Category Archives: Historischer Roman

Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers

Langsam werden die Folgen des Brexit sichtbar. Während sich die Regierung des Landes in symbolischen restituierenden Maßnahmen wie der Einführung von alten Gewichtseinheiten wie Unzen oder antiquierter Eichmaße we dem Crown Stamp übt, herrscht in Weiten Teilen des Landes die Lorry Crisis. Zahlreiche Facharbeiter*innen oder Fahrer*innen sind im Zuge des Abschieds aus der EU zurück auf den Kontinent gegangen, was sich nun in zahlreichen Bereichen des täglichen Lebens bemerkbar macht. So sind die Versorgungsketten brüchig geworden, was häufig zu leeren Supermarktregalen genauso wie zu langen Schlangen vor den Tankstellen führt. Egal ob Nahrungsmittel oder Benzin, der Brexit hat gezeigt, dass es mit der versprochenen neuen Stärke Großbritanniens nicht weit her ist.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich da auf dem Buchmarkt. Auf ihm treten vermehrt Bücher in Erscheinung, die ein gegenläufiges Bild Großbritanniens zeichnen. In den Dorfromanen sind es zumeist Protagonist*innen, die auf Bauernhöfen wohnen, in der ländlichen Umgebung fest verwurzelt sind und die aus der sie umgebenden Natur ihre Stärke ziehen. Zu nennen wäre hier beispielsweise Sebastian Barry mit seinem Roman Annie Dunne, der eine widerborstige Frau in den Wicklows 1959 zeigt. J. L. Carr beschreibt in seinem Roman Ein Monat auf dem Land die Gesundung eines Weltrkiegsveteranen im ländlichen Yorkshire. Benjamin Myers lässt in Offene See einen jungen Mann kurz vor dem Ernst des Lebens durch die englische Natur wandern . Und Reginald Arkell zeigt in Pinnegars Garten ein ebenso gegensätzliches Paar, das die Liebe zur englischen Natur, insbesondere der Flora, zusammengeführt hat.

Melissa Harrison - Vom Ende eines Sommers (Cover)

Viele Bücher also, die die Vorstellungen eines unberührten aus der Zeit gefallenen Vereinigten Königreichs bedienen und so konträr zu den aktuellen Entwicklungen stehen. Einmal mehr erscheint nun im Dumont-Verlag ein weiteres Buch, bei dem das Cover an genau die Sorte der obigen Beispiele erinnert. Schwalben, die eine blühende Natur aus Feldern und gesunden Bäume bestehend durchmessen. Helle Farben, blühende Sträucher und Sicht bis zum Horizont. Das verspricht der Melissa Harrisons Roman rein äußerlich – erschöpft sich dann aber gottseidank nicht Landschaftskitsch. Vielmehr ist Vom Ende eines Sommers der genaue Blick auf das Erwachsenwerden einer jungen Frau und die Probleme der ländlichen Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg, fernab von jeglicher Empire-Romantik.

Sommer in Suffolk 1933

Wir schreiben das Jahr 1933 – es herrscht Sommer in Suffolk. Als Kind von Bauern weiß die vierzehnjährige Edie um die Fülle und den Reichtum der Natur. Mit den Gleichaltrigen vermag sie nicht allzu viel anzufangen. Stattdessen fasziniert die plötzlich in ihrem Dorf aufgetauchte Constance FitzAllen das junge Mädchen ungemein. Die Journalistin recherchiert über das Dorfleben und hegt ganz eigene Ansichten über den Lebensstil der Dorfbevölkerung. In ihrer Andersartigkeit wird sie für Edie zum Orientierungspunkt und zeigt dem Mädchen eine Alternative zum Altbekannten auf. Doch auch Constance FitzAllen hat ihre nicht so schönen Seiten, die Edie erst spät kennenlernen wird.

Vom Ende eines Sommers ist ein Roman, der die ganze Fülle des britischen Landlebens und der Natur atmet. Insofern verspricht das Cover nicht zu viel. Hier steht alles in voller Blüte, in den Hecken zwischen den Feldern ziept und zirpt es beständig. Melissa Harrisons Buch nimmt aber auch die weniger pittoresken Seiten des Dorflebens der 30er Jahre in den Blick. So grassiert die Armut, Edie Eltern leben am unteren Existenzminimum und sind auf gute Ernten angewiesen, um halbwegs die Schulden auf Abstand zu halten. Der lokale Adel wirft einmal im Jahr ein Fest und fällt ansonsten durch größtmögliche Distanz zur normalsterblichen Bevölkerung auf. Heruntergekommene Höfe und Armut, sie sind ein entscheidender Teil vom Bild des lokalen Englands.

