#büchergegenrassismus

Mit großer Sorge blicke ich in die USA, in denen sich momentan Szenen abspielen, die fassungslos machen. Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd scheinen die Gräben zwischen den Gesellschaftsschichten tiefer als je zuvor. Der Protest gegen Polizeigewalt und omnipräsenten Rassismus bricht sich nun Bahn. Die Demonstrationen und Aufstände sind die Auswirkungen eines lang schwelenden Konflikts in der amerikanischen Gesellschaft, der bis zurück in die Gründungsjahre der Nation reicht. Es begann mit der Versklavung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung und führt in einer Linie bis ins Jetzt, in dem ein Präsident munter Benzin ins Feuer gießt, indem er die Spaltung seiner Bevölkerung vorantreibt. George Floyd ist nur ein Symptom von vielen.

Aber auch wir in Deutschland brauchen uns nichts vormachen. Rassismus, Ausgrenzung und Polizeigewalt existieren hier ebenso. Das beweisen nicht zuletzt Fälle wie der von Oury Jalloh, Amir Ageeb oder Rooble Warsame. Mag die Lage hier mit der in den USA kaum vergleichbar sein – massive Probleme mit Rechtsextremismus, Antisemitismus oder rassistische Tendenzen gibt es auch in diesem Land.

Bücher – eine stumpfe Waffe?

Können Bücher da etwas bewirken? Können sie dem Rassismus und Extremismus begegnen? Obwohl ich ja ein großer Enthusiast bin, was das geschriebene Wort angeht, würde ich sagen: eher nein. Schließlich sind diese ganzen Probleme, vor denen wir stehen, altbekannte. Schon im 19. Jahrhundert entstanden Romane wie etwa Harriet Beecher Stowes Onkel Toms Hütte, die sich mit Rassismus und dem Schicksal von Afroamerikaner*innen auseinandersetzten. Die Probleme sind also bekannt. Seitdem ist nicht viel geschehen. Das geschriebene Wort ist eine stumpfe Waffe, was den Kampf gegen Ungerechtigkeiten angeht.

Eine Waffe, die aber trotzdem ihre Berechtigung hat. Denn wenngleich Bücher konkret wenig an herrschenden Verhältnissen verändern, so ist es doch das Denken, auf das sie einen großen Einfluss haben können. Bücher können Sachverhalte vor Augen führen, Privilegien sichtbarmachen oder Diskurse anstoßen. Freilich: ohne einen aufgeschlossenen Geist wird das alles nichts – aber bei den Leser*innen der Buch-Haltung gehört eine solche Offenheit ja eh zur Grundeinstellung.

Insofern möchte ich an dieser Stelle unter dem Schlagwort #büchergegenrassismus auf ein paar Bücher hinweisen, die mir die Augen geöffnet haben oder Themen des Rassimus auf besondere Art und Weise verhandeln.

#büchergegenrassismus

Da sind zunächst einmal einige Titel aus der Schönen Literatur, die sich ungeschminkt dem Rassismus, seinen Ursprüngen und Auswirkungen widmen:

Ein Gigant der Literatur, der bei uns nun sukzessive wiederentdeckt wird, ist James Baldwin. Wie er in Beale Street Blues die Liebe eines jungen afroamerikanischen Paares und die Widerstände, mit denen sie zu kämpfen haben, inszeniert, das ist meisterhaft (Übersetzung Miriam Mandelkow). Ebenso meisterhaft ist Ann Petrys nun wiederentdeckter Roman The Street – Die Straße, der die Kämpfe einer jungen alleinerziehenden Frau in den Straßen Harlems beschreibt. Wie sie sich gegen das Patriarchat durchsetzen muss, das beeindruckt (übersetzt von Uda Strätling).

Auch Colson Whitehead vermittelt unglaublich eindrücklich, wie es sich als schwarzer junger Menschen damals in den USA anfühlte (und wohl bis heute noch tut). In Die Nickel Boys erzählt er von einem Jungen, der in einer Besserungsanstalt in Abgründe blickt. In Underground Railroad (für den er ebenfalls den Pulitzer Preis zugesprochen bekam), erzählt er von einem geheimen Fluchtnetzwerk. Dieses ermöglichte Sklaven aus dem Süden der USA in den Norden zu fliehen, wo die Sklaverei schon abgeschafft war.

