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Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht

Ein Vater mit seinem Sohn auf der Flucht durch Argentinien. Ihnen auf der Spur: die Geister der Vergangenheit und Geister der Gegenwart. Mariana Enriquez hat mit Unser Teil der Nacht ein wuchtiges, dunkles, bisweilen verstörendes Mammutwerk vorgelegt, das zwischen verschiedenen Genres und Stilen oszilliert und sich einer genauen Zuordnung entzieht.


Um ihren Roman zu erzählen, wählt Mariana Enriquez den Erzählansatz verschiedener Stimmen, die mal aus auktorialer oder Ich-Perspektive erzählen. All diese Episoden spielen zu verschiedenen Zeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und ergeben erst langsam ein großes Ganzes. Die Hauptgeschichte entspinnt sich Mitte der 70er Jahren in Argentinien. Es herrscht die Militärdiktatur unter Jorge Rafael Videla, Oppositionelle werden gefoltert und verschwinden spurlos.

Ein Vater und sein Sohn auf der Flucht

In dieser Zeit lernen wir Juan und seinen Sohn Gaspar kennen. Sie befinden sich auf dem Weg zum Landgut Puerto Reyes, wo sie erwartet werden. Schon auf dem Weg der beiden zeigt sich, dass hier nicht alles mit rechten Dingen zugeht. Juan ist ständig erschöpft, will seinen Sohn schützen – und dieser sieht in Hotelzimmern Gestalten und Geister, die nicht von dieser Welt stammen.

Mariana Enriquez - Unser Teil der Nacht (Cover)

Schnell stellt sich heraus, dass sowohl Juan als auch Gaspar so etwas wie ein zweites Gesicht haben. Sie können Geister und dunkle Kräfte sehen oder sogar heraufbeschwören. Diese Fähigkeit der Kontaktaufnahme mit der einer dunklen Welt jenseits der unseren macht vor allem Juan für einen zunächst nicht näher definierten Orden höchst interessant. Aber auch Gaspar ist für den Orden von Interesse – schließlich könnten sich die Mediumsfähigkeiten seines Vater ebenfalls auf ihn übertragen haben. Ein mögliches Schicksal, vor dem Juan seinen Sohn um jeden Preis beschützen möchte.

Und während die beiden in Richtung des Landguts Puerto Reyes reisen, treibt Juan eine weitere Sorge um. Seine Frau Rosario ist verschwunden. Ob tot oder nur verschollen, das ist noch fraglich. Um mehr über ihr Verschwinden herauszufinden, beschwört er Geister herauf, um zu klären, was es mit dem Schicksal seiner Frau auf sich hat. Doch die Beschwörungen haben ihren Preis…

Über andere Erzählerinnen und Erzähler in anderen Zeiten klären sich langsam die Rollen von Juan, Gaspar und Rosario. Aber auch in späteren Zeiten, in denen Gaspar dann schon größer ist, ist die Dunkelheit nicht fern. So verliert Gaspar beim Spielen mit Freund*innen in Buenos Aires dann eine Freundin beim Erkunden eines verlassenen Hauses an die Dunkelheit. Denn egal ob in den 70er Jahren oder bis hinein in die 90er Jahre – die Dunkelheit ist nie fern, wofür auch der geheimnisvolle Orden sorgt, der an Gaspar so großes Interesse hat.

Eine wilde Mischung mit hohen Dunkelanteil

Es ist eine völlig wilde Mischung, die Mariana Enriquez hier anrührt. Bislang ist sie mit Kurzgeschichten in Erscheinung getreten (etwa Was wir im Feuer verloren, 2017 bei Ullstein erschienen), nun legt sie ein über 830 Seiten starkes Werk vor, das alle Genrezuordnungen sprengt.

Viele der Geschichten wirken zunächst einmal reichlich unverbunden, die Anknüpfungspunkte zum bisher Gelesenen erschließen sich manchmal erst spät. So gibt es Passagen, die stark an Serien wie Stranger Things und Abenteuerbücher wie die Drei ??? erinnern, dann gibt es Horrorelemente, Beschreibung größter körperlicher Pein und Folter, bei denen die Militärdiktatur manchmal ein guter Deckmantel ist, mit dem man die eigentlichen, unsäglichen Verbrechen des Ordens kaschieren kann. Es gibt explizite Liebesszenen, Fantasy- oder eher Horrorszenen (besonders in den Ritualen, in denen die Dunkelheit beschworen wird). Wir haben es mit einer Familiensaga zu tun, genauso gibt es Okkultes neben Profanen, Orgien und erste Liebe – und die Lyrik ist sowieso immer von Bedeutung.