Auch der zurückliegende Weltkrieg hat die Bevölkerung nachdrücklich geprägt und die Erinnerung an die damaligen Ereignisse ist bei den meisten Menschen noch immer präsent. Auf den Feldern Flanderns oder Frankreichs sind viele junge Männer zurückgeblieben, auch auf Edies Hof gab es tragische Verluste zu beklagen. Die Verluste wurden nicht richtig verarbeitet, Männer nehmen sich, was sie wollen. Gleichberechtigung und gegenseitige Achtung sind hier noch nicht wirklich festzustellen. Deshalb übt die so unangepasste und starke Constance einen derartigen Reiz auf Edie aus, die so wenig in die ländliche Umgebung passt, aber gerade deshalb umso mehr vom einfachen Landleben angezogen wird, in das sie sich ganz hineingibt.

Fazit

Durch den genauen Blick auf die Lebensverhältnisse der damaligen Zeit besticht Melissa Harrisons Roman, der sich eben nicht alleine mit Naturschilderungen und Verklärung der „guten, alten Zeit“ begnügt. Das Buch ist in seiner Verschmelzung von romantischen und naturalistischen Ansätzen sehr reizvoll und kombiniert den klassischen Coming-of-Age-Roman mit zeitgeschichtlichem und naturnahem Kolorit. Von Werner Löcher-Lawrence wurde das Ganze in seiner ganzen Beschreibungsfülle ins Deutsche übertragen.

Ein Buch, das wenig beschönigt und nicht den Fehler begeht, die Geschichte der Landbevölkerung zu verklären. Und gerade dadurch gewinnt Vom Ende eines Sommers, das eben kein pures Nostalgiebedürfnis der Leserschaft befriedigt, sondern einen genauen Blick auf die ländliche Geschichte der 30er Jahre in Suffolk liefert. In diesem Buch steckt deutlich mehr, als es das Cover suggeriert!


  • Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-8152-9 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Maaza Mengiste – Der Schattenkönig

Er kann sich aber nicht vorstellen, was die Italiener den Menschen antun, seinem Volk, seinen Untertanen, den Kindern einer Generation, die geboren wurden, um sein Land aufzubauen. Bald werden die Kaiserin, seine Kinder und seine Berater sich um dieses Radio versammeln, sich zu den Nachrichten neigen und ihnen lauschen, als könnten sie jedes knisternde Detail mit dem Körper aufnehmen. Er hingegen, der Kaiser, Jan Hoy, Haile Selassie, Terefi Mekonnen, hat nur den Wunsch, aufzustehen und einen anderen Raum zu betreten, um den Ozean zu überqueren, in seinen Hafen einzulaufen und sich in das Hochland zu schleichen, um seinem Volk zu verkünden, dass er für den Kampf heimgekehrt ist. Stattdessen ist er hier, wo es keine Sonne gibt, wo alles, was atmet, im Schatten überlebt.

Maaza Mengiste – Der Schattenkönig, S. 363

Ein hierzulande reichlich unbekanntes Kapitel äthiopisch-italienischer Geschichte bringt die 1971 in Addis Abeba geborene Autorin Maaza Mengiste aufs Tapet. Sie schildert in Der Schattenkönig den Abessinienkrieg 1935 und den Kampf der Äthiopier*innen gegen die Besatzer. Fordernde Lektüre.


Verfolgt man nicht gerade ganz genau die aktuelle Nachrichtenlage oder liest beste italienische Literatur, dann kommt einem das Thema Äthiopien und das des Abessinienkriegs heute nicht mehr häufig unter. Das Bestreben Benito Mussolinis nach Expansion, die Überrumpelung des Gegners und der Einsatz von Massenvernichtungswaffen sind hier in Deutschland ein Kapitel, das wir auch eingedenk der eigenen Geschichte, nicht wirklich präsent haben. Maaza Mengiste holt dieses Kapitel mit voller Wucht wieder hervor und macht den Krieg und das damit verbundene Leid wieder erfahrbar.

Hirut und Ettore

Hierzu stellt sie zwei Figuren in den Mittelpunkt: Hirut, die im Haus von Aster und deren Mann Kidane als eine Art Leibeigene lebt. Und später wird dann noch Ettore Navarra in den Fokus rücken. Er ist ein venezianischer Soldat, der unter seinem Befehlshaber Fucelli das Land Hiruts besetzt.