Beeindruckend auch die Memoiren von Maya Angelou. Sie erzählt von ihrer Kindheit, der Angst vor dem Ku-Klux-Klan und dem Weg bis hin zur ersten schwarzen Straßenbahnschaffnerin. Das Streben nach Bildung und der omnipräsente Rassismus, den sie schon als Kind erfuhr, sind Themen.

Auch Krimis beleuchten die Lage

Auch Spannungsautor*innen nehmen sich der sozialen Ungerechtigkeit und des strukturellen Rassismus an. So zählen die Bücher von Ryan Gattis, Thomas Mullen oder Leonard Pitts jr. zu den Büchern, die ich unbedingt empfehlen würde.

Gerade In den Straßen die Wut klingt wie der Buchtitel der Stunde. Darin erzählt der Amerikaner von den Rodney King-Unruhen, die Los Angeles 1992 erfassten. Rassistische Polizisten, Gangs, die alte Rechnungen begleichen und eine Stadt im Ausnahmezustand. Wie sich das gerade anfühlen muss in den USA, hier kann man es erleben (übersetzt von Ingo Herzke).

Genauso verdient Grant Park (Deutsch von Andrea Stumpf und Gabriele Werbeck) eine uneingeschränkte Empfehlung. Leider ziemlich untergegangen erzählt der Roman des Kolumnisten Leonard Pitts jr. von zwei zentralen Ereignissen der afroamerikanischen Geschichte. Nämlich der Ermordung Martin Luther Kings und der Inauguration Barack Obamas.

Auch A.G. Lombardos Graffiti Palast ist ein Roman, der in Zeiten wie diesen prophetisch wirkt – obwohl er doch eigentlich im Jahr 1965 spielt. Er erzählt im Buch von Monk, einem Mann zwischen Schwarz und Weiß, der sich der Entschlüsselung von Graffitis verschrieben hat. Im Buch möchte er eigentlich nur nach Hause marschieren. Doch dann brennt Los Angeles. Aufstände beginnen, die schwarze Bevölkerung wehrt sich gegen die Unterdrückung. Und Monk mittendrin (übersetzt von Jan Schönherr).

In den Süden der USA entführen auch zwei andere Tipps. In Paris Trout erzählt Pete Dexter vom gleichnamigen weißen Ladenbesitzer, der ein schwarzer Mädchen erschießt. Er weigert sich das Unrecht einzusehen und niemand aus der lokalen Bevölkerung wagt es, Gerechtigkeit einzufordern. Ernst ein Anwalt versucht es und löst eine Katastrophe aus. (Übersetzt von Jürgen Bürger).

Und beim (auch verfilmten) Klassiker In der Hitze der Nacht von John Ball ist es ein schwarzer Detective, der gegen Widerstände ein Verbrechen im Süden der USA aufklärt, möchte ich eine dringende Empfehlung aussprechen, wenngleich das Buch nur noch antiquarisch erhältlich ist (übersetzt von Beate Felten-Leidel).

Sachbücher

Und auch viele Sachbücher, die sich mit dem Rassismus und seinen Facetten beschäftigen, sind in letzter Zeit auf dem Buchmarkt erschienen. Was Sachbücher anbelangt, empfehle ich diese hier besonders: Alice HastersWas weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen (aber wissen sollten). Ebenso ist Reno Eddo-Lodges Buch Warum ich nicht länger mit Weißen über Hautfarbe spreche (übersetzt von Anette Grube) eines der Bücher der Stunde.

Für die amerikanischen Verhältnisse und Ursprünge empfiehlt sich auch dieses Buch: Gebrandmarkt. Darin schildert Ibrahim X. Kendi die Geschichte des Rassismus in Amerika. Auch wartet das Buch mit bedrückenden Fakten auf. So ist etwa die Wahrscheinlichkeit, als Schwarzer von der Polizei erschossen zu werden, 21 mal höher als die für Weiße (übersetzt von Susanne Röckel und Heike Schlatterer).

Und nicht zuletzt sorgte dieses Buch in Deutschland für viel Aufsehen. In Eure Heimat ist unser Albtraum schreiben Autor*innen wie Sasha Marianna Salzmann, Sharon Dodua Otoo oder Olga Griasnowa über ihre Erfahrungen mit Deutschland, Rassismus und der Frage von Heimat und Identität. Augenöffend.