Stellenweise wirkt Unser Teil der Nacht wie der dunkle Gegenpart zu Carlos Ruiz Zafons Der Schatten des Windes. In Zeiten von Verbrechen und Gräuel suchen ein Vater und ein Sohn nach den Hintergründen des Verschwindens der Frau oder Mutter und erleben dabei Fantastisches, das außerhalb unserer Vorstellungs- und Erfahrungswelt liegt. Wo bei Zafon alles wie in Sepia getaucht wirkt, ist die Welt von Mariana Enriquez bedeutend dunkler. Der Tod und die Geister sind stets präsent, auf dem Landgut Puerto Reyes spielt sich Unsägliches ab. Juan versucht seinen Sohn davor zu schützen, aber die Schatten reichen weit. Und die Toten reisen schnell.

Fazit

Das zeigt Mariana Enriquez eindrücklich, der mit Unser Teil der Nacht ein dunkles, bisweilen schwer erträgliches Buch mit einem hohen Horror-Anteil gelingt. Die Militärdiktatur, ein grausamer Orden, ein Vater, der seinen Sohn vor dem Schicksal bewahren will. Das sind Teile dieser großen, dunklen Saga, die die zweite Hälfte des vergangen Jahrhunderts aus argentinischer Perspektive noch einmal aufleben lässt. Wuchtig, verstörend, dunkel- thematisch wohl eines der ungewöhnlichsten Bücher in diesem Frühjahr, das von Inka Marter und Silke Kleemann ins Deutsche übertragen wurde.


  • Mariana Enriquez – Unser Teil der Nacht
  • Aus dem Spanischen von Inka Marter und Silke Kleemann
  • ISBN 978-3-608-50161-2 (Klett-Cotta)
  • 832 Seiten. Preis: 28,00 €
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Greg Buchanan – Sechzehn Pferde

Ist es ein Krimi? Ist es eine Erzählung übers Verschwinden? Ist es ein gelungenes Buch? Ich bin mir bei all diesen Fragen nicht sicher – was ich aber weiß: Sechzehn Pferde von Greg Buchanan ist ein außergewöhnliches Roman, der sich Erwartungen widersetzt und mit vielen Brüchen aufwartet.


Es ist ein grausam-skurriler Anblick, der sich dem Polizeibeamten Alec auf dem morgendlichen Acker eines Bauern in der englischen Einöde bietet. Sechzehn Pferdeköpfe wurden halb in der Erde verbuddelt, sodass eine Auge der Tiere noch in den Himmel blickt, der Rest der Köpfe aber verdeckt ist. Auch die entsprechenden Pferdeschweife finden sich in der Nähe – vom Rest der Körper fehlt allerdings jede Spur. Der Bauer, dem der Acker gehört, hatte noch nie Pferde und wundert sich, wie diese auf seinen Grund gelangt sind und kann Alec nicht weiterhelfen.

Um das Rätsel der Pferdeköpfe zu lösen, wird die Veterinärforensiker Cooper Allen hinzugezogen, die für die überforderte Polizei Licht ins Dunkel bringen soll. Wer hat die Pferdeköpfe vergraben, woher stammen die Tiere und was soll die skurrile Drappierung der Schädel bewirken? Alec und Cooper beginnen im kleinen Städtchen Ilmarsh zu ermitteln, einem von Verfall gekennzeichneten Küstenstädtchen, bei dem die täglichen Bingorunden noch das Spannendste zu sein scheinen.

Irgendwas ist faul im Städtchen Ilmarsh

Schnell stellt sich heraus, dass irgendwas faul im Städtchen Ilmarsh ist. Die Besitzerin einer Pferderanch hütet Geheimnisse, die das Hotel der Stadt gammelt vor sich hin, ein Landstreicher berichtet von zwei Personen, die er am Tatort gesehen hat, eine scheint geweint zu haben. Man findet Kisten mit verwesten Tieren, die verschiedene Buchstaben tragen. Der Fall wird zunehmend verworren und unübersichtlich.