Maaza Mengiste - Der Schattenkönig (Cover)

Doch zunächst lernen wir Hirut kennen, der einzig ein wuijgara von ihren Eltern geblieben ist. Dieses Gewehr soll sie nur in höchster Not abfeuern, so brachte es ihr Vater bei. Doch nun behält es Kidane ein. Er ist der Abkömmling großer Krieger und sieht sich in der Verantwortung, nach der Besatzung seines Landes durch die faschistischen Italiener Gegenwehr zu leisten. Er schart eine Gruppe lokaler Bauern um sich, um den Truppen Mussolinis (oder Mussolonis, wie er in Äthiopien geheißen wird) Paroli zu bieten. Seine Frau Aster und Hirut werden trotz eines mehr als komplizierten Verhältnisses zueinander zu Unterstützerinnen in diesem Kampf.

Derweil ficht Ettore seinen ganz eigenen Kampf aus. Er hadert ebenfalls mit seiner Herkunft, auch sein Verhältnis zu seinen Eltern ist nicht einfach. Diese Herkunft erweist sich zudem als Gefahr für ihn, da er, wenngleich nicht praktizierend, Jude qua Abstammung, ist. Und Mussolini treibt die antisemitischen Säuberungen im Militär voran, sodass Navarra permanent unter Beobachtung steht. Für seinen brutalen Vorgesetzten Fucelli dokumentiert er derweil mit der Kamera den Eroberungsfeldzug und die unglaublichen Gräuel, die die Schwarzhemden vor Ort verursachen.

Die Herkunft beziehungsweise die Aufgabe der beiden Charaktere formen auch über die beiden Erzählstränge hinweg die Struktur des Buchs. Denn immer wieder unterbrechen Fotobeschreibungen und Chor-Einschübe die Handlung und rhythmisieren so das Ganze. Und zu guter Letzt flicht Maaza Mengiste auch immer wieder Passagen ein, in denen sie sich in den Kaiser Haile Selassie einfühlt, wie etwa im Eingangszitat. Der Herrscher, der ins Exil nach England flieht und mit seinen eigenen Entscheidungen hadert, bildet so etwas wie die dritte Hauptfigur.

Die Grausamkeiten des Abessinienkriegs

Durch diese drei Figuren entsteht ein Panorama des Abessinienkriegs, das von Leid, Unterdrückung und unfassbarer Gewalt erzählt. So schildert Mengiste plastisch den Tod, den Mussolinis Schwarzhemden über die Menschen bringen. Sie setzten Gas gegen die lokale Bevölkerung ein. Navarras Vorgesetzter Fucelli errichtet im Hochland ein Lager, in das er Gefangene interniert und hundertfach in den Tod schickt. Während Ettore Navarra mit der Kamera das Geschehen dokumentiert, lässt Fucelli die Äthiopier über Klippen in der Nähe des Lagers in den Tod springen.

Hier wird der Krieg mit seiner ganzen Härte erfahrbar. Aber auch Hiruts Kampf und Verzweiflung zeichnet Maaza Mengiste plastisch nach. Zusammen mit Aster wird sie zur Leibgarde des Schattenkönigs, einer Finte ihres Mannes Kidane. Dieser macht einen Musiker zum Wiedergänger des geflohenen Präsidenten, der langsam in seine Rolle als Schattenkönig hineinfindet und die Äthiopier zum Durchhalten motiviert und unter den Italienern für Ablenkung sorgt.

So zoomt die Autorin auf die persönlichen Erfahrungen und stellt den Kampf in seiner ganzen Unmittelbarkeit dar. In dieser erzählerischen Mikroebene bleibt Maaza Mengiste ganz eng an ihren Figuren, Empfindungen, Gedanken und Reflexionen überwiegen. Persönlich hätte ich mir angesichts des hochspannenden und komplexen Themas noch etwas mehr Makroebene gegenüber der dominierenden Introspektive gewünscht. Der geschichtliche Rahmen, der politische Überblick und die Einordnung des Ganzen bleiben hinter dem subjektiven Blick zurück und fehlten mir persönlich. Viele Informationen zum Geschehen musste ich mir über Sekundärliteratur verschaffen.

Auch wäre mir eine etwas stärkere erzählerische Ausbalancierung zwischen den Figuren zupassgekommen. So bleibt Ettore zunächst blass und kaum greifbar, während Hirut stark im Vordergrund steht. Eine besser getaktete Engführung zwischen diesen beiden Figuren hätte mir persönlich gefallen.

Wie sie aber von ihnen erzählt, für Hirut, Ettore und Selassie eine eigene Sprache findet, das beeindruckt doch und rechtfertigt auch die Berufung in die finale Auswahl des Booker Prizes 2020. Zudem kommt hier mit Hirut eine Figur zu Wort, die in den herkömmlichen Chroniken sicher vergessen worden wäre. Sie steht symbolisch für den Krieg aus weiblicher Perspektive. Ihre Erfahrungen, ihr Kampf mit eigenen Mitteln und ihre Verarbeitung des Kriegs stehen als Sinnbild für viele tausende andere Abessinier*innen, die sonst nicht einmal als Fußnote in der Geschichtsschreibung auftauchen.