Was sind eure #büchergegenrassismus? Was habt ihr gelesen oder was hat euch die Augen geöffnet? Kommentiert gerne und ergänzt meine kleine Auflistung!

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Arne Dahl – Vier durch Vier

Skandinavien-Krimis boomen nach wie vor in allen Dareichungsformen. Egal ob Serie (Die Brücke oder The Valhalla-Murders) oder als Buch. Die Nachfrage nach düsteren, verschachtelten Krimis ist ungebrochen. Und ein Autor, der diese Nachfrage besonders gut befriedigen kann, ist der Schwede Arne Dahl. Eigentlich heißt er Jan Arnald, der große Erfolg kam dann aber mit seinem Pseudonym. So schuf der Schwede die zehnbändige Reihe um die schwedische A-Gruppe und das OPCOP-Quartett über eine supranationale europäische Spezialeinheit.

Im Januar 2016 begann Dahl eine neue Reihe. Diesmal im Fokus: zwei ehemalige schwedische Polizisten. Er, Sam Berger, von der Kriminalpolizei. Sie, Molly Blom, vom schwedischen Nachrichtendienst SÄPO. Schon im ersten Band der Reihe wurden sie beide zu Parias, die sich fortan als Privatermittler durchschlugen. Hatte die Reihe im zweiten Band mit dem verworrenen Fall Sechs mal Zwei einen klaren Durchhänger, stabilisierte sich Dahl dann wieder mit Band Drei. Übrigens ein Phänomen, das auch im OPCOP-Quartett auftrat, bei dem Band Zwei Zorn der schwächste der Reihe ist.

Nun liegt mit Vier durch Vier der -Überraschung! – vierte Band der Reihe vor. Diesmal steht eine besondere Entführung im Mittelpunkt des Buchs.

Eine besondere Entführung

Nachdem sich Molly am Ende des letzten Bandes von Sam distanziert hatte, geht dieser seinem Broterwerb als Privatermittler zunächst alleine nach. Versicherungsbetrug und Sitzungen bei einer Psychologin. So sieht der Tagesablauf des ehemaligen Polizisten aus, bis er von seiner Therapeutin in eigener Sache angeheuert wird. Eine ihrer Patientinnen wurde entführt. Und da die Entführer keine Polizei wollen, erscheint ihr Sam als der richtige Mann für den Job.

Arne Dahl - Vier durch Vier (Cover)

Doch es gibt Unstimmigkeiten. Je weiter Sam (bald auch wieder mit Molly an seiner Seite) ermittelt, umso unklarer wird die Lage. Warum wurde die junge Frau entführt? Und wer hat ein Interesse an ihrem Verschwinden? Je knapper die Zeit wird, umso verwirrter wird Sam. Worum geht es bei dieser Entführung wirklich?

Arne Dahl gelingt es in diesem Buch, dem schon wirklich auserzählten Entführungstopos neue Seiten abzuringen. Denn mit dieser Entführung setzt eine Geschichte ein, deren Spuren bis zur russischen Mafia in Schweden und Mollys Vergangenheit als Undercover-Ermittlerin führen.

Vier durch Vier besitzt Drive, geizt einmal mehr nicht mit blutigen Schilderungen, hat einen ungewöhnlichen Plot und sticht aus dem üblichen Skandinavien-Serienkiller-Gros heraus. Man muss sich doch auch wundern, wie es Arne Dahl gelingt, bei seinem Output von einem Buch pro Jahr immer noch solche frischen Krimis zu entsinnen, die neue Pfade gehen. Und obwohl Vier durch Vier ja schon drei Vorgängerbänden mit einem vorsischtig gesprochen komplexen übergreifenden Erzählkonstrukt hat, kann man diesen Krimi auch gut alleine für sich lesen. Den größten Erkenntnisgewinn in Sachen Beziehungen und Charakterentwicklungen hat man freilich, wenn man auch die vorhergehenden Bücher liest. Aber auch für sich funktioniert Vier durch Vier erstaunlich gut (was bei Dahl ja sonst nicht immer der Fall ist).

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Benjamín Labatut – Das blinde Licht

Wissenschaftsgeschichte als Wissenschaftsgeschichten

Hätte ich Benjamin Labatut in der Schule als Lehrer gehabt, manches wäre sicher anders verlaufen. Mein abstraktes Verständnis von Zahlen, chemischen Elementen oder physikalischen Abläufen wäre ein anderes geworden, dessen bin ich mir sicher. Sind mir heute die Naturwissenschaften fern und zum Teil unverständlich geblieben, so zeigt sich in Das blinde Licht eine Alternative auf, wie die Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen und Forschung auch aussehen kann.