„Nichts passt zusammen“, sagte Cooper und wandte sich dem Meer zu. „Jeder, der uns helfen könnte, ist tot oder lügt oder hat sich aus dem Staub gemacht. Dieser Fall ist vertrackt.“

Greg Buchanan – Sechzehn Pferde, S. 354

Und dann bricht der erste Teil des Buchs auch noch mit einem Paukenschlag ab. Alec hat einen schweren Unfall, sein Sohn verschwindet, alle Beamten, die am Tatort waren, erkranken plötzlich schwer. Die Pferdeschädel waren offenbar mit einer toxischen Anthrax-Variante verseucht, die eine – mehr Aktualität geht nicht – Quarantäne der Bewohner des Städtchens notwendig macht.

In der Folge liegt die Hauptlast der Ermittlungen auf den Schultern von Cooper, die nun alleingestellt das Rätsel dder Pferdeschädel und aller damit verbundenen Ereignisse zu lösen versucht.

Alles andere als konventionell

Greg Buchanan - Sechzehn Pferde (Cover)

Was bis hierhin vielleicht nach einem konventionellen Krimi geklungen hat, entpuppt sich in der Realität als alles andere als das. Oftmals beschlich mich beim Lesen der Eindruck, ich würde hier einem besonders experimentellen Dominik-Graf-Krimi beiwohnen. Das Buch wirkt durch zahlreiche Sprünge in der Betrachtung, eingeschobene Dialogfetzen, kurze Szenen, Chats und unklare Bezüge wie ein wild geschnittener und alles andere als konziser Film, bei dem Leerstellen und unterlassene Erklärungen zum erzählerischen Konzept gehören.

Auch wenn alle Zutaten für einen klassischen Krimi vorhanden sind (das Rätsel der Pferdeschädel, Ermittlerfiguren, eine Auflösung ganz am Ende) – so muss ich sagen, dass das, was Greg Buchanan daraus macht, alles andere als klassisch und nicht einmal zwingend ein Krimi ist.

Denn wo andere Autor*innen ihre Leserschaft an die Hand nehmen, die Figuren, ihre Hintergründe und aktuelle Entwicklungen ausbreiten, wählt Greg Buchanan den Ansatz der Verrätselung. Nichts wird auserzählt, vielmehr reißt er in unzähligen Szenen Dinge an, die ihn für seine Geschichte dann gar nicht weiter interessieren. Die Quarantäne der Stadtbewohner, die biografischen Hintergründe der Figuren, die einzelnen Sprünge nach vorne oder nach hinten werde teilweise nur en passant eingeflochten, nicht aber auserzählt. So etwas wie tiefenscharfe Figuren gibt es nicht, alle Charaktere stehen in Sechzehn Pferde nur lose nebeneinander, ohne große Verbindungen oder Beziehungen.

Schneisen im erzählerischen Dickicht

Zwar gibt es Schneisen in diesem erzählerischen Dickicht, aber diese verlieren sich auch gerne wieder oder enden im Nichts. So serviert uns Greg Buchanan kurz vor Schluss einen Täter und ein Motiv (womit wir wieder beim Krimi sind), schlüssig hergeleitet ist das eher weniger und wird sehr unvermittelt eingeführt. Auch die ganze Umgebung mit ihren Figuren bleibt seltsam nebulös. Es gibt Erpressungen, eine nahegelegene Insel, die mit ihrer Geschichte etwas an die Ostseeinsel Riems erinnert, die Anthrax-Vergiftungen, tote Tiere und verschwundene Menschen und Pferde – es bleibt aber zumindest für meinen Geschmack zu viel im Vagen.

Ich muss gestehen, dass ich mit den Sechzehn Pferden nicht wirklich warm wurde, auch wenn ich die erzählerischen Ansätze und die Weiterentwicklung eines konventionellen Krimis hier durchaus goutiere. Im Ganzen waren es mir dann aber doch einfach zu viele Brüche, Fragen und skizzenhafte Erzählelemente, die unaufgelöst blieben und keinen tieferen Sinn ergaben.

Wer einen Roman irgendwo zwischen Mystery, Krimi und Landschaftsschilderung sucht, der sollte definitiv einen Blick auf Buchanans Debüt werfen. Mich erinnerte das Buch in seinen erzählerischen Ansätzen und meinen eigenen falschen Leseerwartungen an Jon McGregors Buch Speicher 13, das für mich einige Berührungspunkte zu Sechzehn Pferde aufweist. Aber auch an Jon Bassofs Factory Town erinnerte mich das Debüt von Greg Buchanan des Öfteren.

