Tag Archives: Ostdeutschland

Annett Gröschner – Schwebende Lasten

Blumenbinderin, Ehefrau, Kranführerin, Mutter, Überlebende. In ihrem Roman Schwebende Lasten setzt die Autorin Annett Gröschner ihrer Heldin Hanna Krause ein literarisches Denkmal und erzählt berührend von einem Leben, in dem sich die Brüche und Systemwechsel der Nachkriegszeit ebenso ablesen lassen, wie das Buch auch Zeugnis von weiblicher Überlebenskraft und Anpassungsfähigkeit ablegt. Großartige Lektüre!


Es könnte schiefgehen, wenn ein Roman mit einem Epitaph beginnt, der eigentlich schon alles vorwegnimmt, was da auf den kommenden 280 Seiten auf die Leser*innen wartet.

Dies ist die Geschichte der Blumenbinderin und Kranfahrerin Hanna Krause, die zwei Revolutionen, zwei Diktaturen, einen Aufstand, zwei Weltkriege und zwei Niederlagen, zwei Demokratien, den Kaiser und andere Führer, gute und schlechte Zeiten erlebt hat, die bis auf ein paar Monate im Berlin der frühen 1930er Jahre nie aus Magdeburg herauskam, sechs Kinder geboren hat und zwei davon nicht begraben konnte, was ihr naheging bis zum Lebensende.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 7

Was soll da noch kommen, wenn die ersten Zeilen gleich die ganze Geschichte verraten und den biographischen Rahmen abstecken, der die Leser*innen im Folgenden erwartet? Ein herausragendes Leseerlebnis, mit dem Annett Gröschner demonstriert, was lebendiges Erzählen ausmacht, das weit über einen biographischen Rahmen hinausweist. Denn sie verleiht der Lebenserzählung ihrer Heldin Hanna Krause Anschaulichkeit und Tiefe, wie man sie wirklich nicht alle Tage findet.

Das große Leben der Hanna Krause

Annett Gröschner - Schwebende Lasten (Cover)

So folgt sie chronologisch dem Leben Hanna Krauses, die kurz vor dem Kriegsbeginn des Großen Krieges, der später der Erste Weltkrieg heißen sollte, zur Welt kommt. Vaterlos wächst sie im „Knattergebirge“ genannten Armenviertel Magdeburgs im Schatten der Johanniskirche auf. Als Blumenbinderin unterstützt sie ihre Halbschwester Rose, lernt später ihren künftigen Mann Karl kennen und macht sich als Blumenbinderin mit eigenem Laden dort im Knattergebirge selbstständig. Blumig oder farbenreich ist in ihrem Leben allerdings höchstens die Auslage in ihrem Laden. Denn das Leben dort in Magdeburg bedeutet ärmliche Verhältnisse, bei denen immer wieder Hannas Geschick und Findigkeit vonnöten ist, wenn sich mal wieder die Geldsorgen häufen oder sich schon bald die ersten Kinder im Leben der jungen Frau einstellen.

Schwebende Lasten ist das beeindruckende Bild von weiblichem Anpassungswillen und Überlebenskraft, die Hanna an den Tag legt, um ihre Familie um Karl und ihre Kinder zusammenzuhalten. Schon beginnt der Zweite Weltkrieg, der die Armut der Familie noch einmal potenzieren wird. Verluste ihrer Kinder im Zuge der Luftschläge der Alliierte, das Ausgebombt-Werden mit ihren kleinen Kindern, das Hamstern und Überleben der vom Historiker Harald Jähner „Wolfszeit“ getauften Periode, die ständige Not, die Hanna aber nicht brechen kann, davon erzählt Annett Gröschner plausibel und greifbar.

En passant erzählt dieser Roman auch die großen geschichtlichen und gesellschaftlichen Brüche des 19. Jahrhunderts mit, die immer wieder auf Hannas Leben durchschlagen.

Politische und gesellschaftliche Brüche

So fordert der Zweite Weltkrieg einen hohen Preis von ihr, ihre beständig wachsende Familie muss dramatische Verluste hinnehmen. Später wird sie im sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaat der DDR entgegen aller Widerstände zu einer Kranführerin, die mit ihrem Kran scheinbar schwebend die schweren Lasten passgenau durch die Maschinenhalle manövriert, obschon Misogynie und Ungleichbehandlung auch dort zum Alltag gehören, ehe sich Hanna auch hier ihren Platz erobert.