Fazit

In Der Schattenkönig beschwört Maaza Mengiste ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel italienisch-äthiopischer Geschichte herauf. Das Buch nur als Schilderung des Abessinienkriegs aus einer sonst eher marginalisierten Perspektive auszugeben, würde Mengistes Buch allerdings Unrecht tun. Die Erfahrungen, die der Krieg bedeutete, das unmittelbare Leid und der parallele Blick auf Unterdrücker und Unterdrückte machen aus diesem Buch eine eindringliche Lektüre, die zu weitergehenden Beschäftigung mit dieser Materie einlädt. Übersetzt von Patricia Klobusiczky und Brigitte Jakobeit.


  • Maaza Mengiste – Der Schattenkönig
  • Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit und Patricia Klobusiczky
  • ISBN 978-3-423-28292-5 (dtv Literatur)
  • 576 Seiten. Preis: 25,00 €
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Andreas Pflüger – Ritchie Girl

In den letzten Monaten hat wieder zunehmend eine Debatte eingesetzt, die um das Erbe deutscher Firmen in der Zeit des Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Konsequenzen kreist. Viel Aufmerksamkeit erzeugte das Gespräch von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, in dem sie sich auf Instagram über das Erbe des Nationalsozialismus und die Frage von Kontinuitäten unterhielten. Doch nicht nur Hilal und Varatharajah thematisierten öffentlichkeitswirksam die Frage nach Verantwortung, die aus dem nationalsozialistischen Erbe erwächst. Auch Jan Böhmermann beschäftigt sich immer wieder in einem Showsegment seines ZDF Magazin Royal mit der Familie Stoschek. Diese sehen sich aufgrund ihres Umgangs mit ihrem Familienerbe, das durch den Wehrwirtschaftsführer Max Brose begründet wurde, der Kritik des Satirikers ausgesetzt.

Der Umgang mit der eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist bisweilen arg sorglos und unreflektiert, wie etwa der Fall von Verena Bahlsen zeigt. Die Aufarbeitung des Erbes dauert nach wie vor an, vieles verschweigen Firmen und scheuen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Zu diesen aktuellen Debatten passt auch das neue Buch von Andreas Pflüger ganz hervorragend, in dem er die Verflechtungen deutscher und amerikanischer Firmen und Strippenzieher zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet. In Ritchie Girl steigt er tief hinab in die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen von Nazis und Amerikanern, fragt nach Schuld und erzählt von einer jungen Frau, die der machtpolitische Pragmatismus und das bewusste Wegsehen ihre Mitmenschen an die eigenen Grenzen bringt. Ein eindringliches Buch und sicherlich keine leichte Kost.

Zurück nach Deutschland

Nach seinem BRD-Kartellepos Operation Rubikon und der exquisiten Thriller-Trilogie um die blinde Polizistin Jenny Aaron wechselt Pflüger nun das Fach und erzählt einen historischen Roman, der zurückführt in die letzten Tage des Dritten Reichs und der unmittelbaren Zeit danach. In einem Vorklapp erzählt Pflüger von Paula Blooms Ankunft in Italien, das gerade inmitten von Chaos versinkt. Die Deutschen befinden sich auf dem Rückzug. Deserteure, widerständige Nazis und ein verhafteter Duce sind nur einige Faktoren in dem ganzen Chaos, das Paula am eigenen Leib erlebt. Nachdem sie in Berlin in einer Villa am Hundekehlesee aufgewachsen ist, hat sie nach ihrer Flucht nach Amerika beschlossen, in das Land ihrer Väter zurückzukommen. Sie will verstehen, wie es mit dem Land so weit kommen konnte. Doch ihre Bereitschaft zum Begreifen wird von den Geschehnissen vor Ort auf eine harte Probe gestellt.

