, ein miesepetriger Pädagoge mit Spitznamen Kafka.

Skurrile Figuren, skurrile Handlung

Den Tonfall von Das eiserne Herz des Charlie Berg setzt schon die Eröffnungsszene, die an Tragik und Slapstick kaum zu überbieten ist. Charlie begibt sich in dieser mit seinem Großvater auf die Jagd nach einem Hirsch, einem echten Kaventsmann. Doch mit dem Schießen und Töten hatte Charlie schon immer seine Probleme. So schießt er absichtlich daneben, als er auf den Hirsch zielt. Der Hirsch stirbt trotzdem – denn zeitgleich hatte ein Wilderer aus dem Dickicht auf das Tier gefeuert. Charlies Kugel trifft nun den Wilderer – der wiederum Charlies Opa erschießt. Auftakt zu einer Reihe betrüblicher Ereignisse. Denn als die Polizei wenig später naht, ist die Leiche des Großvaters verschwunden. Und Charlie muss mit allen Mitteln sein Mitwirken an den Todesfällen vertuschen.

Das ist alles andere als leicht, wenn dann auch noch die Ex-Freundin plötzlich wieder auftaucht. Und Mayra, die Videokassetten-Freundin, in die Charlie verliebt ist, beschließt in Mexiko einen Gangster zu heiraten. Und dann ist da auch die feine Nase von Charlie, die ihn zu einem Bruder von Jean-Baptiste Grenouille machen könnte. Diese beschert ihm nicht immer nur Glück, vor allem wenn er diese diese in die falschen Dinge steckt. Denn eines ist Charlie auch angeboren: sein Talent, sich in Schwierigkeiten zu bringen und die Angelegenheiten um ihn herum zu verkomplizieren.

Die vielen Themen des Charlie Berg

Als wäre das Lügengebäude, in dem ich seit Opas Tod Unterschlupf gefunden hatte, nicht schon baufällig genug. Mein ganzes Leben verwandelte sich allmählich in eine notdürftig kaschierte Lüge. Nonno war kein Italiener, meine Wehrdiensttauglichkeit hatte ich mir mit Hilfe einer Urkundenfälschung ermogelt, beim Jagen ohne Jagdschein hatte ich einen Mann lebensgefährlich verletzt, besaß Geld, das ihm gehörte, und plante, damit meinen Patenonkel freizukaufen, einen vom Goethe-Institut geförderten Marihuanakonsumenten, der es für eine gute Idee gehalten hatte, Drogen aus Thailand nach Deutschland zu schmuggeln.

Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg, S. 304

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein Buch, das vielen Fragen nachgeht. Die Frage nach dem Schreiben und schrifstellerische Selbstbehauptung. Pubertät und Mannwerdung. Die Frage, was Familien im Innersten zusammenhält. Die Liebe, aber auch die Komplexität, die daraus erwachsen kann. Auch die Gattungsfrage ist ebenso vielfältig: ist das Buch nun ein Familienroman? Ein Künstlerroman? Coming of Age? Irgendwie vereint das Buch all diese unterschiedlichen Facetten.

Seine Themen behandelt Sebastian Stuertz aber nie so, dass es den Lektürefluss hemmen würde. Vielmehr ist dieses Buch trotz der Vielzahl an Seiten flott erzählt und weist einen locker-schwingenden, manchmal auch etwas schnodderig bis flamboyanten Erzählton auf. Immer wieder springt Stuertz von der erzählten Gegenwart im Jahr 1993 zurück in die Kindheit und Pubertät Charlie Bergs in den 80er Jahren. Dabei setzt er auf viele Kapitel, die schon mal Titel wie The Forsthaus Chronicles, Hirschgulasch zu Zweit oder Palim Palim tragen.

Fazit

Das eiserne Herz des Charlie Berg ist ein großartiger Roman. Großartig, weil er seine Figuren trotz aller Überzeichnung und Karikatur ernst nimmt und die Gefahren der Pubertät nicht verkennt. Auch wenn man für mein Empfinden auf Szenen wie die mit der Bockwurst oder die der Zoophilie mit Pferd verzichten hätte können, ohne die Qualität des Buchs zu mindern: Charlie Bergs Geschichte reißt mit, berührt, unterhält und bringt einen humorvollen Ton in die aktuelle Literaturwelt, den diese gut gebrauchen kann. In meinen Augen ein wunderbares Leseerlebnis!