In der Nacht bevor Hanna das erste Mal auf den Kran stieg, schlief sie schlecht. Sie hatte Höhenangst, aber das konnte sie nicht zugeben. Sie wollte nicht mimosenhaft sein, auch wenn sie Mimosen mochte. Die Blumen ähnelten ihr, denn sie waren nur scheinbar empfindlich.

Annett Gröschner – Schwebende Lasten, S. 165

Aus den Krupp-Werken wird die Maschinenfabrik Krupp-Gruson im Besitz der sowjetischen Maschinen-Aktiengesellschaft, politische Systeme ändern sich, die Menschen müssen sich anpassen – und mittendrin Hanna Krause, in deren Leben sich all die Veränderungen bis hin zum neuen Deutschland nach der Wende ablesen lassen.

Ein literarisches Kunststück, das zu Verständnis beiträgt

Mit ihrem Roman gelingt Annett Gröschner das Kunststück, dass sich ein fiktives und schicksalsschlagreiches Leben völlig glaubwürdig und schon fast universal anfühlt. Das, was man mit dem schwammigen Schlagwort der „Würdigung von Lebensleistung“ vor allem in Bezug auf das Spannungsverhältnis von Ost- zu Westdeutschland immer wieder diskutiert, es erhält hier eine (zumindest von mir) selten gelesene Prägnanz und Anschaulichkeit.

Ihr gelingt es, mit Schwebende Lasten literarische Verständigungsarbeit zwischen Generationen und Landesteilen zu schaffen. Sie erzählt von Überleben und Mutterschaft, vom Kampf um Selbstbehauptung und Eroberung von Räumen, die Frauen viel zu lange nicht zugedacht waren. Gröschners Roman gelingt es, die immensen Veränderungen, die das Leben insbesondere in den ostdeutschen und mitteldeutschen Landesteilen bedeutete, vor Augen zu führen und glaubwürdige Porträts ihrer Figuren zu zeichnen, die von Staatsdoping in der DDR bis hin zur Kunst als Kraftquelle aus einer Fülle an Themen schöpft, ohne dabei die Geschichte mit übertriebenem Stilwillen oder literarischer Extravaganz zu überfrachten.

Das macht das Buch im besten Sinne massenkompatibel und setzt dem sachbuchlastigen, von Männern wie Dirk Oschmann bis Jakob Springfeld geprägten Diskurs ein literarisches Kunstwerk entgegen, das Kopf und Gefühl gleichsam anspricht.

Fazit

Diesem Buch sind ebenso viele Leser*innen wie Nominierungen und Besprechungen zu wünschen, schließlich gelingt der Autorin hier ein kleines, großes Kunstwerk, das in Zeiten erhitzter Ost-West-Debatten Bewusstsein für die Brüche und Leistungen jenseits der damals existenten Mauer schafft und nicht zuletzt exemplarisch ein Frauenleben schildert, wie es für das Funktionieren des Landes über alle Staatsformen hinweg unerlässlich war, und das doch noch immer viel zu oft übersehen wird. Insofern leistet Annett Gröschner mit ihrem Roman wichtige Arbeit und unterhält auf erhellende und begeisternde Weise. Dieses Buch ist keine Last, sondern die reine Freude!


  • Annett Gröschner – Schwebende Lasten
  • ISBN 978-3-406-82973-4
  • 280 Seiten. Preis: 26,00
Diesen Beitrag teilen

Daniela Krien – Mein drittes Leben

Wie weiterleben, wenn das eigene Kind gestorben ist? Daniela Krien erkundet es in ihrem Roman Mein drittes Leben einfühlsam und erzählt von Trauer und von der Schwere, einen Neuanfang zu wagen.


