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Kann man ein Herz reparieren?

Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson

Ist ein Leben ohne Schmerz ein erstrebenswertes? Die österreichische Autorin Valerie Fritsch in „Herzklappen von Johnson & Johnson“ über das Verbindende von Generationen, Muttergefühle und ein Kind, das keinen Schmerz kennt.


Dass ein Indianer keinen Schmerz kennt, das wird besonders Jungen zuweilen immer noch eingeimpft. Doch was ist, wenn ein Junge tatsächlich keinen Schmerz kennt? Wenn er sich beim Schaukeln einen Arm bricht, und es nicht merkt? Wenn er stundenlang in der Sonne tobt, den schmerzhaften Sonnenbrand aber nicht fühlt? Oder wenn er einem Zauberkunststück gleich seinen Körper verstümmelt, um andere zu beeindrucken? Was macht das mit dem Kind, und was mit seinen Eltern?

Valerie Fritsch - Herzklappen von Johnson & Johnson (Cover)

Valerie Fritsch hat darüber einen zugleich zarten und doch mit rauschhafter Sprache ausgestatteten Roman geschrieben. Er rückt drei unterschiedliche Generationen in den Mittelpunkt. Da sind zunächst die Großeltern Almas. Er Soldat, der im Zweiten Weltkrieg die Hölle Stalingrads geschaut hat, Sie eine mondäne Erscheinung. Gottesgläubig, nicht-fürchtig, wie es im Roman heißt. Die Vergangenheit hat die beiden nie wirklich losgelassen, zu präsent sind die Schrecken des Erlebten zu Zeiten des Dritten Reichs.

Es sind die titelgebenden Herzklappen von Johnson & Johnson, die dem Großvater das Weiterleben ermöglichen. Die Grauen des Kriegs und die Folgen haben das Herz angegriffen. Nur die mechanischen Herzklappen halten das Herz am Laufen und ermöglichen so das Überleben des Großvaters. Manchmal kann man ein Herz eben doch reparieren.

Misstrauen gegenüber dem eigenen Körper

Das Misstrauem gegenüber dem eigenen Körper, es ist auch drei Generationen weiter wieder ein Thema. Denn als Alma Emil zur Welt bringt, stellt er sich schnell als schmerzunempfindlich heraus. Eine große Herausforderung für Alma, ihren Mann Friedrich und die gesamte Familie. Nach einer Stunde Spiel ruft Alma Emil zu sich, tastet ihn auf eventuelle Frakturen oder anderweitige Verletzungen ab. Denn Emil selbst bemerkt diese nicht. So musste er zeitweise sogar eine Taucherbrille tragen, um sich nachts nicht aus Versehen selbst die Augen auszureiben. Eine Herausforderung, der sich Alma stellen muss.

Wenn Alma mit Emil bei den Großeltern zu Besuch war, schien der Schmerzkosmos der einen mit jenem der Schmerzlosigkeit des anderen auf wunderliche Art und Weise zu kollidieren. Der Bub stürmte durch die Erstarrtheit des Hauses, rannte durch den Korridor der alten Dinge, als wäre er auf einer Zeitreise in die Vergangenheit, und nichts tat ihm weh. Die jahrelange Leidens- und Verfallsgeschichte der Alten mit dem kindlichen Unverständnis für jedes Leid auszusöhnen war keine leichte Aufgabe. Ständig musste Alma ihren Sohn zur Vorsicht anleiten, damit er nicht zu grob war mit der alten Frau, und oft musste sie der Großmutter erklären, dass die Abwesenheit des Schmerzes kein Segen war, auch wenn die sich an schlechten Tagen nichts mehr als das wünschte. Die Alten und ihr jünster Nachfahr waren Antipoden, die Gegengestalten der Familiengeschichte, der eine die Folge der anderen. Der Großbater und Emil standen sich gegenüber als Spiegelfigur der Zeit, mit einem jungen und einem alten Gesicht, voller Ersatzteile innen drin, Schrauben, die sie zusammenhielten, und einem falschen Herzen.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 125 f.

Ein Fest der Sprache und der originellen Bilder

Hier in diesem Ausschnitt zeigt sich schon die wahre Stärke des Romans. Diese besteht nicht in ihrer Geschichte, denn die geschilderten Schicksale etwa von Almas Großeltern kennt wohl jeder aus der eigenen Familie oder aus dem erweiterten Umfeld. Und auch Emils Schicksal wird, abgesehen von der außergewöhnlichen Krankheit, nicht wirklich tief ausgelotet. Selbst die Reise der Familie am Ende des Romans wirkt nur hingetupft. Vielmehr ist der herausragende Aspekt dieses Buchs die Sprache.