Fazit

Ein mitreißender, linearer und spannender englische Krimi nach klassischer Machart ist das nicht. Vielmehr spielt Greg Buchanan mit Erwartungen, Verschwinden, Chronologie und Einsamkeit und schafft dadurch ein Werk, das in seiner Unangepasstheit und seiner schroffen Schnitt- und Erzähltechnik durchaus bemerkenswert ist. Für Begeisterungsstürme bei mir hat es leider nicht gereicht, obwohl ich mich eigentlich als passende Zielgruppe für Greg Buchanans Buch begreife.


  • Greg Buchanan – Sechzehn Pferde
  • Aus dem Englischen von Henning Ahrens
  • ISBN 978-3-10-397488-1 (S. Fischer)
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

Meine Abermillionen Papiere vermache ich meinen Kindern, Rakel und Elis Berg, mögen sie das Erbe gut verwalten. Meine Notizbücher, all die Romananfänge. Die zu neunzig Prozent fertiggestellte Magisterarbeit in Literaturwissenschaften. Die Aufzeichnungen, die womöglich irgendwann eine verdammt gute Biografie des zu Unrecht vergessenen Schriftstellers William Wallace ergeben hätten. Bitte sehr, liebe Kinder. Die gesammelten Werke eures Vaters.

Lydia Sandgren – Gesammelte Werke, S. 815

Was für ein Ziegelstein! Mit Gesammelte Werke legt Lydia Sandgren ihr Debüt im mare-Verlag vor. Übersetzt von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig lässt sich auf fast 900 Seiten das genau ausgeleuchtete Porträt eines schwedischen Verlegers bestaunen, der doch viel lieber Schriftsteller geworden wäre.

Sandgren gelingt ein Buch, das vom Scheitern und Suchen erzählt, von prägenden Freundschaften, Göteborg und der Verlagsbranche. Ein echt Schmöker für den Herbst!


Würde man in der Literatur nach einem Klischee-Schweden suchen, Martin Berg wäre ein heißer Kandidat. Als Verleger leitet er den eigenen kleinen Buchverlag Berg&Andrén, privat lebt er mit seinen beiden Kindern in Göteborg in einer Wohnung wie aus dem IKEA-Katalog, Dachzimmer inklusive. Diese Bilderbuchfassade trügt allerdings – denn von Martin Bergs Frau fehlt jede Spur. Sie verließ Martin nach der Geburt des zweiten Kindes und wurde seitdem nicht mehr gesichtet. Berg hat sich ganz gut mit dem Verlust arrangiert, seine Tochter lässt das Verschwinden der Mutter allerdings nicht los.

Als sie im Auftrag ihres Vaters ein Gutachten für einen deutschen Bestseller verfassen soll, den er zu verlegen überlegt, meint sie in diesem Roman ihrer Mutter zu begegnen. Sie beginnt mit der Übersetzung des Buchs, um möglicherweise Infos über deren Verbleib zu sammeln. Währenddessen erinnert sich Martin seiner Jugend und Studentenzeit, in der er Freundschaft mit Gustav Becker schloss, der später zum gefragten Künstler avancieren sollte. Auch der Anfang der Beziehung zu seiner späteren Frau Cecilia gründet in dieser Phase seines Lebens.

Das minutiöse Buch einer Freundschaft zu dritt

Lydia Sandgren - Gesammelte Werke (Cover)

Lydia Sandgren erzählt minutiös genau das Leben dieses Martin Bergs nach. Sein Werdegang, seine prägenden Freundschaft, die in eine lebenslange Verbundenheit münden sollten, Studienjahre in Paris, Urlaube zu dritt in Antibes, all das fächert Sandgren weitestgehend chronologisch auf. Immer wieder werden diese Erinnerungen durch ein fiktives Interview und die erzählte Gegenwart durchbrochen. In dieser kommt Martins Tochter Rakel die zweite tragende Rolle zu, die das Verschwinden ihrer Mutter zu verstehen versucht. Aus der Parallelmontage dieser Stränge, die auf die Frage zulaufen, was hinter Cecilia Bergs verschwinden liegt, zieht der Romanen seinen Reiz.