Den Entschluss seiner Frau zu einem Umzug kann Richard überhaupt nicht nachvollziehen. Ein ödes Dorf mitten im Nirgendwo der Leipziger Peripherie hat sie sich ausgesucht, um dort einen heruntergekommenen Hof zu bewohnen. Außer der Durchgangsstraße mit rauschendem Durchgangsverkehr gibt es dort nichts, was irgendwie von Aufbruch oder Vorankommen zeugt. Dort möchte man nicht begraben sein, wie Lindas Mann Richard bei der ersten Fahrt durch diese reizlose Ansammlung von Häusern bemerkte. Und auch Linda muss ihm beipflichten – und doch wohnt sie nun dort.

Den Grund für den Um- oder besser Rückzug erläutert Daniela Krien in kleinen Erinnerungsfetzen, die immer wieder den neuen Alltag von Linda durchschießen. Denn ihre Tochter Linda ist gestorben, als sie auf ihrem Rad von einem abbiegenden Laster im Leipziger Straßenverkehr übersehen wurde. Diese Tragödie verwinden Linda und ihr Mann auf unterschiedliche Art und Weise. Denn während für ihn das Leben irgendwie weitergeht, er als Künstler um seinen Ausdruck kämpft, lautet Lindas Antwort auf den Verlust – Rückzug.

Rückzug ins Durchgangsdorf

Daniela Krien - Mein drittes Leben (Cover)

Ihre Stelle in einer Kunststiftung gibt sie auf, sie zieht von zuhause aus, sucht im Durchgangsdorf einen Rückzug, um zu trauern und ihren restlichen Lebensmut gleich mitzubegraben. Doch damit wäre Mein drittes Leben ein reichlich kurzes Buch geworden – und auch das titelgebende Leben nach dem Verlust ihres Kindes und der Distanz zu ihrem Mann hätte nicht stattgefunden.

Doch beobachtet Daniela Krien im folgenden, durch die Ich-Perspektive erzählerisch ganz nah dran an ihrer Protagonistin, wie sie sich zunächst im Dorf einen neuen Alltag und neue Kontakte erschließt – und später auch in Leipzig wieder neu Fuß fasst und so vorsichtig ein neues Leben beginnt, das nicht nur Weiterleben ist.

Mein drittes Leben besticht durch seine genaue Auslotung der Seelenzustände und Verheerungen nach der tödlichen Nachricht des Todes eines eigenen Kindes. Ein Umstand, für den die deutsche Sprache gar kein Wort vorsieht, so wenig dieser Fall eigentlich eintreten soll. Und doch ist es für Linda und ihren Mann so. Wie wenig man darüber kommunizieren kann, wie eine solche Nachricht zum Auseinanderbrechen zwischen zwei Partnern führen kann, das beschreibt Krien eindrücklich.

Ein Neuanfang nach dem Ende

Ihre Sprache dabei ist nicht sentimental, sondern sehr präzise und fasst die Erkundungen der Seelenlandschaft in eine klare Prosa.

Ich blicke aus dem Fenster auf einen zur Hälfte gepflasterten, zur anderen Hälfte mit Rasen bewachsenen Hinterhof, der begrenzt wird von einer mit Efeu überwucherten Sichtschutzwand. Das alte Konzept meines Lebens habe ich endgültig aufgegeben. Schritt für Schritt gehe ich Tag für Tag ein kleines Stück weiter. Mehr ist es nicht, mehr muss es auch nicht sein.

Daniela Krien – Mein drittes Leben, S. 169

Ähnlich wie in diesem Jahr auch Adriano Sack oder Franziska Gänsler hat Daniela Krien ein Buch geschrieben, das der Trauer Raum gibt und das seiner Protagonistin beim Verarbeiten des Verlusts und dem Austesten verschiedener Pfade hin zu einem neuem Stück Lebensweg zusieht. Von Trauer und Schmerz durchsetzt ist der Winter ein starkes Bild, der im Roman nicht nur in Form eines nun anders gefeierten Weihnachtsfestes oder Schuberts Winterreise auftaucht, sondern auch immer wieder ganz konkret auf die Innenwelten Lindas bezogen wird.

Die Sehnsucht nach Sommer ist mir abhandengekommen. Mein innerer Winter lässt sich nicht mit der Leichtigkeit der hellen, warmen Tage in Einklang bringen.

Daniela Krien – Mein drittes Leben. S. 118 f.