Das blinde Licht demokratisiert auf ästhetisch ansprechende und didaktisch geschickte Art und Weise Wissenschaft und könnte sogar dazu angetan sein, Idiosynkrasien zu kurieren. Und das alleine durch die kluge Entscheidung, Wissenschaftsgeschichte in Wissenschaftsgeschichten zu erzählen.

Benjamin Labatut - Das blinde Licht (Cover)

Das Buch gliedert sich nämlich in vier Geschichten. Die ersten drei umfassen alle circa 30 Seiten. Die vierte Geschichte Wenn wir aufhören, die Welt zu verstehen ist dabei so lang wie die vorhergehenden drei Geschichten zusammen. Alle vier Erzählungen widmen sich unterschiedlichen Disziplinen der Naturwissenschaft. Während Preußischblau um die Chemie, Cyanid und Giftgast im Ersten Weltkrieg kreist, beschäftigt sich Schwarzschilds Singularität mit schwarzen Löchern, dem Astronom Karl Schwarzschild und Albert Einstein.

Die für mich herausragende Erzählung ist dann die Dritte. Das Herz im Herzen kreist um die schier unglaubliche Lebensgeschichte Alexander Grothendieks und die Gefahr, die von Mathematik ausgehen kann. Die letzte Geschichte Wenn wir aufhören, die Welt zu verstehen ist schließlich wie ein Roman selbst mit Prolog, Kapiteln und Epilog aufgebaut. Darin erzählt Labatut vom Kampf der Kontrahenten Erwin Schrödinger und Werner Heisenberg. Ihre Theorien und ihr akademischer Kampf werden dabei genauso wie ihre Hintergründe geschildert. Auch der französische Adelige und Physiker Louis-Victor Pierre Raymond de Broglie hat darin seinen Auftritt.

Vom Wesen der Naturwissenschaften

Man kann mit Benjamin Labatuts vier Geschichten so verfahren wie etwa mit den Erzählungen Ferdinand von Schirachs. Sie sind wahnsinnig gut gemachte Erzählungen, die bestimmte Forschungen oder Momente im Leben ihrer Protagonisten dramatisieren. Mit im Lauf der vier Erzählungen ansteigenden Fiktionsgehalt stellt Labatut das Werk und Wirken seiner fast ausschließlich deutschen Forscher vor. Das ist von großem Unterhaltungswert.

Man kann die Geschichten aber auch als Einstieg in die Welt der Naturwissenschaften und Philosophie nutzen. Denn auch hierfür eignen sich diese Erzählungen auf das Vortrefflichste. Labatut versteht es, komplizierte Erkenntnisse und geistige Arbeit verständlich zu vermitteln. Immer wieder findet er hervorragende Bilder, die die besprochene Thematik verdeutlichen. So vergleicht der Spanier etwa die von Einstein postulierte Krümmung von Raum und Zeit mit einer Kanonenkugel, die auf die Matratze eines Betts gelegt wird. Oder er formuliert wie im Folgenden:

Eines Morgens, als er nichts Besseres zu tun hatte, warf der dänische Forscher [Niels Bohr] einen Blick hinein, und dann las er die Arbeit wieder und wieder, mit wachsender Begeisterung. Bald war er so versunken in Heisenbergs Entdeckung, dass er abends kaum einschlafen konnte. Was der junge Deutsche da vorlegte, war beispiellos: als würde man alle Regeln des Tennisturniers von Wimbledon – angefangen beim weißen Dress für die Spieler bis hin zur vorgeschriebenen Spannung der Netze – allein auf Grundlage der wenigen Bälle ableiten, die über die Stadionmauer hinausflogen, ohne je einen Blick zu werfen auf das, was auf dem Rasen passierte.

Labatut, Benjamin: Das blinde Licht, S. 113

Das macht Lust, sich vertiefend mit den im Buch behandelten Denker*innen zu beschäftigen. Wem Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit zusagten, der hat hier eine wissenschaftliche Variante von Zweigs Geschichtsminiaturen, die ebenso faszinierend sind.