Für die Lauflänge von neunhundert Seiten wäre das allerdings etwas wenig, andere Autorinnen wie etwa Claire Fuller, Richard Russo oder Idra Novey haben für ganz ähnliche Bearbeitung dieses Motivs deutlich weniger Seiten benötigt, um überzeugende Romane zu kreieren. Gesammelte Werke ist darüber hinaus allerdings auch das Porträt einer Freundschaft zu dritt, die in ihrer Detailgenauigkeit schon fast an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben gemahnt. Dass Gustav, ein entscheidender Teil des Dreigestirns, später als Künstler mit nahezu fotorealistischen Werken triumphieren soll, lässt sich auch auf Sandgrens Erzählkonzept selbst übertragen.

An einer Stelle des Romans heißt es, dass die gefeierten Werke Gustavs als eine Art Gegenentwurf zu Monet sind. Aus der Nähe wirken seine Werke fotorealistisch, aus der Ferne lösen sich die Klarheiten auf. Das trifft die Freundschaft und das Erzählen in diesem Buch selbst auch sehr präzise. Was in der Mikroebene des Buchs manchmal fast ein wenig zu detailliert und langatmig wird, ist in der Rückschau über das gesamte Buch dann doch ein faszinierendes Leseerlebnis, da Sandgren ihren Protagonist*innen sehr nahekommt.

Von der Suche nach Inspiration

Auch ist Gesammelte Werke ein Buch über die Suche nach Inspiration und künstlerischer Verwirklichungen, die den Protagonist*innen dann aber doch versagt bleibt. Alle drei Freunde müssen mit diesen Erkenntnissen umzugehen lernen. Während Gustav seine Herkunft aus dem Geldadel stets negiert und sich in Alkohol und Parties flüchtet, hadert Martin mit seinem Wunsch, doch ein Schriftsteller zu sein. Doch die Themen fehlen ihm genauso wie die Ansätze, seine Ideen weitzerzuentwickeln. Cecilia brilliert mit einem Essayband, fällt aber nach der Geburt ihres zweiten Kindes in eine tiefe Depression und kann die verheißungsvolle Karriere, die ihr bestimmt schien, nicht mehr weiterverfolgen.

Wie man mit dem Scheitern arrangiert, wie die Erwartungen im Laufe eines Lebens geschliffen werden, das zeigt Gesammelte Werke eindrücklich. Auch für Leser*innen, die sich für die Buch- und Verlagsbranche interessieren (was nicht wenige sein dürften, immerhin haben sie bereits zu einem dicken Wälzer aus einem kleineren Verlagshaus gegriffen) hält Gesammelte Werke viele Themen bereit. Messeparties, das Arbeiten mit Manuskripten, die Entwicklung von Autor*innen, der unverhoffte Bestsellererfolg, das stets mögliche Scheitern eines solchen Verlags, all das lässt sich ebenfalls in Sandgrens ziegelsteinstarkem Buch nacherleben.

Fazit

Mit Gesammelte Werke ist Lydia Sandgren ein nicht nur aufgrund seines Umfangs außergewöhnlicher Roman gelungen. Das genaue Porträt einer Freundschaft zu dritt, das Scheitern von Lebensentwürfen und der Umgang damit, das Verschwinden einer Frau, der Blick in das Innere eines Verlags und Verlegers. All das umkreis Sandgrens Buch mit großer Genauigkeit und Erzählfreude. Ein Debüt, das aus dem Rahmen fällt und das vor allem nun während der grauen Herbsttage vortrefflich unterhält.


  • Lydia Sandgren – Gesammelte Werke
  • Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat und Karl-Ludwig Wetzig
  • ISBN 978-3-86648-661-4 (mare)
  • 880 Seiten. Preis: 28,00 €
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Tana French – Der Sucher

Einmal mehr tritt Tana French mit Der Sucher den Beweis an, dass nicht Blutbäder und Metzelorgien die Qualität bestimmen, sondern gelungene Spannungsliteratur auch ganz anders aussehen kann. Während sich andere Autoren daran weiden, Figuren in Häckslern zu zerkleinern oder grausamst zu pfählen und das Ganze voyeuristisch ausschlachten, setzt Tana French auf die Kraft des Untergründigen. Bei ihr gerät ein pensionierter Cop an eine Dorfgemeinschaft, die er mit seinem erlernten Handwerkszeug kaum zu knacken bekommt. Dabei wäre das von höchster Dringlichkeit, denn ein Junge ist verschwunden.