Und doch bleibt es auch bei Linda nicht bei einem ewigen Winter. Symbolhaft ist der Garten, in dessen Bewirtschaftung sie einen neuen Lebenssinn findet und der mit seinem Vergehen und Werden auch nach dem scheinbaren Tod im Winter immer wieder die Kraft für einen Wiederbeginn im Frühling findet.

Fazit

Mein drittes Leben zeigt, wie schwer dieser Weg ist – aber dass es ihn gibt, wie verzweifelt und nachtschwarz das Leben auch in Phasen sein mag. Dass das Ganze über Kalendersprüche und banale Binsen hinausgeht, das ist der Verdienst von Daniela Krien, den sie mit diesem Buch leistet. Mit einer stimmigen Dreiklang aus Inhalt, Form und Sprache reiht sich das Buch ein in die Riege bereits genannter Seelenerkundungen, dessen Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 durchaus gerechtfertigt ist.


  • Daniela Krien – Mein drittes Leben
  • Artikelnummer 175851 (Buechergilde)
  • 296 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück

Von einer Familie kommt Anne Rabe in ihrem Debütroman Die Möglichkeit von Glück auf einen ganzen Staat und dessen Nachwirkungen, nämlich die DDR. Deren Nachwirkungen und den Wechselwirkungen von Staat und Bewohnern spürt dieser Roman mit schon fast essayistisch-soziologischen Zügen nach. Vom Kleinen kommt die Autorin so auf das Große – und zielt mitten hinein in unsere Gegenwart.


35 Jahre nach dem Mauerfall beziehungsweise der Wende gibt es wieder einen Boom an Texten und Analysen, die sich mit dem Osten Deutschlands und der Geschichte der DDR beschäftigen. Unlängst wurde Jenny Erpenbeck für ihren Roman Kairos der International Booker Prize zugesprochen – zum Erstaunen einiger Kommentatoren hierzulande. So war dieses Buch bei Erscheinen hierzulande für keinen der großen und aufmerksamkeitsstarken Preise, weder den Preis der Leipziger Buchmesse noch den Deutschen Buchpreis nominiert worden, traf aber nun international den Nerv der Kritikerjury.

Viel Aufmerksamkeit und mindestens ebenso viel Tadel fing sich auch die Historikerin Katja Hoyer mit ihrem Blick auf die DDR unter dem Titel Diesseits der Mauer – eine neue Geschichte der DDR ein. Und dem Germanisten Dirk Oschmann gelang mit dessen Erregung Der Osten – eine westdeutsche Erfindung ein veritabler Longseller, der dem Autor auch viel medialen Raum gab, um seine Thesen zu verbreiten.

Vom aktuellen Boom abgesehen ist die literarische und soziologische Beschäftigung mit dem untergegangenen Staat bis hin zu den Auswirkungen der Wiedervereinigung aber eine dauerhaftes. Oft sind es Bücher mit DDR-Bezug, die beim Deutschen Buchpreis gewinnen (man denke nur an Uwe Tellkamps Der Turm oder Kruso von Lutz Seiler).

Biografisch grundierte Blicke auf die DDR

Auch in Sachen Sachbuch erregt die Beschäftigung mit der DDR viel Aufmerksamkeit, etwa Steffen Maus Untersuchung des Lebens in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft, das er 2019 durch die biografische Brille betrachtete. Der vielbesprochene Titel trug jenen Ort im Namen. in dem Mau selbst einst in der DDR aufgewachsen war, nämlich der Rostocker Stadtteil Lütten Klein. Und auch Ines Geipel blickte im selben Jahr biografisch gefärbt auf die DDR und ihre Nachwirkungen, indem sie in Umkämpfte Zone auch die eigene Biografie und Familiengeschichte als Anlass nahm, um mithilfe der Geschichte ihres Bruders auf den Osten und den Hass zu blicken, der sich dort nicht nur in Progromen wie dem von Hoyerswerda oder in Rostock Bahn brach und immer wieder bricht.

Oftmals werden solche Bücher auch als Erklärstücke für die latente Fremdenfeindlichkeit, die Tendenz zu autoritären Regimen und mehr gelesen. Auch Anne Rabes Buch, das mit Ines Geipel nicht nur die Herangehensweise über eine Familie, sondern auch den herausgebenden Klett Cotta-Verlag teilt, funktioniert neben dem erzählerischen Inhalt auch ein Stück weit als Erklärstück für jenen Landesteil, indem es ein Viertel aller Wähler bei einer Landratswahl vertretbar fand, einen einschlägig bekanntem Neonazi die Stimme zu geben.