  • Stuertz, Sebastian: Das eiserne Herz des Charlie Berg (btb-Verlag)
  • Hardcover mit Schutzumschlag, 720 Seiten
  • ISBN: 978-3-442-75851-7
  • Preis: 22,00 €
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Joost Zwagerman – Duell

Es gibt so Bücher, da liest man die Plotidee und ist schon überzeugt. Joost Zwagermans Novelle Duell ist genau solch ein Fall. Ursprünglich im Weidle-Verlag erschienen, liegt nun die Taschenbuchausgabe dieses nicht einmal 150 Seiten starken Buchs im Piper-Verlag vor. Ergänzt wird das Buch um ein Nachwort des Übersetzers Gregor Seferens.

Joost Zwagerman - Duell (Cover)

Im Original 2010 erschienen, erzählt das Buch die Geschichte Jelmer Verhoofs. Jener gilt als Shootingstar unter den Kunstkuratoren, stets umgibt ihn ein jugendlicher Esprit. Doch nun soll das von ihm verwaltete Holland Museum die Pforten schließen, ein Umbau steht ins Haus. DIE Möglichkeit also für eine spektakuläre Derniere in seinem Haus.

Verhoff beschließt, unter dem Ausstellungstitel Duel junge zeitgenössische niederländische Künstler*innen in einen Dialog mit den angestammten Meisterwerken seines Hauses treten zu lassen. Diese Chance eröffnet sich auch der jungen Emma Duiker, die die Chance zu einem Coup nutzt. Sie kopiert 1:1 das Gemälde Untiteld No. 18 von Mark Rothko. Doch einige Zeit nach dem Ende der Ausstellung wird Verhoof von einem seiner Restauratoren darauf aufmerksam gemacht, dass sich im Depot des Museums nunmehr offenbar die Kopie des Rothko-Bildes befindet. Verhoof stellt die junge Künstlerin zur Rede und erfährt von ihrem unglaublichen Plan, den sie rund um das Rothko-Gemälde ersonnen hat.

Was ist Kunst?

Das ist die zentrale Frage, um die sich Duell dreht. Mit seiner Versuchsanordnung schafft es Joost Zwagerman, die Leser mit dieser Frage zu konfrontieren, ohne dass es zu theorielastig wird. Zwar hat Zwagerman einen Hintergrund als Kunstkritiker und Sachverständiger, das drängt bei dieser Novelle aber dankenswerterweise nie in den Vordergrund. Stattdessen gelingt ihm mit diesem Büchlein ein kurzweiliges Abenteuer, das von Amsterdam bis nach Ljubljana führt, und das auf vielen Ebenen unterhält und anregt.

Man kann dieses Buch natürlich nur als unterhaltsame Komödie mit feinem Humor lesen. Genauso kann man aber in Duell auch eine Parabel auf den modernen Kunstbetrieb finden. Nicht umsonst ist ein Werk, auf das im Lauf des Buchs immer wieder Bezug genommen wird, der Essay The End of Arts as we know it eines fiktiven Kunsthistorikers. Die zentralen Fragen daraus greift Zwagerman mit seiner Geschichte von Zeit zu Zeit auf:

Wenn man ein Gemälde 1:1 kopiert und dann so austauscht, dass sogar den Experten der Tausch erst nach langer Dauer auffällt – welches der beiden Werke ist dann das wirkliche Kunstwerk? Wie bemisst sich der Wert eines modernen Gemäldes? Sind Kunstinstallationen gemalten Werken ebenbürtig? Duell öffnet den Raum für spannende Fragen, die natürlich ein jeder und eine jede anders beantworten wird. Eben das ist ja Kunst – die verschiedenen Blickwinkel auf ein und dasselbe Werk. Auch Zwagerman gelingt das mit seiner schmalen Novelle, weswegen das Buch in meinen Augen auf alle Fälle ein Kunstwerk ist (wenngleich die Entscheidung für die alte Rechtschreibung etwas irritiert).

Umso trauriger, dass der Künstler Joost Zwagermann nicht mehr unter uns weilt. Er nahm sich nach einer schweren Depression im Jahr 2015 selbst das Leben. Er hinterlässt ein vielfältiges Werk, das bei uns wieder oder erst noch zu entdecken ist. Die nächste Gelegenheit bietet der Weidle-Verlag, der nun Zwagermans Gimmick veröffentlich hat, das dem Holländer 1989 seinen Durchbruch bescherte.


  • Joost Zwagerman – Duell
  • Übersetzt von: Gregor Seferens
  • € 10,00 [D], € 10,30 [A]
  • Erschienen am 04.12.2018
  • 160 Seiten, Broschur
  • ISBN: 978-3-492-31355-1
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