Nach einem Zeitsprung erzählt Pflüger dann von der Ankunft Paulas im zerstörten Deutschland. Als Teil der Streitkräfte wird sie im sogenannten Camp King untergebracht, dem Areal, auf dem sich neben dem Militär auch zahlreiche Nazis tummeln. Egal ob Gehlen, Streicher oder Speer, sie alle befanden sich dort und wurden von den Amerikanern verhört. Und obwohl Paula aufgrund ihres Geschlechts beständig angefeindet wird, ist es gerade dieses Geschlecht, das sie in den Augen der Verantwortlichen für einen ganz besonderen Fall prädestiniert. Denn neben all den ranghohen Nazis sitzt auch ein ganz besonderer Mann im Camp King ein, der von sich behauptet, ein legendärer Spion im Dienst der Nazis zu sein. Doch kann man dem Mann trauen? Um einen Zugang zu dem potentiellen Spion zu finden, setzt man Paula auf ihn an. Doch das, was ihr der Mann in den Verhören offenbart, ist dazu angetan, Paulas Welt auf den Kopf zu stellen.

Skrupellose Geschäftemacher und historische Kontinuitäten

Ritchie Girl ist ein Roman, der die letzten Kriegstage wieder zum Leben erweckt. Er erzählt vom gnadenlosen Opportunismus der Nazis und der Amerikaner, deren Pragmatismus nicht selten zum Verwechseln gleicht. Paula als Deutsch-Amerikanerin ist besonders sensibel für diese Verwerfungen, die Pflüger mit großer Detailschärfe skizziert. So erzählt von vom skrupellosen Allen Dulles, der mit den Nazis Geschäfte machte, mithilfe der Operation Sunrise sogar mit den Nazis über eine Kapitulation und den gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus verhandelt. Der jüngere Bruder des späteren Außenministers John Foster Dulles ist nur eine der Figuren, deren moralische Skrupellosigkeit im Buch schaudern macht.

Andreas Pflüger - Ritchie Girl (Cover)

Ähnlich wie Chris Kraus in Das kalte Blut beschäftigt sich auch Andreas Pflüger in seinem Buch mit der Kontinuität der Täterkarrieren der Nationalsozialismus, beispielsweise der von Reinhard Gehlen, den man zum Chef der Operation Gehlen, dem späteren BND machte. Pflüger zeigt in seinem Roman die Geräuschlosigkeit auf, mit der man den strammen Nazis erlaubten, als Entscheider und Führungskräfte in der BRD nahezu unbeschadet ihrer Karrieren fortzusetzen. Der Kalte Krieg und der drohende Kommunismus stand ja vor der Tür, sodass man die Tätigkeit der Kader während 1933 und 1945 lieber nicht hinterfragte, sondern sie in Machtpositionen und Schaltstellen hievte. Einmal mehr rechtfertigte der Krieg die Mittel. Ein Zustand, an dem Paula Bloom in Pflügers Roman zunehmend verzweifelt.

Da kann auch der Besuch der Nürnberger Prozesse keine wirkliche Abhilfe schaffen. Paula Blooms moralischer Kompass stößt in dieser Welt eindeutig an seine Grenzen. Zudem sind die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schuld und Sühne geradezu verschwindend, sodass nicht nur Paula, sondern auch wir als Leser immer wieder an die Grenze des Hinnehmbaren stoßen. Und nicht zuletzt reift auch die Erkenntnis, dass skrupellose, machthungrige und über Leichen gehende Machtmenschen nicht nur auf der deutschen Seite des Verhörtisches sitzen…

Faktensatt und bisweilen schwer erträglich

Pflügers Roman ist wahrhaft keine leichte Lektüre. Das liegt schon am Sujet der Nachkriegszeit und ihrer ganzen Not und Brutalität. Zudem ist Ritchie Girl mehr als faktensatt. Die Verflechtungen der Wirtschaftsinteressen, der Apparat von Amerikanern und Nazis, die Politik von Siegern und Besiegten fächert Pflüger detailliert auf und steigt tief hinab in die Geschichte. Egal ob IBM, amerikanische Dependancen der IG Farben, das Vorkriegsgebaren von amerikanischer Wirtschaftselite und deutschen Nazis – Pflüger thematisiert die mannigfachen (und nach dem Krieg totgeschwiegenen) Beziehungen. Dass ein Essay von Bodo Hechelhammer, seines Zeichens Chefhistoriker des BND, den Roman abschließt, ist bei dieser Fülle an Themen und Material nur konsequent.

Doch nicht nur die faktensatte Erzählweise und die schnellen Dialoge erfordern Aufmerksamkeit. Auch der Inhalt vieler Gespräche ist kaum auszuhalten, etwa wenn Pflüger in Gesprächen Nazis zu Wort kommen lässt, die über den Genozid und die damit verbundenen unmenschlichen Grausamkeiten lachend parlieren. Nazis, die ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus relativieren und ihrem Antisemitismus weiterhin freie Bahn lassen. Solche Verhöre und geschilderte Szenen erfordern einen starken Magen und rufen den Schrecken des Nationalsozialismus noch einmal wach.