Ein Highlight des erzählenden Sachbuchs

Schön auch, wie Labatut ähnlich dem auf dem Blog schon besprochenen Wense von Christian Schulteisz bedeutende Figuren dem Vergessen zu entreißt, wie etwa den Astronomen Karl Schwarzschild. Und nicht zuletzt ist es auch die Frage nach den Grenzen der Naturwissenschaften, die in Labatuts Buch verhandelt werden.

Diese Geschichten sind brillant formuliert, auf den Punkt geschrieben und bringen selbst abstrakt erscheinende Forschung nahe. Auch die Übersetzung von Thomas Brovot aus dem Spanischen kann nur als gelungen bezeichnet werden. Ein Ereignis im Genre des erzählenden Sachbuchs das neugierig macht auf alles andere, das da noch kommen wird von Benjamin Labatut.

Ein besonderer Hinweis sei an dieser Stelle auch auf die Webpräsenz des Buchs angebracht. Da hat der Suhrkamp-Verlag nämlich ein schönes Online-Spezial zu den Figuren in Labatuts Geschichten ersonnen. Zu finden ist das Ganze hier.

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Chances are …?

Richard Russo – Jenseits der Erwartungen

Was macht eigentlich eine gute Sommerlektüre aus? Die meisten Menschen würden eine Sommerlektüre wohl mit dem Großteil der Spiegel-Bestsellerliste gleichsetzen. Konfektionell geformte Bestsellerware, die sich auch nebenbei am Strand gut wegschmökern lässt. Irgendetwas von Lucinda Riley oder Sebastian Fitzek oder ein „süffiger“ Historienschinken. Hauptsache man kann zwischendurch mal einschlafen oder in den Pool hüpfen und weiß danach gleich wieder, wo man zuletzt war.

Meinen Wunsch nach Anspruch möchte ich aber auch im Sommer und/oder am Strand nicht aufgeben. Ich wünsche mir eine Sommerlektüre, die fesselt, dabei aber auch den Anspruch nicht vergisst und mich zu keinem Zeitpunk unterfordert. Gut lesbar sollte das Ganze natürlich sein, aber eben auch eine tiefergehende Ebene besitzen. Klingt nach einer schwierigen Buchfindung? Mitnichten!

Eine solche Sommerlektüre habe ich aktuell wieder gefunden. Sie stammt vom Pulitzerpreisträger Richard Russo, wurde von Monika Köpfer übersetzt und trägt den Titel Jenseits der Erwartungen. Ein schön melancholischer Titel, der allerdings am englischen Original etwas vorbeigeht. Denn eigentlich trägt das Buch den Titel Chances are … und rekurriert auf einen Song von Johnny Mathis aus dem Jahr 1958. Ein etwas schmalziger Song, den Russo aber geschickt zum Leitmotiv des Romans macht.

Denn Chancen und verpasste Chancen sind das Thema, um das Russos leichtfüßiger aber doch auch melancholischer Roman kreist. Im Mittelpunkt stehen dabei die drei „Musketiere“ Lincoln, Teddy und Mickey. Schon seit Studienzeiten kennen und mögen sie sich. Der kurz bevorstehende Vietnamkrieg und seine Einberufungslotterie hat die Männer damals zusammengebracht. Die Chancen, die ihnen das Leben seither bot, haben sie ganz unterschiedlich genutzt.

Mickey tourte und tourt noch immer als Musiker und Musikproduzent durch die Lande. Teddy verdient sein Geld als Kleinverleger und Lektor in Personalunion , der sich auf christliche Bücher spezialisiert hat. Und Lincoln ist Immobilienmakler geworden. Er besitzt selbst ein Ferienhaus in Chilmark auf der Promi-Insel Martha’s Vineyard. Dort treffen die drei Männer im Alter von 66 Jahren nun wieder aufeinander. Die Amtszeit von Präsident (und ebenfalls Martha’s Vineyard-Urlauber) Barack Obama steht bevor, die Vorwahlen sind in vollem Gange.

Was geschah mit Jacy?

Seit den Studientagen ist bei den drei Männern viel passiert. Alle müssen einsehen, dass ihre Sturm-und-Drang-Phase wohl endgültig vorüber ist, wenngleich einige von ihnen das noch gekonnt verdrängen. Ein anderes Ereignis haben die Männer aber auch so gut es geht verdrängt. Schon einmal verbrachten sie nämlich einen Urlaub in Chilmark, kurz bevor die Einberufungsbefehle für Vietnam ausgesendet wurden. Damals war die Jacy ihr Gast. Die junge Frau hatte allen drei Männern gehörig den Kopf verdreht, doch dabei war sie eigentlich verlobt.