Was da los im Osten sei ist eine Frage, die die Medien gerne stellen. Wer Die Möglichkeit von Glück gelesen hat, kann das zumindest ein wenig besser beantworten.

Ausgangspunkt ist wieder einmal eine Familie, die auf ihre ganz eigene Art unglücklich ist. Stine, die Erzählerin, blickt in diesem in Erinnerungs- und Betrachtungsfetzen erzählten Text auf ihre eigene Familie, in der die Lieblosigkeit zu einer hervorstechenden Eigenschaften zählt.

Zwar war die Mutter in der DDR Erzieherin, mit den heutigen pädagogischen Konzepten von Bedürfnisorientierung und Kindeswohl hatte die Erziehungsschule der Mutter aber überhaupt nichts gemein. Schläge, Lieblosigkeit, Sprechverbote und Gewalt waren Mittel, derer sich ihre Mutter bediente und die das Aufwachsen von Stine und ihrem Bruder Tim kennzeichneten.

Was Tim und ich uns erzählen, wenn wir übere unsere Kindheit sprechen, sind Geschichten davon, wie wir gelernt haben, still zu sein.

Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück, S. 26

Von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie bis zu den Baseballschlägerjahren

Nun, da Stine selbst Mutter ist, blickt sie auf ihre eigene Kindheit, die Familie und die mannigfaltigen Brüche in diesem familiären Verbund. In Rabes Roman lässt sich eine glaubwürdige Linie ziehen von der Lieblosigkeit in der eigenen Familie über physischen und vor allem psychischen Schmerz in der Schulzeit bis hin zur omnipräsenten Gewalt der Baseballschlägerjahre. Auch der erste Amoklauf auf deutschem Boden, der sich 2022 an einer Schule im thüringischen Erfurt ereignete, fügt sich konsequent in Stines Nachdenken über die Verletzungen, die sie und mit ihr so viele andere Menschen in diesem System namens DDR erlitten haben.

Es sind solche Reflektionen und Erinnerungen, die verdichtet und verklebt die Stärke dieses Textes ausmachen.

Durch die Recherche über ihren eigenen Großvater in Archiven und Stasi-Unterlagenbehörden findet auch so etwas wie ein dramatischer Bogen und eine Entwicklung in diesen Text, den vor allem die starke Introspektion kennzeichnet. Die Verletzungen und Gewalterfahrungen im Kleinen werden hier auch zum Erklärmuster für einen Staat im Ganzen, der von der Bespitzelung der eigenen Bürger bis zur Inhaftierung von nicht-systemkonformen Bürger und Erschießung von Fluchtwilligen keine Unterdrückungsmöglichkeit ausließ.

Fazit

Mit diesem von Erinnerungssplittern und Erkenntnis gespickten Roman mit geschichtlich-soziologischer Tiefe gelingt es Anne Rabe, so etwas wie ein Bindeglied zwischen der Belletristik und den schon erwähnten Arbeiten etwa von Steffen Mau oder Ines Geipel herzustellen. Ein Roman, der auf interessante Art und Weise den Verletzungen einer Familie und deren Kind nachspürt, der in Zeiten des Erstarkens rechter Kräfte besonders im Osten Erkläransätze liefert und der sich nicht mit einfachen Wahrheiten begnügt.

Dass Anne Rabe mit diesem Debüt gleich für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominiert war, das ist folgerichtig, denn hier lässt eine Autorin zwar ihre Heldin zurücklicken, dieser Blick ist aber zugleich auch einer, der nicht nur die Brüche einer Familie und eines Staates nachzeichnet, sondern eben auch von hoher Aktualität und analytischer Kraft ist.


  • Anne Rabe – Die Möglichkeit von Glück
  • Büchergilde-Nr.: 175223
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Susanne Tägder – Das Schweigen des Wassers

Ein wirklich solider Krimi gelingt der ehemaligen Richterin Susanne Tägder mit ihrem Debüt Das Schweigen des Wassers. Darin erzählt sie von einem ertrunkenen Bootsverleiher, dessen Tod den aus Hamburg zugezogenen Polizisten Arno Groth nicht ruhen lässt – und von Verflechtungen, die auch das Ende der DDR unbeschadet überstanden haben.