Wie es Valerie Fritsch gelingt, die Leben und Schicksale in eine wortmächtige Prosa zu kleiden, das ist große Kunst. Hinter jeder Ecke der Geschichte lauert eine originelle Formulierung oder Metapher. Stets gelingt es ihr, auch abgenutzte Bilder oder Abläufe neu zu betrachten oder durch ihre Sichtweise neue Aspekte zu vermitteln. Sätze wie dieser sind es, die die Klasse von Herzklappen von Johnson & Johnson begründen:

Mit jedem Jahr, das sie älter wurde, erschien sie mehr auf der Welt. Mit jedem Jahr wurde sie sichtbarer auf ihr, wuchs in die eigenen Formen, nahm ihren Platz ein, hineingeboren ins Fragen und in die Lücke, die auf der Welt war, bevor ein Mensch sie füllte.

Fritsch, Valerie: Herzklappen von Johnson & Johnson, S. 9

Hier schreibt eine Autorin mit einem genauen Blick auf die Welt und einer eigenen Sichtweise, die sie auch in Worte überführen kann. Wenn man wie im meinen Falle dieses schwer greifbare Wort Literatur mit Sprachgefühl, ästhetischer Empfindsamkeit, Präzision und kreativer Wortmacht definiert, dann kann man gar nicht anders als Herzklappen für Johnson & Johnson als große Literatur zu rühmen. Valerie Fritsch ist eine ganz eigene Sprachkünstlerin und dieses Buch belegt das nach Winters Garten einmal mehr.

Ähnlich sehen das im Übrigen auch Marina Büttner, Anne Fuxbooks und Tobias vom Buchrevier.


  • Valerie Fritsch – Herzklappen von Johnson & Johnson
  • ISBN: 978-3-518-42917-4, Suhrkamp-Verlag
  • Gebunden, 174 Seiten
  • Preis: 22,00 €
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Christopher Wilson – Guten Morgen, Genosse Elefant

Um diesen Roman zu kritisieren, möchte ich auf ein Zitat von Philipp Tingler aus dem Literarischen Quartett zurückgreifen. Zwar bezieht es sich auf ein anderes Buch, aber auch für Christopher Wilsons deutschsprachiges Debüt passt es ganz hervorragend (wenn nicht gar nicht gar sogar noch besser, als zu Prawda, über das sich Tingler damals dergestalt äußerte):

Dieses Buch ist wie ein alter, an Hospitalismus leidender Elefant in einem Zoo: Das schwankt nach links, nach rechts und dann kollabiert es mit debilem Grinsen.

Dieses Gefühl beschlich mich auch bei der Lektüre von Wilsons Guten Morgen, Genosse Elefant (im englischen Original deutlich besser: The Zoo, Übersetzung durch Bernhard Robben).

Immer wieder drängte sich mir der Eindruck auf, dass Wilson selbst nicht so wirklich weiß, was er hier erzählen will. Seine Erzählung der letzten Tage Stalins und dem Jungen Juri, der zum Vorkoster des Stählernen wird, ist so unentschieden wie ihre Hauptfigur.

Denn dieser Juri ist eigentlich ein reiner Tor. Als Kind vom Blitz getroffen, von Straßenbahnen und Wagen überrollt ist er ein Stehaufmännchen. Seine Mitmenschen versteht er nicht immer, schwankt irgendwo zwischen Asperger und Autismus und wird von seiner Umwelt meist als Idiot und Mobbingopfer abgestempelt. Allerdings verfügt er über ein stets lächelndes und ehrliches Gesicht, das seinen Mitmenschen in kürzester Zeit intime Geständnisse entlockt. Ein eigenständiges Leben ist für Juri Zipit allerdings nicht möglich, weswegen er seinem Vater, der als Zooveterinär seinen Dienst versieht, zur Hand geht und von diesem betreut wird. Dort im Zoo erwirbt sich Juri Kenntnisse, die ihm dann auch im Umgang mit Stalin und seinen Hofschranzen nützlich sein werden.