Richard Russo - Jenseits der Erwartungen (Cover)

Doch Jacy verschwand nach dem Urlaub auf Martha’s Vineyard spurlos. Die drei Freunde, allen voran Lincoln, rechnen bis heute mit dem Schlimmsten. Deutlich in seiner zweiten Lebenshälfte stehend und mittlerweile vom Leben einigermaßen resigniert beschließt Lincoln nun, dass es an der Zeit ist. Er will den bis heute schmerzenden Stachel des Nicht-Wissens nun ausmerzen. Was ist wirklich mit Jacy passiert? Er beginnt mit seinen Nachforschungen, die ihm auch neue und überraschende Seiten an seinen Freunden offenbaren, die er doch schon so lange zu kennen glaubt.

Liest man meinen Abriss bis hierhin, könnte man mit einem Krimi im Stile eines Joel Dickers rechnen. Ein ermittelnder Charakter, verborgene Geheimnisse hinter glattpolierten amerikanischen Vorstadt-Fassaden, ein ungewisses Schicksal. Doch das trifft nur teilweise zu. Jenseits der Erwartungen besitzt einen untergründigen Sog, der aus der Frage von Jacys Schicksal resultiert. Doch darüber hinaus bietet Russos Buch viel mehr.

Was vom Leben bleibt

Jenseits der Erwartungen ist eine Meditation, was das Leben mit einem so anstellt, nachdem es einem sein Blatt zugeteilt hat. Was stellt man mit den Chancen an, die sich einem im Leben bieten? Wie nutzt man sein Schicksal und wird glücklich? Mit den drei im Mittelpunkt des Buchs stehenden Protagonisten Lincoln, Mickey und Teddy exerziert Richard Russo das durch. Alle drei gleich alt, alle ähnlich sozialisiert – doch dann drei völlig unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen. Während Mickey noch immer den wilden Rocker mit Motorrad und unstetem Lebenswandel gibt, ist Teddy das genaue Gegenteil. Ein unsicherer, von Anfällen geplagter Textarbeiter, der keine großen Sprünge machen kann. Oder Lincoln mit seiner Familie und dem vermeintlichen Glück, das sich für ihn nicht wirklich so darstellt.

Richard Russo ist ja einer der größten Menschenzeichner, die ich im aktuellen Literaturbetrieb so kenne. Wie ein begnadeter Steinmetz verleiht er seinen Figuren Ecken und Kanten, Macken und Schrullen, und gestaltet sie so unglaublich plastisch. Was ihm in Ein Mann der Tat herausragend gut gelang, das schafft er auch in Jenseits der Erwartungen wieder. Er erzeugt Figuren, mit denen ich mich sofort identifizieren konnte und die mir verständlicher waren, als fast alles, was es sonst in der amerikanischen Literatur so zu lesen gibt. Wie es Russo schafft, alles mit diesem schwebenden heiter-resignativ-sommerlichen Grundton zu grundieren, das ist große Schriftstellerkunst.

Was bleibt vom Leben? Welche Chancen wurden vertan? Im Zusammentreffen der drei Männer gelingt es Russo, verschiedene Szenarien durchzuspielen und so ein einen vielgestaltigen Fächer von den Leser*innen auszubreiten. Gerade auf den letzten Seiten bekommt das Buch auch eine philosophische Tiefe, indem er abermals um die Frage kreist Chances are …?.

Dadurch, dass er immer wieder die Perspektiven abwechselt und andere Blickwinkel einnimmt, entstand bei mir zu keinem Zeitpunkt Langeweile, im Gegenteil. Ich flog durch diese so geschmeidig erzählten Seiten stets mit der Frage im Hinterkopf, was denn jetzt eigentlich mit Jacy passiert ist. Hier schreibt ein souveräner Erzähler, dem genau das gelingt, was ich immer für meine Strandtasche oder den Rucksack für den Baggersee suche: beste sommerliche Lektüre mit Anspruch.