Fazit

Liest man Ritchie Girl, erfasst einen die Wut über die Geschmeidigkeit, mit der man die Seiten wechselte und über den Opportunismus, der die Moral schlug. Das Buch ist eine literarisch versierte, rhythmisch durchdachte und ausnehmend gut geschriebene Geschichtsstunde, die das Schweigen vieler über die Rolle ihrer Vorfahren und das Wegducken vor der eigenen Verantwortung anklagt. Das Buch nimmt die historischen Kontinuitäten in den Blick und ist ein genauer Blick auf die moralische Flexibilität, die die Nahtstelle vom Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs für Amerikaner und Deutsche kennzeichnete. Keine leichte Kost, aber mehr als lesenswerte. Einmal mehr bestätigt Andreas Pflüger seine Ausnahmeerscheinung auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt.


  • Andreas Pflüger – Ritchie Girl
  • ISBN 978-3-518-43027-9 (Suhrkamp)
  • 464 Seiten. Preis: 24,00 €
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Franzobel – Die Eroberung Amerikas

Diese Nominierung hat mich wirklich überrascht. Auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 findet sich Franzobel mit seinem Roman Die Eroberung Amerikas. Eigentlich keine so wirkliche Überraschung, schließlich war der Österreicher bereits 2005 mit seinem Roman Das Fest der Steine für den Preis nominiert. 2017 schaffte er es mit Das Floß der Medusa eine Runde weiter auf die Shortlist. Der Sieg damals ging zwar an Robert Menasses Roman Die Hauptstadt – ganz leer ging aber auch Franzobel nicht aus. Er erhielt einen Monat später den Bayerischen Buchpreis in der Kategorie Belletristik. Eine durchaus nachvollziehbare Entscheidung, denn Franzobel gelingt es in diesem Roman fabelhaft, die Geschehnisse rund um den Schiffbruch der Fregatte Medusa zu erzählen, garniert mit postmodernen Brechungen und Ironie.

Eine überraschende Nominierung

Franzobel - Die Eroberung Amerikas (Cover)

Dieses Erzählkonzept recycelt er nun auch für seinen neuen Roman – erleidet diesmal aber wirklich erzählerischen Schiffbruch. Nach dem Erscheinen von Die Eroberung Amerikas im Januar nahm ich mir den Roman gespannt zur Hand, schließlich war sein letztes Werk einer der überzeugendsten historischen Romane, der mir seit langem untergekommen war. Die Spannung wich aber schnell einer Enttäuschung. Denn der Auftakt geriet zu arabesk und unkonzentriert, als dass mich das Buch hätte überzeugen können. Ausschweifende Plaudereien, Sprünge durch die Zeit und maue Gags vermiesten mir den Lesegenuss.

Alles Islamische hatte man unsichtbar gemacht ,aber es gab noch türkischen Honig, ein Dampfbad, Zisternen und hunderte Wörter, deren Ursprung arabisch war: Alkohol, Alchemie, Algebra, Almanach, Algorithmus, Alraune, Allianz Versicherung, Alka Seltzer, Alleluja…

Franzobel – Die Eroberung Amerikas, S. 36

Ich stellte das Buch erst einmal zurück, um jetzt dann im August bei der Verkündung der Longlist überrascht zu werden. Dieses Buch, das zum Erscheinen nur durchwachsenes Kritikerlob erhielt, hatte es tatsächlich auf die Longlist geschafft? Unmittelbar nach der Bekanntgabe griff ich also erneut zu dem Buch. Würde es sich auf den zweiten Blick bewähren können?

Leider nein, wie ich nun nach vielen durchgehaltenen Seiten später feststellen muss. Denn mein Eindruck der ersten hundert Seiten setzt sich im Inneren dieses immerhin 544 Seiten umfassenden Buchs fort. Alles beginnt mit einer Sammelklage, die das Zeug hat, die Grundfesten Amerikas zu erschüttern. Die indigenen Stämme klagen vereint auf die Herausgabe des besetzten Landes, das doch eigentlich ihnen gehört. Der zweite Erzählstrang führt zu einem Mann, der die heutigen Zustände begründet hat. Ferdinand Desoto war ein Eroberer, der 1538 eine Expedition gen Florida unternahm, keifendes Weib, Missionare und tumbe Soldaten inklusive. Der dritte Erzählstrang ist dann der von Elias Plim, der auf einer Tür treibend von einem Piratenboot aus dem Meer aufgelesen wird. Dann gibt es noch die Erzählung eines widerstandsfähigen Anwalts mit Ben Kingsley-Gesicht, der auf der Suche nach einem Erbe halb Spanien durchquert und diesen Erben dann im Gefolge der Desoto-Expedition aufspürt. Und so weiter, und so fort.