Er tätschelt meinen Kopf. „Armes Kind“, stellt er fest. „Was fangen wir nur mit dir an? Du siehst alles, aber du verstehst nichts.“

Wilson, Christopher: Guten Morgen, Genosse Elefant, S. 192

Immer wieder blitzen in der Erzählung gute Momente auf, treffende Beobachtungen oder Zuspitzungen, die den Geist des Stalinismus gut einfangen oder zeigen, welch Geistes Kind dieser Juri ist.

Um das Eis zu brechen, wird erst einmal Rate-die-Temperatur gespielt. Der Wodsch hält ein Quecksilberthermometer hoch, und alle müssen ihre Einschätzung abgeben.

Kruschka verfehlt die richtige Temperatur um sechs Grad und muss folglich sechs Gläser Wodka trinken, Bruhah irrt sich um zwei Grad, muss also zwei Schnäpse trinken.

Bulgirow errät die exakte Temperatur, und weil er offensichtlich auf Schlaumeier macht und den Neunmalklugen gibt, muss er zur Strafe sieben Gläser trinken, um dann auf Händen und Knien rund um den Tisch zu krabbeln und dabei wie ein Esel zu schreien.

Wilson, Christopher: Guten Morgen, Genosse Elefant, S. 125

Unentschiedenes Erzählen

Insgesamt reicht das aber nicht, um aus Guten Morgen, Genosse Elefant ein Buch zu machen, das mich überzeugt hätte. Immer wieder wechselt Wilson seine Erzählperspektive vom Einfaltspinsel Juri hin zu einem auktorialen Erzähler, der uns beispielsweise den Todeskampf Stalins und seine ärztliche Behandlung näher bringt. Das ist genauso unentschlossen wie der Erzählton seines Romans. Dieser schwankt auf erstaunlicher Breite von komödiantischer Satire bis hin zur ungefilterten Beschreibung des Leids, welches Stalin und seine Clique über ihr Volk brachten. Und das obwohl Christopher Wilson eigentlich zur Psychologie des Humors Forschung getrieben hat – in sein Werk sind diese Erkenntnisse für mein Empfinden nicht eingeflossen.

Hier überzeugt leider nur sehr wenig – eben wie ein Elefant, der ständig hin und  herschwankt, ohne sich für eine Richtung entscheiden zu können.

Ein Verweis an dieser Stelle sei noch zum inhaltlich fast identisch gelagerten Film The Death of Stalin erlaubt. Dieser verursachte in Russland Tumulte und wurde dann offiziell verboten. Ob das Christopher Wilsons Buch auch bevorstehen könnte? Möglich wäre es natürlich, aber insgesamt halte ich das Buch für zu belanglos, als dass es solche Kreise ziehen könnte.

Filmtrailer: The death of Stalin
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George Saunders – Lincoln im Bardo

Gibt es ein Leben nach dem Tod? Und wenn ja – wie sieht es aus? George Saunders versucht sich in Lincoln im Bardo an einer Antwort.

Die Art und Weise, wie er dies tut, ist sowohl in inhaltlicher als auch in formaler Form mehr als außergewöhnlich. Die Grundhandlung von Lincoln im Bardo ist schnell umrissen. Willie Lincoln, der 11-jährige Sohn von Präsident Abraham Lincoln, ist verstorben. Der Vater trauert um seinen Sohn und zieht sich mehrmals in die Familiengruft zurück, wo sein Sohn aufgebahrt ist. Bei diesen Besuchen verbinden sich Diesseits und Jenseits – oder wie es in der Lehre des Yogas heißt: das Bardo (tibetanisch für Zwischenzustand) wird zum zentralen Handlungsort. In diesem verharren der amerikanische Präsident und sein Sohn – und mit ihm eine Vielzahl an weiteren Seelen, irgendwo in diesem nebulösen Reich, das wir Jenseits nennen.

Saunders braucht nicht viele Seiten, um den Leser erstmals stutzen und staunen zu lassen (sein Übersetzer Frank Heibert spricht hier auch vom Saunder’schen wtf-Moment). Denn anstelle eines gewöhnlichen Erzählers und einer linearen Handlung ist Lincoln im Bardo ganz anders. Saunders Buch ist ein polyphoner Chor des Jenseits und der Augenzeugen. In teils nur wenigen Wortfetzen erzählen abwechselnd Zeitzeugen Lincolns und Bardo-Bewohner von den Geschehnissen nach dem Tod des Jungen. Der Leser muss sich aus diesen Dialogen und den verschiedenen Sprecher*innen die Handlung selbst zusammenreimen und interpretieren.