  • Richard Russo – Jenseits der Erwartungen
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN: 978-3-8321-8115-4 (DuMont-Verlag)
  • Preis: 22,00 €, 432 Seiten
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Mariam Kühsel-Hussaini – Tschudi

Ein Roman wie ein Gang durch ein Museum. Mariam Kühsel-Hussaini in „Tschudi“ über Kunst, Geschmack, Intrigen und ein brodelndes Berlin um die Jahrhundertwende. Große Sprachkunst und eine Verneigung vor dem Impressionismus.


Mariam Kühsel-Hussaini gelingt in ihrem neuen Buch (zuletzt von ihr 2012 Attentat auf Adam) das Kunststück, sich mit Worten und Beschreibungen ihrem im Buch verhandelten Subjekt so anzugleichen, dass die Grenzen zwischen Kunst und Literatur verfließen. In Tschudi erschafft sie in ihrem Roman eine ganze Ausstellungshalle aus Ideen, Bildern und Künstler*innen, die auf den Lesenden wie ein wirkliches Museum wirken. Alleine schon die auftretenden Figuren in ihrem Roman lesen sich wie ein Who’s Who der damaligen Kunstwelt.

ADN-ZB/Archiv Berlin 1904: Die Ausstellungsvorbereitung der Berliner Sezession. Vorstand und Hängekommision bei der Arbeit. v.l.n.r. Willy Döring, Bruno Cassirer, Otto Engel, Max Liebermann, Walter Leistikow, Kurt Herrmann, Fritz Klimsch. (Aufn. 1904)

Max Liebermann, Wilhelm Bode, Anton von Werner, Max Klinger, Adolph Menzel, Walter Leistikow oder Leo von König geistern durch die Seiten von Kühsel-Hussainis Roman. Und auch sonst sind es große Namen, die das Buch bevölkern. Cosima Wagner, Walther Rathenau oder auch Harry Graf Kessler sind allesamt Figuren, denen allen eines gemeinsam ist: die Bekanntschaft mit Hugo von Tschudi. Der Schweizer aus altem Adel ist das, was wir heute als Netzwerker bezeichnen würden. Ein kunstsinniger Kosmopolit mit besten Kontakten hinein in die oberen Gesellschaftsschichten und die Kunstwelt.

Und dies kam nicht von ungefähr. Schließlich war der Vater als Schweizer Diplomat und Forschungsreisender tätigt. Der Großvater mütterlicherseits war niemand Geringeres als Ludwig Ferdinand Schnorr von Carolsfeld. So war der Weg für Hugo von Tschudi gewissermaßen schon vorgezeichnet. Durch seine Kenntnisse und Beziehungen prädestiniert wurde er 1896 zum Direktor der Nationalgalerie berufen. Ab diesem Zeitpunkt setzt Kühsel-Hussainis Roman ein, der Tschudis Wesen und Wirken auf höchst beeindruckende Weise schildert.

Tschudi gegen Wilhelm II.

Es ist ein brodelndes Berlin an der Jahrhundertwende, das Mariam-Kühsel Hussaini in Tschudi inszeniert. Während die Gebrüder Aschinger das megalomanische Weinhaus Rheingold am Potsdamer Platz in Betrieb nehmen, treibt der Journalist Maximilian Harden den Kaiser Wilhelm II. vor sich her (und wird später die Harden-Eulenburg-Affäre auslösen).

Hugo von Tschudi
Hugo von Tschudi

Der Kaiser steht unter Druck – und prallt nicht nur in Sachen Kunstverständnis des Öfteren mit Tschudi zusammen. Denn während Tschudi fleißig französische Meister für die Nationalgalerie ankaufen lässt, darunter etwa Manets Im Wintergarten (der auch das Buchcover ziert), steht der Kaiser für ein traditionelleres Kunstverständnis. So kann der Monarch weder mit Impressionismus noch mit der Berliner Secession etwas anfangen. Die neuartigen Ausdrucksweisen verstören Wilhelm II. Dass ihm historisierende Maler wie Anton von Werner oder der Museumsdirektor Wilhelm Bode zusätzlich ihr traditionelles Kunstverständnis einimpfen und gegen Tschudi opponieren, macht die Sache für den visionären Schweizer Museumsmacher nicht einfacher.

Während Fans wie etwa Cosima Wagner extra aus Bayreuth anreisen, um in der Gesellschaft des Schweizers die Nationalgalerie zu besuchen, brauen sich am Berliner Himmel dunkel Wolken zusammen. Doch der unter der tückischen Hautkrankheit Lupus leidende und trotzdem höchst virile Tschudi merkt davon erst viel zu spät etwas.