Frisch aus Hamburg zugezogen kann der Polizist Arno Groth seine Begegnung mit dem Mann nicht wirklich einordnen, der eines Tages vor seinem Bürofenster in der Wache von Wechtershagen steht. Bootsverleiher sei er, so teilt er es Groth im Gespräch mit. Er wolle den Diebstahl eines Tretbootes melden, und außerdem sei jemand hinter ihm her. Vielleicht komme er in der nächsten Woche mit Beweisen noch einmal bei Groth vorbei.

Doch so weit kommt es nicht. Denn kaum angekommen dort im Nordosten des kurz zuvor wiedervereinigten Landes wird Groth zu einem Tatort gerufen. Ein Mann ist im nahegelegenen Wechtsee ertrunken. Als die Leiche geborgen wird, hat der zugezogene Kriminalhauptkommissar schnell Gewissheit. Es handelt tatsächlich um den Treetbootverleiher, der ihn kurz zuvor noch am Fenster der Wache besucht hatte.

Ein Unglück oder ein Mord?

Susanne Tägder - Das Schweigen des Wassers (Cover)

Obwohl für seinen Vorgesetzten schnell feststeht, dass es sich um ein bedauernswertes Unglück handelt, will Groth diese einfache Erklärung nicht wirklich glauben. Er verbeißt sich in den Fall und stößt auf Ungereimtheiten, die außer ihm und seinem Kollegen, einem ehemaligen Stasi-Mitarbeiter, niemand so recht sehen will. Jetzt da die blühenden Landschaften kurz bevorstehen und der Tchibo in Wechtershagen Einzug gehalten hat, ist ein Blick zurück eigentlich nur belastend – und einen möglichen Mord kann da eh niemand brauchen.

Für ihren Krimi setzt Susanne Tägder auf zwei zentrale Erzählperspektiven, die mit ihrer Sicht auf den Fall die Handlung vorantreiben. Da ist der melancholische Ermittler Arno Groth, der langsam wieder in seiner eigentlichen Heimatstadt Wechtershagen ankommt und der sich mit seinen Vorgesetzten und alten Bekannten arrangieren muss. Und dann ist da auch noch Regine Schadow, die ebenfalls neu nach Wechtershagen zugezogen ist und die sich im am See gelegenen Tagungshotel namens Erholung als Servicekraft verdingt. Sie hat ganz eigene Gründe, um den Todesfall am See im Blick zu haben. Gründe, die sie auch zu einem Spiel mit den Ermittlungsbehörden veranlassen.

Der überlegte Einsatz der Erzählperspektiven macht aus Das Schweigen des Wassers einen gelungenen Krimi, der in manchen Zügen Christian Alvarts Film Freies Land erinnert. Angesiedelt ist die Handlung bei ihr dabei in einem fiktiven Landstrich um die Ortschaften Delmin und Wechtershagen, irgendwo in Vorpommern nahe der Ostsee.

Risse und Brüche

Ebenso klein wie ihr fiktives Städtchen ist auch das Ensemble des Romans, in dem Susanne Tägder auf überflüssigen erzählerischen Ballast verzichtet und mithilfe von sorgsam dosierten Rückblenden und sprechenden Momenten ihr Personal charakterisiert. Darüber hinaus erzählt Tägder von den Rissen und Brüchen, die durch die Wendezeit verursacht wurden und die nun im Jahr 1991 offen zutage treten. Der gesellschaftliche Wandel, die Zerrissenheit in dieser seltsame schwebenden Zwischenwelt von DDR-Vergangenheit und neuer Gegenwart eines wiedervereinigten Landes, all das wird in Tägders Krimi miterzählt.

Zudem zeigt sie anhand des Falles, wie über alle Systemwechsel hinweg die Zirkel der Macht unbehelligt blieben und auch nach dem Fall der Mauer weiter fest im Sattel sitzen. Indem sie die Handlung um den Tod des Tretbootverleihers mit einem Cold Case verknüpft, kann sie diese Kontinuitäten trefflich beleuchten und bewegt sich dabei auf dem Boden tatsächlicher Ereignisse, die für ihren Debütroman Pate standen.