Das ist herausfordernd, manchmal anstrengend, aber eben auch sehr originell und innovativ. Denn Saunders gelingt es, losgelöst vom Text, die gängigen Vorstellungen des Jenseits zu hinterfragen. Wie ist das Sterben? Und gibt es Regeln, wie das Leben nach dem Tod funktioniert? Lincoln im Bardo ist da funkensprühend kreativ – wohl auch einer der Gründe, warum das Buch letztes Jahr mit dem National Book Award ausgezeichnet wurde.

Dieses Buch könnte man sich ebenso gut als Hörspiel-Adaption oder auf einer Bühne vorstellen, so ist es inszeniert und geschrieben. Gerade in den kommentierenden zentralen drei Gestalten im Bardo glaubt man sich des Öfteren in einem Shakespeare-Stück, so vielfältig ist auch die Sprache und die Figurenzeichnung. Dass dies im Deutschen so gut funktioniert, dafür zeichnet sich Frank Heibert verantwortlich. Dieser übertrug dieses herausfordernde Werk wunderbar eigenständig ins Deutsche und verschaffte allen Sprechenden eine eigene Sprache und darüber hinaus einen eigenen Charakter. Man kann vor seiner Übersetzerleistung nur den Hut ziehen.

In diesem Buch zeigt sich einmal mehr, wie hervorragend sich Dichtung und Übertragung vereinen. Ein außergewöhnliches, ein forderndes Buch, das unser Bild vom Jenseits um eine lesenswerte Facette bereichert!

 

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Elena Ferrante – Die Geschichte der getrennten Wege

Die Geschichte der beiden neapolitanischen Freundinnen Lila und Elena geht weiter. Nachdem zunächst die Kindheit und dann die Jugend im Mittelpunkt der Romane standen (Meine geniale Freundin und dann Die Geschichte eines neuen Namens), widmet sich Elena Ferrante nun den erwachsenen Jahren der beiden Freundinnen.

Dabei trennen sich die Wege der beiden Freundinnen recht bald, wie schon der Titel andeutet. Im Vorgängerband zog es Elena zum Studium nach Pisa, wodurch sie sich ihrer Familie und dem dumpfen und gewaltgesättigten Milieu Neapels entzog. Auch nach ihrem Studium bleibt sie Neapel fern, denn sie beschließt zu heiraten. Pietro Airota lernte sie im Zuge des Studiums kennen – nun stehen Verlobung und Heirat bevor.

Lenùs geniale Freundin Lila hingegen bleibt im Rione wohnen und zieht ihr Kind groß. Die Hoffnung auf ein Studium musste sie bereits Jahre zuvor begraben, nun wohnt sie weiterhin am Ort ihrer Kindheit. Ihr täglich Brot verdient sie in der Wurstfabrik von Bruno Soccavo, wo sie sich zahlreichen Schikanen ausgesetzt sieht. Die Freundschaft zu Lena bleibt dabei auch ein Stück weit auf der Strecke – ganz aus den Augen verlieren sich die beiden hingegen nie, wie Elena Ferrante in diesem dritten Teil der Reihe zeigt.

Viel Zeitkolorit

Neben der Freundschaft ist in diesem Roman des Quartetts der zeithistorische Kontext besonders ausgeprägt. Die Kämpfe der Faschisten gegen die Kommunisten, die Studentenrevolten und die vielen wechselhaften Entwicklungen in der Italienischen (und auch europäischen) Geschichte sind hier so präsent wie nie zuvor. Dies ist angenehm, da diese Elemente Abwechslung und Spannung ins Geschehen bringen – etwas, das der Geschichte sonst schmerzlich fehlt.

Im Rione Neapels

Ließ schon Die Geschichte eines neuen Names viel Entwicklung und Dynamik vermissen, so setzt sich das bei Die Geschichte der getrennten Wege fort. Elena Ferrante schildert minutiös die Entwicklungen ihrer beider Hauptcharaktere, und vergisst darüber den Spannungsbogen ihrer Erzählung, der oftmals bedenklich durchhängt. Statt Esprit herrscht so leider so manches Mal Langeweile vor, gerade wenn Ferrante die monotone Arbeit Lilas schildert oder das Hausfrauendasein Lenùs zu ausführlich beschreibt. Das ist besonders schade, da die Erzählung wirklich Potential besitzt, dieses aber zu oft nicht abgerufen wird.