Das Erzählkonzept geht nicht auf

Das könnte alles ein funkelndes Erzählwerk sein, doch das ist es leider nicht. Zwar ist Franzobels Erzählkonzept der postmodernen Brechungen, das immer wieder Bezüge in die Gegenwart herstellt, innovativ und tut dem historischen Stoff gut. Doch hier vermag er aus seinem Erzählkonzept einfach keine Funken zu schlagen. Die Erzähltricks kennt man, etwa wenn Franzobel im Floß der Medusa seine Figur des Schiffsarztes Savigny mit dem gleichnamigen Platz in Verbindung brachte. Hier ist es nun eben Desoto, der zum Namensgeber der Automarke von Chrysler wird oder dessen Frau, deren Antlitz sich heute noch auf den Rumflaschen der Marke Havana Club findet. So etwas ist amüsant, bleibt aber das ganze Buch über aber sehr an der Oberfläche. Viel Neues über die Konquistadoren und das Leid, das sie über Amerika brachten, erfährt man hier nicht.

Wo Das Floß der Medusa zur packenden Parabel auf Hybris und Untertanengeist wurde und eine spannende Variante des alten Themas des Narrenschiffs darstellte, fehlte mir in Die Eroberung Amerikas diese zweite Ebene weitestgehend. Das Buch begnügt sich mit der Schilderung von Brutalität und expliziten Schilderungen von Leid, Gräuel und Genozid, ohne dabei das Buch wirklich voranzubringen oder erhellende Funken aus dem Aufeinanderprall von Historie und Gegenwart zu erzeugen. Auch die Figuren sind nicht wirklich interessant gestaltet. Widersprüche oder Ambivalenzen, gar nuancierte Ausdeutungen der Figuren vermisste ich. Der widerstandsfähige Anwalt lässt sich nicht beirren und bereist die halbe Welt auf der Suche nach dem Erben, Desoto will seiner keifenden Frau entkommen, die er nicht liebt, das spanische Volk liebt Hinrichtungen und Gewalt. Ja mei – Entwicklungen bei Figuren sehen anders aus.

Fazit

Trotz vieler erzählerischer Spielereien und auktorialer Erzählkniffe bleibt das Buch doch erstaunlich zäh und langweilig und fällt gegen den Vorgängerroman deutlich ab. Insofern überraschte mich diese Nominierung dieses Buchs wirklich – und ich würde nach wie vor klar zum Floß der Medusa raten, möchten man einen ungewöhnlich erzählten und packenden historischen Stoff erleben. Hier ist alles doch recht mau – und auch die Gags waren schon einmal besser und die Seiten ziehen sich.

Eine echte Überraschung auf der Nominierungsliste, wenngleich für mich keine positive. Auf der Shortlist sehe ich diesen Roman ganz klar nicht. Detaillierter auf die stilistischen Eigenwilligkeiten (die mich so manches Mal zum Verzweifeln brachten), geht Matthias Fischli in seiner Besprechung auf Aufklappen ein. Eine weitere Stimme zum Roman gibt es bei Sounds&Books.


  • Franzobel – Die Eroberung Amerikas
  • ISBN 978-3-552-07227-5 (Hanser)
  • 544 Seiten. Preis: 26,00 €
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Samantha Harvey – Westwind

Frage ich hier in der Bücherei suchende Kundinnen nach einem Vergleichstitel für einen historischen Roman, dann fällt schnell der Titel Der Name der Rose. Wie viele der Kunden allerdings tatsächlich Ecos sperrigen Roman gelesen haben, als vielmehr Jean-Jacques Annauds Verfilmung des Buchs vor Augen haben, das weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass Samantha Harvey ein Buch geschrieben hat, das erstaunlich viele Berührungspunkte mit Umberto Ecos Roman aufweist. Der Titel des Buchs: Westwind.


Darin erzählt sie die Geschichte des Priesters John Reve. Vier Tage sind es, die uns der Geistliche schildert, oder besser gesagt: beichtet. Denn mit der Beichte kennt er sich aus. Als zuständiger Geistlicher im kleinen Örtchen Oakham sitzt er tagein, tagaus im eigens für die Kirche angeschafften Beichtstuhl und hört sich die Sünden seiner Schäfchen an. Manche bereuen aufrichtig, andere gestehen Quisquilien und noch andere lassen ihre Verfehlungen nicht mehr schlafen. Reve muss sich als Seelsorger um sie alle kümmern und zweifelt so manches mal auch an sich und seinen Fähigkeiten.