Impressionismus in der Sprache

Man kann von Tschudi nicht reden, ohne von seiner Sprache zu reden. Denn was Mariam Kühsel-Hussaini hier schafft, ist außergewöhnlich. Sie schafft es, die suggestive Kraft des Impressionismus mit ihren Worten abzubilden und so ein außergewöhnliches Lesegefühl zu erzeugen.

Beispielhaft sei hier nur ein Absatz aus dem Roman zitiert, der den Suizid des Malers Walter Leistikow beschreibt. Mit nur wenigen hingetupften Worten entstehen so ganze Bildwelten.

Draußen versank Berlin in den frühen Sommerabend.

Ein Spreetaucher wurde an der Schlossbrücke herausgezogen und sah Tschudi durch das kleine rechteckige Fenster seines alten Helmkastens an.

Tschudi ihn.

Lange.

Und Walter Leistikow legte den Lauf seiner Pistole hart gegen die Braue, als er am Fenster seines Sanatoriums stand, die Stirn fest ans Glas gepresst.

Vollkommen stumm.

Drückte er ab.

Ein spätgotisches, rot zerlaufendes Kirchenfenster.

Kühsel-Hussaini, Mariam: Tschudi, S. 296 f.

Dieses Buch ist mit einer suggestiven Sprachkraft geschrieben, die ihresgleichen sucht. Mal lyrisch im Ton, mal stakkatohaft mit gerade einmal einem Wort pro Zeile, dann wieder elegisch oder vorantreibend, teilweise im Dialekt. Auch die Kapitel sind ganz unterschiedlich verteilt, springen zwischen Tschudi und Wilhelm II. hin und her, erstrecken sich über viele Seiten oder sind dann wieder ganz kurze Miniaturen. 72 dieser so unterschiedlichen Kapitel hat die 1987 geborene Autorin auf insgesamt 320 Seiten arrangiert. Kapitel, die alle für sich genommen kleine Kunstwerke sind.

Nicht alles funktioniert

Bei einem solch vielgestaltigen Bildersturm entstehen aber auch einige weniger überzeugende Produkte, das soll hier nicht verhehlt werden. Gibt es in jedem Museum wohl auch Kunstwerke, die sich dem Betrachtenden nicht erschließen oder ihm nicht zusagen, so gilt das auch für Kühsel-Hussainis Roman. Gerade zu Beginn des Romans meint es die in Kabul geborene Autorin besonders gut. Da pumpt ein Vakuum aus Traurigkeit das Herz leer oder Tschudi fliegt bewusstlos durch den Abend (wie bewusstloses Fliegen funktioniert, habe ich noch nicht verstanden, auch wenn mir klar ist, was Kühsel-Hussaini ausdrücken möchte). Hugo von Tschudi besitzt die schnellsten Tränen, die je ein Mensch geweint oder hinter Augen warten gute Gaben.

Kühsel-Hussaini - Tschudi (Cover)

Manchmal ist das etwas manieriert, pathetisch, ungewollt komisch oder im Suchen nach originellen Wortbildern etwas anstrengend. Dann gelingen Kühsel-Hussaini aber auch wieder unerhörte Metaphern, treffende Vergleiche und eindrückliche Beschreibungen vom brodelnden Berliner Nachtleben oder dem aufkommenden Antisemitismus etwa, die die wenigen nicht funktionierenden Sätze mehr als vergessen machen.

Was Kühsel-Hussaini da mit ihren Worten schafft, ist mehr als nur große Kunst. Das ist Sprachkreativität auf höchstem Niveau, mit dem sie in diesem Frühjahr sogar Valerie Fritsch übertrifft. Etwas in dieser Qualität bekommt man nicht alle Tage zu lesen.

So ist dieser Tschudi vieles. Ein sinnanregender Roman, der Lust auf einen Bummel durch die Alte Nationalgalerie macht. Ein Künstlerroman, der dem Impressionismus ein Denkmal setzt. Und nicht zuletzt ein Sprachkunstwerk, das seinesgleichen sucht.


Bild Hugo von Tschudi: Von unbekannt – www.pinakothek.de, PD-alt-100, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=7987764

Bild „Berliner Secession“: Von Bundesarchiv, Bild 183-1986-0718-502 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5423516

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