Die Emanzipationsgeschichte der beiden Freundinnen und ihre Freundschaft wäre mit ein paar Straffungen und dem Verzicht auf redundante Szenen deutlich kompakter und lesbarer ausgefallen, so aber bleibt eine etwas kleinteilige und zähe Episode dieses Quartetts, so mein Eindruck. Hoffnung bleibt mir auf den abschließenden Teil der Reihe (der ebenfalls wieder wie alle Bücher von Karin Krieger übersetzt werden wird). Die Geschichte des verlorenen Kindes soll im Februar 2018 erscheinen und die Geschichte, die nun abermals mit einem Cliffhanger endet, zu Ende führen. Seien wir gespannt!

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Klaus Cäsar Zehrer – Das Genie

„Meine Güte, was für ein Leben.“, fasste Martha zusammen. „Der reinste Irrsinn“

Zehrer, Klaus Cäsar: Das Genie, S. 480

Das ist es tatsächlich, das Leben von William James Sidis. Dieses Leben beschreibt der 49-jährige Romancier Klaus Cäsar Zehrer in seinem Debüt Das Genie, das sich um jenen genialen Sidis dreht, der heute schon vergessen ist, hier aber ein Denkmal erhält.

Bis das titelgebende Genie das Licht der Welt erblickt, vergehen allerdings 150 Seiten. Auf diesen Seiten wird nämlich zunächst Boris Sidis vorgestellt, ein ukranischen Immigrant, der 1886 aus seiner osteuropäischen Heimat in Richtung Amerika flieht. Dort lebt er den amerikanischen Traum, stößt mit seinem völligen Fehlen von zwischenmenschlichem Geschick aber auch schnell alle Menschen seines Umfelds vor den Kopf . Kein Arbeitgeber will diesen starrköpfigen Mann lange beschäftigen, der sich zwar als hochintelligent erweist, es sich aber über kurz oder lang mit sämtlichen Chefs verscherzt.

Jener Boris Sidis findet im Forschungsgebiet der Psychologie schließlich ein Thema und in der Universität von Harvard ein Zuhause, das ihm die besten Möglichkeiten bietet, um den menschlichen Geist zu erforschen. Nach den 150 Seiten ist Boris nun Vater von William James Sidis geworden, einem Jungen, der zum Versuchsobjekt der Studien seines Vaters wird. Denn mit der von ihm ersonnenen Sidis-Methode kann jedes Kind zum Genie werden, so Boris. Und die Erfolge lassen tatsächlich nicht lange auf sich warten. In Rekordzeit erlernt Willam lesen, schreiben, Logik, Fremdsprachen und hält mit elf Jahren Vorlesungen in Harvard.

Vom Auf und Ab im Leben des James William Sidis

James William Sidis (Quelle: The Sidis Archive)

Doch mit zunehmenden Alter zeigt die Parabelkurve von Williams Leben wieder nach unten und man wird Zeuge, wie sich die Vorstellungen seiner Eltern und William selbst voneinander fortbewegen. Gerade die erste Hälfte des Romans ist noch recht unbeschwert, humorig und typisch Diogenes-rund, ehe dann im zweiten Teil aus der vergnüglichen Geschichte ein zunehmend desillusioniertes Porträt eines Mannes wird, den man obschon seiner Genialität bemitleidet.

Natürlich bietet Williams Leben in der Kindheit die Vorlage für viele Schrullen, die Beschreibungen seiner skurrilen Verhaltensweisen ist voller Komik. Doch immer wieder webt Zehrer Gedanken ein, die viel Raum für Reflektionen bieten. Wie viel Förderung und wie viel Forderung des eigenen Nachwuchses sind gut? Wie wichtig sollte Bildung sein – und was macht eine gelungene Kindheit aus?

All diese Gedanken und Beschreibungen machen Das Genie zu einem interessanten Leseerlebnis und wecken Interesse für dieses wahrlich kuriose Leben. Wer darüber noch mehr lesen möchte, dem sei dann an dieser Stelle noch Morten Brasks vor Kurzem erschienene Titel Das perfekte Leben des William Sidis empfohlen.

Eine weitere kleine Ergänzung auch noch an dieser Stelle: zusammen mit den Titeln Das Floß der Medusa von Franzobel und Justizpalast von Petra Morsbach ist das Buch nominiert für den Bayerischen Buchpreis 2017. Herzlichen Glückwunsch hierzu!

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