Tana Frenchs titelgebender Sucher hört auf den Namen Cal Hooper. Er ist ein pensionierter Streifenpolizist aus Chicago, der sich in der irischen Provinz niedergelassen hat. Er hat sich ein kleines renovierungsbedürftiges Haus in der Nähe des Dorfs Ardnakelty gekauft. Ein paar Farmen, Wohnhäuser, ein Pub, dessen eine Hälfte der Dorfladen ist, viel mehr ist dort nicht. Genau das Richtige für Cal, der sich nach Ruhe und einem unspektakulären Leben sehnt. Doch mit der Ruhe ist es nicht weit her. Immer wieder hat er das Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Und tatsächlich kann er den Eindringling schon bald stellen. Es handelt sich um Trey, einen Jungen aus der Nachbarschaft.

Nachdem sich die beiden etwas angenähert haben, fasst Trey Vertrauen und zieht Cal zu Rate. Sein Bruder Brendan ist verschwunden – allerdings scheint dieses Verschwinden niemanden zu irritieren oder gar zu interessieren. Treys Mutter sieht keinen Grund zur Beunruhigung und auch die lokale Garda pflegt eher eine unaufgeregte Arbeitsweise. Cals Alarmglocken hingegen schrillen – und so beschließt er, selber noch einmal aktiv zu werden. Er beginnt sich umzuhören – beißt sich aber an der verschworenen Dorfgemeinschaft seine Zähne aus.

Ruhiger Aufbau und untergründige Spannung

Tana French - Der Sucher (Cover)

Das ist die Rahmenhandlung von Tana Frenchs Buch, das sich durch viel (vordergründige) Ruhe auszeichnet. French nimmt sich die Zeit, ihr Szenario ausgiebig zu entwickeln. Sie beschreibt detailliert Cals handwerkliche Tätigkeiten, seinen rituellen Tratsch mit dem Nachbar und das soziale Gefüge, das sich im Pub offenbart. Auch die Annäherung von Trey und Cal inszeniert sie behutsam und mit viel Raum für genaue Beobachtungen. Als mit blutigen Metzelorgien sozialisierter Leser kann man da schon mal die Geduld verlieren. Bis es hier zu Toten kommt (die zunächst auch nur tierischer Natur sind) vergeht viel Zeit.

Zeit, die sich lohnt, da man mit feinen Beschreibungen und Beobachtungen belohnt wird und die Spannung stets untergründig vorhanden ist. Mit Der Sucher balanciert Tana French wie gewohnt auf der Spannungsgrenze von Roman und Kriminalliteratur – ohne abzustürzen oder von ihrem eingeschlagenen Erzählpfad abzukommen.

Mit minimalen Mitteln erzielt sie hier großen Ertrag. Stets schwebt über allem ein Gefühl der Bedrohung, selbst wenn eigentlich nur wenig passiert. Egal ob Cal sich nach dem verschwundenen Jungen umhört oder im Pub eigentlich harmlose Gespräche und Frotzeleien stattfinden – man hat das Gefühl, als könnte die sich die irische Erde jeden Moment öffnen, um einen Blick auf das echte Grauen freizugeben. Dieses Erzeugen von Furcht und Argwohn ist literarische Kunst, die Tana French hier einmal mehr eindrucksvoll gelingt. Ihr ländliches Irland, die verschworene Dorfgemeinschaft, die Hartnäckigkeit Cals – all das ist großartig eingefangen und wird stets von einem Gefühl der Bedrohlichkeit grundiert, was man so erst einmal hinbekommen muss.

Fazit

Mit der Lektüre dieses Krimis ist es wie mit dem Besuch bei einem Gourmetrestaurant, nachdem man sich zuvor über lange Zeit mit Fastfood und Geschmacksverstärkern den Magen vollgeschlagen hat. Hier lässt sich wieder entdecken, wie Spannungsliteratur auch sein kann. Eben nicht platt voyeuristisch, voller Blut und Metzeleien – sondern so ganz anders als der Fitzek’sche Mainstream. Spannungsreiche Ruhe, einige punktuelle Andeutungen, Zeit für Entwicklung – das sind die Zutaten, mit denen Tana French in Der Sucher beste Spannungsqualität produziert.

Ein Buch, das die Natur Irlands genauso gut einfängt, wie die verschworenen und verschwiegenen Dorfgemeinschaften, denen man auf der Insel begegnen kann. Ein eindrucksvoller Beweis, dass es bei guten Krimis eben nicht die Leichendichte, sondern das literarische Handwerkszeug die Qualität ausmacht.


  • Tana French – Der Sucher
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN: 978-3-651-02567-7 (S. Fischer)
  • 496 Seiten. Preis: 22,00 €
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