Ihrem Krimi liegt ein tatsächlicher historischer Todesfall zugrunde, dessen Reportage von Renate Meinhof in der Süddeutschen Zeitung das auslösende Momente für den Krimi war. Die damaligen Mauscheleien von Stasi und Volkspolizei des damaligen Todesfalles finden sich leicht abgewandelt in Das Schweigen des Wassers wieder und zeigen das Bild eines wenig gefestigten Staates, in dem die Unantastbarkeit manch einflussreicher Personen dann doch an den vielfach so kritisierten „Bruderstaat“ erinnerte.

Das ist gut gemacht und ergibt in Verbindung mit dem reduzierten, aber pointierten Setting und Fall einen guten Krimi, bei dem nicht literweise das Blut fließen muss, um Spannung zu erzeugen. Vielmehr gelingt Susanne Tägder ein Pas de deux zwischen intuitivem Ermittler und undurchsichtiger Zeugen, der anfangs so trügerisch ist wie die so unschuldig daliegende Oberfläche des Wechtsees.

Fazit

Das Schweigen des Wassers ist ein konzentrierter Krimi, der auf Ermittlungsarbeit und Intuition sitzt, um langsam die ganze Dimension des Verbrechens und die historischen Verflechtungen hinter dem Mord an dem Bootsverleiher offenzulegen. Ruhig erzählt unter Verzicht auf erzählerische Taschenspielertricks gelingt der ehemaligen Richterin hier ein souveräner Krimi, der ohne viel Blutvergießen zurückführt in die Nachwendezeit und der die Kontinuität der Macht ebenso wie die Brüche im Leben seiner Figuren betrachtet und herausarbeitet.


  • Susanne Tägder – Das Schweigen des Wassers
  • ISBN 978-3-608-50194-0 (Tropen)
  • 336 Seiten. Preis: 17,00 €
Diesen Beitrag teilen

Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens

Was kannst du anderes sein, wenn es doch nichts gibt, wohin du zurückkehren kannst?

Terézia Mora – Muna

In ihrem neuen Roman seziert Terézia Mora die eine Hälfte einer toxischen Liebe – und die Hälfte des Lebens ihrer Heldin. Beeindruckende Lektüre, die ganz tief hineingeht in ein Beziehungsgefüge und einer Anziehung nachspürt, für die es keine rationale Erklärung gibt.


M. Otto, so ist ein Foto signiert, das der Schülerin Muna bei ihrer ersten Redaktionssitzung eines kleinen Untergrundmagazins ins Auge fällt. Sie, die sie eigentlich Redakteurin werden möchte, findet nach einem absolvierten Praktikum bei der Zeitung ihres Heimatstädtchens Jüris Aufnahme beim Dreimannbetrieb des Magazins, wo sie Texte beisteuern soll und zum ersten Mal der Fotografien des mysteriösen M.Otto ansichtig wird. Hinter dem Pseudonym des Fotografen verbirgt sich Magnus Otto, der als Lehrer am Französischen Gymnasiums arbeitet.

Eine Faszination namens Magnus

Schon diese ersten Fotos lösen in Muna eine große Neugier und Faszination aus. Die Statuen, die auf den Fotos zu sehen sind, befinden sich an versteckten Plätze ihrer ostdeutschen Heimatstadt Jüris – und Muna beschließt, die Orte aufzusuchen, um dem Fotografen so näherzukommen. Doch nicht nur die Kunst Magnus Ottos fasziniert sie – auch die Person selbst ist es, die vom ersten Moment an im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht.

Terézia Mora - Muna oder Die Hälfte des Lebens (Cover)

Muna, die als Tochter einer stark dem Alkohol zuneigenden Schauspielerin mit Engagement am Theater Jüris ohne Vater aufwächst, sucht in Magnus einen Seelenverwandten, dem sie in der Folge immer wieder begegnen wird. Nach einem Suizidversuch ihrer Mutter so gut wie alleine auf der Welt, projiziert sie ihren Wunsch nach Bindung auf Magnus.