Besondere Aufregung herrscht im Dorf am Ende der Faschingszeit, nachdem ein Mitbürger verschwunden ist. Der reichste Mann des Dorfes hatte zuvor die Pläne für einen Brückenbau vorangetrieben. Hat er sich in die Fluten gestürzt? Wurde er ermordet? VierTage lang lauscht Reve den Beichten der Dorfbewohner und befragt sich selbst. Angetrieben wird er dabei auch von seinem Dekan, der extra angereist ist und ihn unter Druck setzt.

Diese vier Tage schildert uns John Reve allerdings nicht chronologisch. Vielmehr wählt Samantha Harvey einen besonderen erzählerischen Clou. Denn die vier Tage werden uns rückwärts erzählt, beginnend beim Fastnachtdienstag, endend am Fastnachtssamstag. Alles beginnt mit der Sichtung der Leiche, alles endet mit dem Verschwinden des Dorfbewohners.

Ein origineller historischer Krimi

Samantha Harvey - Westwind (Cover)

Dadurch weiß sich Westwind von der Fülle anderer historischer Krimis abzusetzen. Auch gelingt es Samantha Harvey eindrücklich, das Dorf und das soziale Leben dort im Mittelalter zu schildern. Die große Armut, die Versuche der Dorfbewohner*innen, sich ein ökonomisches Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen, die dumpfe Enge und intellektuelle Armut in Oakham. All das schildert Harvey eindrucksvoll und lässt so das „dunkle“ Mittelalter noch einmal auferstehen.

Wie ihr Priester tagein, tagaus im Beichtstuhl sitzt, die Geständnisse seiner Mitbewohner*innen entgegennimmt und ihnen die Absolution erteilt, mal gelangweilt, mal abgestoßen, mal interessiert, das vermag sie gut zu schildern. Allerdings ist diese Routine und erzählerische Gemächlichkeit ein Knackpunkt des Buchs, an dem sich die Leseerwartungen scheiden dürften. Denn Westwind ist alles andere als ein vorwärtsdrängender und pulsierender Thriller. Auch ein Ermittlerkrimi ist Harveys Werk nur bedingt.

Ein Bild aus Beichten

Die Spannung in diesem Buch speist sich aus der Frage, was mit dem Verschwundenen passiert ist. Der Wahrheit kommen wir als Leser*innen allerdings nur langsam auf die Spur. So ergeben viele Ereignisse erst in der Rückblende über die vier Tage einen Sinn. Mit dem Rückschritt in der Zeit verbinden sich langsam viele Punkte zu einem Muster. Die verschiedenen Beichten fügen sich langsam zusammen und lassen klarer sehen. Hierfür braucht es aber Geduld, denn die Handlung ergibt sich hier weniger aus der Außenhandlung, denn aus dem geistigen Puzzlearbeit.

In dieser Herangehensweise steht Harvey auch in der Tradition von Umberto Eco. Wie sich sein William von Baskerville unter den Mönchen umhört, mit ihnen spricht und so einen Eindruck gewinnt, das erinnert an die Beichtarbeit des Priesters, wenngleich wir hier anstelle von Adson von Melk die Assistenten sind, die sich ihre Gedanken machen. Das alleine als Analogie wäre allerdings reichlich dünn, eine Vielzahl von Krimis folgen ja diesem erzählerischen Grundmuster. Warum also meine Assoziation zu Der Name der Rose?

Viele weitere Merkmale von Westwind ähneln denen in Ecos Roman. Ein Geistlicher als Ermittler im tiefsten Mittelalter, ein rätselhafter potentieller Todesfall, ein abgeschlossener Kosmos voller Verdächtiger, Menschen, die die Bibel als Leitstern, aber auch als Drohkulisse interpretieren – und aus der Ferne drohen auch noch die Mönche der nahegelegen Abtei, den Grundbesitz der Dörfler zu beschneiden. Das alles sind Elemente von Samantha Harveys Buch, die einen ungewöhnlichen Mittelalterroman verfasst hat.

Fazit

Sollte künftig also wieder der eine Leser oder die andere Leserin nach einem Buch in der Tradition von Der Name der Rose fragen – jetzt habe ich einen guten Vergleichstitel, der durch seine verschachtelte Konstruktion und einen erzählerischen Clou überzeugt. Ein Buch, das das Dorfleben im Mittelalter plastisch beschreibt. Und das zeigt, wie komplex die Suche nach einer vermeintlich einfachen Wahrheit sein kann.


  • Samantha Harvey – Westwind
  • Aus dem Englischen von Steffen Jacobs
  • ISBN 978-3-85535-077-3 (Atrium)
  • 350 Seiten. Preis: 22,00 €
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