Während sie der Schule entwächst und später zum Studium nach Berlin aufbricht, nach dem Mauerfall dort und in vielen weiteren Städten, darunter London, Wien und später auch in Basel leben wird, ist Magnus stets präsent, ob anwesend oder abwesend.

So beginnen die beiden eine Beziehung – oder vielleicht sollte man besser von einer Affäre sprechen. Magnus verschwindet aus ihrem Leben, um Muna dann wieder bei einer anstrengenden Theateraufführung in Berlin zufällig zu begegnen, wo er ebenfalls im Publikum sitzt. Sie probieren, an ihre Beziehung/Affäre anzuknüpfen, doch die Zeichen stehen dafür nicht gut. So antwortet Magnus auf das Begehren Munas mit Rückzug und Flucht – entzieht sich ihr immer wieder – und begegnet ihrem Wunsch nach Nähe auch mit Gewalt, was Muna in ihrem Wunsch aber nicht abschreckt.

Liebe, Gewalt, Anziehung und Abstoßung

Um ihrem akademischen Freund auf Augenhöhe zu begegnen, strebt Muna derweil ebenfalls eine akademische Karriere an, studiert, arbeitet in einem Verlag in Wien für die Wiederentdeckung vergessener Autorinnen, versucht eine Dissertation voranzutreiben – und doch ist die Beziehung von Magnus und Muna eine, die nie auf Augenhöhe stattfinden wird.

Das seziert Terézia Mora in ihrem Roman ganz deutlich. Eng ist man dran an der Erzählerin Muna, die sich nach Magnus verzehrt, ihn an sich binden möchte und so auch nie wirklich von ihm loskommt – er ist eine Hälfte ihres Lebens, dem sie auch eine ganze Hälfte ihres ganzen Lebens schenken wird.

Immer wieder beherrschen Gedanken an ihn ihre Überlegungen, lenken sie von ihrem eigenen Vorankommen ab und verheißen ihr die Illusion einer Zukunft, die es so nicht geben wird.

Schläge, Aggression, schließlich sogar körperlicher Abbau und ein gefährlich naher Schritt an den Abgrund des Wahnsinns – all das löst dieser Magnus in Muna aus, womit man eigentlich alle Anzeichen einer toxischen Beziehung beisammen hat. Es ist eine gefährliche Beziehung, die Muna zwar nicht guttut, von Terézia Mora aber absolut nachvollziehbar und plausibel geschildert wird.

Eine toxische Beziehung

Wie kommt es zu einer solchen Beziehung, in der man selber nicht mehr für sein Glück entscheidend ist, sondern der Gegenüber? Was bleibt, wenn man sein Leben auf ein Gegenüber ausgerichtet hat, das den eigenen Erwartungen und Hoffnungen immer wieder zuwiderläuft? Das sind Überlegungen, die hinter Terézia Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens aufscheinen.

Die Welt Munas mitsamt dem Aufwachsen im kleinbürgerlichen Jüris hinter dem Eisernen Vorhang, der Aufbruch nach Berlin und das gemeinschaftliche Leben in einer Villa, der akademische und literarische Betrieb, all das ist treffend und sehr genau gezeichnet. Der zentrale Punkt des Romans aber – also die Motivation der Anziehung Munas hin zu Magnus – bleibt dabei leer.

Das ist die große Stärke dieses Romans, der auf einfache Antworten und Charakterisierungen verzichtet. Der sich entziehende Magnus, der Gewaltexzess in der Beziehung der beiden, Muna, deren Verehrung von Magnus‘ und deren Hinterherlaufen geradezu an eine hündische Verehrung grenzt, das alles wird durch Munas Erzählperspektive ungefiltert erzählt und lässt manchmal einen möglichen korrigierenden Eingriff durch die Leser*innen notwendig erscheinen, der freilich ausbleiben muss. Es ist ein Roman, der all der weiblichen Selbstermächtigung, die in letzter Zeit verstärkt auf dem Buchmarkt präsent war, entgegenläuft und so einen ganz eigenen Ton entwickelt.

All das macht aus Muna oder Die Hälfte des Lebens eine wirklich eindrückliche Angelegenheit, was auch die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises folgerichtig erscheinen lässt.


  • Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens
  • ISBN 978-3-630-87496-8 (Luchterhand)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen