Ein Jahr im Cockshutt Wood

John Lewis-Stempel – Im Wald

Nature Writing liegt nach wie vor im Trend. Neben seinem britischen Landsmann Robert MacFarlane zählt auch der Brite John Lewis-Stempel zu den bekanntesten Vertretern des Genres. Nachdem er sich mit Themen wie dem Dasein als jagender Selbstversorger (Mein Jahr als Jäger und Sammler) und einer Wiese (Ein Stück Land) beschäftigt hat, verschlägt es ihn nun in den Wald. Genauer gesagt in den Cockshutt Wood, den er gepachtet hat.

Dieser in der Nähe von Shropshire und der englisch-walisischen Grenze gelegene Wald hat es John Lewis-Stemple angetan. Im Gegensatz zu moderner Forstwirtschaft geht er als Waldpächter noch nach alter Väter Sitte vor. Er lässt wilde Tiere in seinem Wald herumstreifen, hütet darin etwa Schafe, Schweine und Kühe, und setzt Bäume auf den Stock, das heißt, er sägt Bäume über dem Boden ab, sodass diese neu austreiben können.

John Lewis-Stempel - Im Wald (Cover)

Uns Leser lässt er an diesem Leben teilhaben, indem er genau ein Jahr in seinem Wald beschreibt, beginnend im Dezember über den Frühling und Sommer hin wieder bis in den Herbst. Das Werden und Vergehen im Wald und die ewigen Kreisläufe werden so offenbar.

Nun können solche Bücher mitunter schnell langweilig werden. 12 Kapitel, Bäume die wachsen, Vögel die brüten und dann in den Süden ziehen, Herbst und dann schon wieder Winter. So etwas könnte durchaus passieren – aber nicht wenn der Autor John Lewis-Stempel heißt. Denn er vermag es, uns die Faszination des Waldes und dessen Erhabenheit auf großartige Art und Weise näher zu bringen.

Lektionen im Wald

Auch wenn das Buch vorhersehbar chronologisch erzählt ist – sein Inhalt ist es mitnichten. Denn Lewis-Stempel lässt es nicht mit einer puren Erklärung der Kreisläufe in Flora und Fauna bewenden. Vielmehr ist sein Buch eine Wunderkammer, die verschiedene Gattungen und Disziplinen vereint. Immer wieder flicht der Brite Gedichte über den Wald ein, etwa von Robert Frost, Alfred Lord Tennyson oder Rudyard Kipling (die teilweise von der tollen Übersetzerin Sofia Blind selbst ins Deutsche übertragen wurden). Auch gibt es inmitten der Naturbeschreibungen immer wieder Rezepte zu entdecken, so etwa eine Zubereitungsempfehlung für Kastaniensuppe oder Hühnerbrühe mit Judasohren nach thailändischer Art.

Und auch seine Schilderungen des Lebens im Wald sind unglaublich bildreich und sprachmächtig. So vergleicht er Pilze schon einmal mit Sciene-Fiction-Städten oder schildert den Tanz des Hermelins wie etwa das Auftreten der Schlange Ska im Dschungelbuch. Dadurch erzielt er eine Bildlichkeit, die viele andere Beschreibungen des Waldlebens nicht besitzen.

Er vermag es, die Kulturgeschichte seiner im Cockshutt Wald heimischen Bäume zu erzählen (nicht von ungefähr nennt er auch Wilde Wälder von Roger Deakin in den bibliographischen Angaben). Von den Netzwerken der Bäume oder von den Leben seiner Waldbewohner handeln seine Schilderungen, die ein Gefühl für Natur vermitteln.

Ein Naturschriftsteller mit Humor

Zudem ist John Lewis-Stempel auch ausnehmend witzig.

Als Gott die plumpe Waldschnepfe erschuf, muss Er in der gleichen schrulligen Stimmung gewesen sein wie beim Zusammenschustern des Schnabeltiers. Obwohl sie nur so groß ist wie eine menschliche Hand, ragt aus dem Gesicht der Waldschnepfe ein Stilett.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 22

Oder auch solche kleinen Fundstellen wie etwa diese hier:

8. Juni: […] Auf dem Reitweg einen Igel getroffen: an den Hut getippt, Hallo gesagt.

John Lewis-Stempel ist ein Naturschriftsteller im besten Sinne: Umfassend gebildet, mit Auge für skurrile Details, voller Humor und sich selbst nicht übermäßig wichtig nehmend. Und auch wenn er einen etwas geringschätzenden Ton gegenüber seinen eigenen Prosa anschlägt:

Um fünf Uhr morgens mache ich einen Rundgang durch den Wald, dann steige ich mit Freda in den Saab, um an die Somme zu fahren, wo wir um fünf Uhr abends ankommen. Ich arbeite an einem Buch über den Ersten Weltkrieg und muss obskure Eigenschaften der Landschaft überprüfen. Zurzeit empfiehlt man Landwirten, ihre Produktpalette zu erweitern. Mein Nebenprodukt sind Bücher.

Lewis-Stempel, John: Im Wald, S. 209

Der Terminus Nebenprodukte trifft für seine Bücher keinesfalls zu. Bildstark, mit viel Humor und stupend gebildet vermag er es in seinen Werken, auch Städtern wie mir das Tun und Treiben da draußen in der Natur nahezubringen. Im Wald macht da keine Ausnahme. Eine Perle der Gattung Nature Writing. Schön gestaltet (sogar mit kleinen Vignetten) und ein Sachbuch das Lust macht, mal wieder mit offenen Augen und Ohren durch einen Wald zu streifen.


  • John Lewis Stemple – Im Wald
  • Aus dem Englischen von Sofia Blind
  • 284 Seiten, farbige Abbildungen
  • ISBN 978-3-8321-8124-6 (Dumont-Verlag)
  • Kosten: 22,00 €
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Hari Kunzru – Götter ohne Menschen

Ein Roman, so unergründlich wie die Wüste, in der er spielt: Hari Kunzrus Roman Götter ohne Menschen über verschwundene Kinder, kriselnde Beziehungen und Außerirdische.


Geht es um scheinbar Übersinnliches, das in den vernünftigen, geordneten Alltag einbricht, dann ist der Brite Hari Kunzru ein ausgemachter Fachmann. Das bewies er schon in seiner Vintage-Musik/Geisterstory White Tears, in der zwei Musiknerds mithilfe eines Blues-Fragments auf die Spur eines geisterhaften Musikers gelangten, die in den Süden der USA führte.

Nun liegt in der deutschen Übertragung durch Nicolai von Schweder-Schreiner Kunzrus Roman Götter ohne Menschen aus dem Jahr 2011 vor. Ein Buch, das durch seine Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit eine einfache inhaltliche Zusammenfassung kaum möglich macht.

Vielmehr kommt man der komplexen Erzählung Kunzrus am besten mit dem Vergleich eines Baumes nahe. Den Hauptstamm jenes Baums bildet die Geschichte des Paars Matharu. Er, Jaz, ein indischer Einwanderer, zerrissen zwischen dem Wunsch nach Teilhabe an der amerikanischen Aufstiegsgesellschaft und seinen familiären Wurzeln. Sie, Lisa, Mutter von Raj, dem gemeinsamen Sohn, der unter einer Autismus-Spektrums-Störung leidet. Die Ehe kriselt, die beiden Partner leiden unter ganz eigenen Problemen, zudem belastet beide die Situation mit ihrem Kind zusehends. Ein gemeinsamer Ausflug soll Abhilfe schaffen. Bei diesem Trip in Richtung Mojave-Wüste verschwindet Raj dann allerdings spurlos. Wilde Spekulationen über das Paar setzen ein und die Öffentlichkeit nimmt rege Anteil am Schicksal des verschwundenen Jungen.

Geschichten aus drei Jahrhunderten

Um diesen Erzählungsstamm ranken sich diverse Episoden, die Kunzru im 18. Jahrhundert beginnen lässt und die sich bis in die Gegenwart erstrecken. Da gibt es den Bericht eines spanischen Missionars, Geschichten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis hinein in die Flower-Power-Jahre. Inhaltlich vielstimmig sind diese Erzählungen mal an die mündliche Erzähltradition der Indianer angelegt, mal eine wilder Cowboy-Räuberpistole, mal eine höchst aktuelle Erzählung einer aus dem Irak stammenden Geflüchteten. Allen gemein ist, dass sie zu einem Zeitpunkt ihres Lebens in die Nähe einer sagenumwobenen Gesteinsformation in der Wüste kamen.

Hari Kunzru - Götter ohne Menschen (Cover)

Wie ein fein verästeltest Geflecht umgeben diese Geschichte die Haupterzählung. Verschiedene Figuren aus den Episoden tauchen in anderen Geschichten wieder auf. Leitmotive wie die Wüste, das Verschwinden von Kindern oder der Kontakt mit Außerirdischen sind Themen, die in verschiedenen Manifestationen immer wieder hervorscheinen und so ein Netz aus Bezügen herstellen. Diese Verästelungen sind manchmal ganz zart, dann auch wieder offensichtlicher. Alle Suchenden, die Lektüre auch als Schnitzeljagd begreifen, dürften hier ihre große Stunde erleben. Denn hinter Götter ohne Menschen steckt wirklich ein raffiniertes Konzept.

Zu den Kunstfertigkeiten diesen Romans zählt auch, dass Kunzru Themen zusammenbringt, die eigentlich nicht nicht zusammenpassen wollen. So schafft er es, aus der Alienbegeisterung, der Sinnsuche und dem Wunsch nach spiritueller Erfahrung in der Wüste ein Thema zu machen, das in unterschiedlichsten Facetten immer wieder im Buch auftaucht. Die Hinwendung zu einer übersinnlichen Kraft, die schon im Buchtitel thematisiert wird, setzt sich im Buch fort. Und dass, ohne dass das Buch in eine unangenehme theosophische oder esoterische Stoßrichtung kippt. Vielmehr zeigt Kunzru den Wunsch nach Spiritualität, der über alle Zeit hinweg in allen Menschen wurzelt.

Götter ohne Menschen, aber mit literarischer Vielfalt

Eine weitere Stärke dieses grandiosen Frühjahrstitels ist auch seine literarische Vielfalt. Sobald Schriftsteller*innen das Mittel der Multiperspektive für ihre Erzählung wählen, besteht eine ganz große Gefahr: die schriftstellerischen Mittel der Erzählenden sind dergestalt limitiert, dass alle Figuren gleich denken und gleich klingen (wie etwa zuletzt in Simone Lapperts Der Sprung). Obwohl sich der Name der erzählenden Figur ändert, klingt sie genauso wie die anderen Figuren zuvor, mit der wir die Handlung erlebt haben.

Für solche Fehler oder erzählerischen Limitation ist Hari Kunzru viel zu versiert. Mit welcher Akribie er sich in die unterschiedlichen Milieus einarbeitet und deren Welten auf wenigen Seiten glaubhaft zum Leben erweckt, ist meisterhaft. Wie fühlt sich eine Ehe mit einem an Autismus leidenden Kind an? Wie hat ein spanischer Eroberer im 18. Jahrhundert seine Berichte formuliert? Wie fühlt sich ein sinnentleerter britischer Rockstar, der die Flucht in ein anonymes Motel angetreten hat? All diesen höchst heterogenen Figuren verpasst der britische Schriftsteller eine eigene Sprache (toll von Nicolai von Schweder-Schreiner übersetzt) und einen eigenen Blick auf die Welt.

Es macht große Freude, immer wieder in neue Zeiten und neue Lebensgeschichten einzutauchen, die trotzdem miteinander verbunden sind. Ähnlich wie bei David Mitchells Wolkenatlas steht auch hier am Ende ein zeitenüberspannendes Netzt aus Figuren und Geschichten. In meinen Augen große Schrifstellerkunst.

Fein geschrieben, raffiniert komponiert, mit interessanten Motiven und Ideen durchzogen: Götter ohne Menschen ist ein wirkliches literarisches Ereignis, das Hari Kunzrus Ruf als einem der interessantesten britischen Schriftstellern der Gegenwart zementiert.

  • Hari Kunzru: Götter ohne Menschen
  • Aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schrein
  • 416 Seiten, € 24,00 Gebunden mit Schutzumschlag
  • ISBN 978-3-95438-117-3 (Liebeskind-Verlag)
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Ein Abend wie im Seniorenstift

Man stelle sich das einmal vor. Da fällt die Leipziger Buchmesse aus, Buchhandlungen müssen für Wochen zusperren, Verlage kämpfen ums Überleben. Eine Situation, wie sie Literatur-Deutschland wohl noch nicht erlebt hat. Am Freitag Abend steht dann die erste Sendung des Literarischen Quartetts nach diesen Ereignissen an. Und worüber wird diskutiert?

Über Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel Garcia Marquez und den Simplicissimus von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Bücher, die 1668 beziehungsweise 1967 erschienen. Bücher, die längst schon kanonisiert, in Lesebüchern abgedruckt und in jedem Volkshochschulkurs durchdiskutiert wurden. Bücher, deren Qualität außer Frage steht, deren Notwendigkeit zur Diskussion in einem Frühjahr, in dem so gut wie jede Neuerscheinung auf dem Buchmarkt deutlich mehr Aufmerksamkeit bräuchte, alles andere als schlüssig erscheint.

Natürlich waren die Titel einst für den Magischen Realismus bzw. die Epoche des Barock stilprägend. Aber muss man so etwas zum hundertsten Male durchkauen, wenn andere Bücher wie etwa Ann Petrys The Street oder Benjamin Quaderers Für immer die Alpen völlig in puncto Aufmerksamkeit untergehen? Da überzeugt auch das erklärte Konzept, man wolle Bücher für Krisenzeiten präsentieren, wenig. Aber was will man erwarten von einer Thea Dorn, die schon in der letzten Ausgabe wenig kreativ zu Albert CamusDie Pest riet?

Verschnarchte Titelauswahl, verschnarchte Diskussion

Ebenso verschnarcht wie die Auswahl der Bücher entpuppte sich dann leider auch einmal mehr die Diskussion im Foyer des Berliner Ensembles. Während Thea Dorn mit dem Charisma einer besserwisserischen Deutschlehrerin den Gästen das Wort erteilte und stets um die Deutungshoheit rang, stammelte und stotterte man sich so durchs Programm. Die Synopsen der Bücher gerieten einmal mehr erratisch. Dynamiken in der Diskussion ergaben sich überhaupt nicht, auch wirkten die Argumente schwach bis hanebüchen. Brandts Verteidigung, als Schauspieler überlese er eh Phrasen und schlechte Dialoge, weshalb sein Buchvorschlag dann doch wieder gut sei, wenn man da drüber hinwegläse, überzeugte nicht im Ansatz. Auch die Vergleiche mit chemischen Elementen durch Eva Menasse steigerte die Anschaulichkeit der eigenen Argumente kaum.

Literarisches Quartett: Teilnehmer Dorn, Ruge, Menasse und Brand
Verloren im weiten Rund: Thea Dorn, Eugen Ruge, Eva Menasse, Matthias Brandt
(Bildrechte: ZDF/ Svea Pietschmann)

Mitsamt dem fehlenden Publikum besaß dieses literarische Geisterspiel eher den Charme eines Literaturkreises im Seniorenstift. Wobei man dem wohl unrecht tut. Selbst im Seniorenstift erlebte ich persönlich schon deutlich engagierte Runden als das, was da Freitag Nacht über den Bildschirm flimmerte.

Wo bleibt die Werbung fürs Lesen?

Ich verstehe es nicht. Jetzt wäre die Zeit, um für das Lesen und die Literatur zu werben. Für kreative Bücher, für junge Stimmen, die Aufmerksamkeit verdienten. Für Bücher aus kleinen Verlagen, die gerade ums Überleben kämpfen. Stattdessen entscheidet man sich im (immer noch) prestigeträchtigsten Literaturformat im deutschen Fernsehen für eine Auswahl die wirkt, als hätte man in der verstaubten Bibliothek eines Studienrats gestöbert.

Dabei könnte man doch eingedenk der vorherlaufenden reichweitenstarken Heute-Show (in letzter Zeit stets über 5 Millionen Zuschauer*innen) hier auch ideal jüngere Lesergruppen erreichen und ihnen Lust auf Literatur machen. Mit dem Simplicissimus lockt man in dieser Darreichungsform aber tendentiell niemanden hinter dem Ofen hervor. Und das ärgert mich. Es wäre doch nicht so schwer.

Sprechen wir über Literatur. Tauschen wir uns aus, egal ob im Netz, in Buchhandlungen oder in Lesekreisen. Aber um Himmels Willen bitte doch nicht so!

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Einen Flügel kann man nicht reparieren …

Daniel Mason – Der Klavierstimmer Ihrer Majestät

Mit der Veröffentlichung von Daniel Masons Der Wintersoldat gelang dem C.H. Beck-Verlag im letzten Jahr ein kleiner Erfolg. Das Interesse an diesem Buch ist beständig. Immer wieder landen auch Suchanfragen zu diesem Buch auf meinem Blog. Inzwischen hat es meine Rezension hier auf gute vierstellige Abrufwerte gebracht. Für diesen kleinen Blog einsame Spitze, wenngleich das Buch bei mir damals keine ähnliche Euphorie auslöste.

Mein Interesse war groß, als der Vorschau des C.H. Beck-Verlags zu entnehmen war, dass ein weiteres Buch von Daniel Mason veröffentlicht wird. Im Falle von Der Klavierstimmer Ihrer Majestät handelt es sich allerdings um keinen neuen Titel. Vielmehr ist das Buch das Debüt Masons und erschien ursprünglich bereits im Jahr 2002. Nun, da das Buch volljährig geworden ist, erscheint es bei C.H. Beck in einer überarbeiteten und von Barbara Heller ins Deutsche übertragenen Fassung.

Daniel Mason - Der Klavierstimmer Ihrer Majestät (Cover)

Mason erzählt in seinem Roman die Geschichte von Edgar Drake. Dieser lebt 1887 zusammen mit seiner Frau in London und verdient sein täglich Brot mit dem Stimmen von Flügeln. Besonders für Erard-Flügel hat er ein Händchen. In ganz London stimmt er diese Flügel und wird als Spezialist gerufen, wenn die Mechanik der Instrumente hakt oder die Saiten verstimmt sind. Da erreicht ihn ein ganz besonderer Auftrag. Er soll den Erard-Flügel eines britischen Militärarztes reparieren. Dieser befindet sich allerdings nicht in London, sondern im Dschungel von Birma. Dort befehligt der Militärarzt eine Stellung.

Da er in seinem Kampf um die Befriedung des rebellischen Landstrichs dort mehr Erfolge als alle anderen Offiziere vorweisen kann, musste man notgedrungen die Forderung des Militärarztes nach einem Flügel erfüllen. In einer Fitzcarraldo-haften Aktion wurde der Flügel in das Fort des Arztes gebracht. Doch nun ist der Flügel aufgrund der humiden Klimas vor Ort verzogen und der Arzt dringt auf eine Reparatur. Edgar Drake macht sich also auf den Weg in den entlegensten Winkel des Königreichs, um für das Problem Abhilfe zu schaffen.

Der Kampf um Birma

Drake, der bislang kaum etwas von der Welt gesehen hat, erlebt in Birma nun eine ganz andere Welt. Undurchdringliche Dschungellandschaften, das Volk der Shan, in dessen Land sich der Klavierstimmer begibt, englische Kolonialherren, Räuberbanden, genannt Dacoits, die die Dörfer und Besatzer terrorisieren. Eine ganz andere Welt herrscht hier, die Daniel Mason gut einzufangen weiß.

Das Grün des Dschungels, das Prasselns des Monsuns und die völlig andere dort herrschende Kultur mitsamt Pagoden und spielenden Kindern – all das beschreibt Mason wirklich gekonnt. Manchmal sind die Schilderungen von Land und Leuten etwas ausufernd, speziell wenn es um die politische Einordnung der verschiedenen Parteien und ihrer Pläne in Birma geht. Dann aber wieder ist Mason auch höchst präzise, wenn er das Handwerk des Klavierstimmens schildert und die über Sprachgrenzen hinweg wirkende Kraft der Musik in Zeilen bannt. Das überzeugt und ist besser gelungen als zuletzt bei William Boyd, der sich an einem ähnlichen Thema versucht.

Keine unbedingt postkoloniale Erzählhaltung

Weniger überzeugend hingegen ist Masons im Buch vertretende Haltung zum Kolonialismus. Dieser wird an keiner Stelle wirklich kritisch beleuchtet. Staunend tappt sein Edgar Drake durch die von den Briten beherrscht Welt Birmas und hinterfragt das Wirken der Briten kaum. Vielmehr manifestiert sich im Buch eine durchaus fragwürdige Haltung zum Thema Kolonialismus, die beispielsweise in diesem Dialog durchscheint:

„Sie wollen doch nicht etwa sagen, dass Sie die britische Herrschaft begrüßen?“

„Ich habe großes Glück“, erwiderte sie nur.

„Aber in England“, beharrte Edgar „sind viele entschieden der Meinung, dass die Kolonien sich selbst verwalten sollten, und ich neige ebenfalls zu dieser Ansicht. Wir haben schreckliche Dinge getan.“

„Aber auch gute.“

Mason, Daniel: Der Klavierstimmer Ihrer Majestät, S. 281

Hier hätte ich mir ein wenig mehr kritische Distanz zum Thema gewünscht, wie sie beispielsweise beim großartigen James Gordon Farrell stets Thema ist. In die Gattung der postkolonialen Literatur kann ich Der Klavierstimmer Ihrer Majestät leider nur schwerlich einordnen. Mit seinem unkritischen und auf die Musik fokussierten Erzähler macht es sich der amerikanische Autor etwas zu leicht und traut sich sogar noch, kolonialen Kitsch in Form einer Liebesgeschichte zu einer Birmesin in die Handlung einzuführen.

Wer sich davon nicht stören lässt, der bekommt mit Der Klavierstimmer Ihrer Majestät ein Buch, das die exotische Welt Birmas um 1890 herum gut einzufangen weiß. Ein Blick in die wechselvolle Geschichte Birmas, lange bevor das Land Myanmar hieß. Und nicht zuletzt ein Roman, der dem Beruf des Klavierstimmers und der menschenvereinenden Kraft der Musik ein Denkmal setzt.

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Harlem Nocturne

Ann Petry – The Street

Mit über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren einst ein gigantischer Erfolg – und heute fast komplett vergessen. Der Debütroman von Ann Petry über den Wunsch nach gesellschaftlichem Aufstieg und soziale Determination. The Street – Die Straße in der Übersetzung Uda Strätling, nun wieder neu zu entdecken im Verlag Nagel & Kimche.


Sie hing in dieser Straße fest, hier in diesem düsteren, dreckigen Mietshaus. Sie würde sehr lange brauchen, um wegzukommen. Sie dachte an die Chandlers und deren Freunde in Lyme. Sie hatten Recht mit ihrer Behauptung, dass jeder in der Lage war, Geld zu scheffeln, aber es war eine elende Plackerei – es verlangte harte Arbeit und Verzicht. Aber sie war zu beidem imstande beschloss sie. Und sie wollte sich niemals damit abfinden, hier leben zu müssen. Plötzlich standen ihr wieder die tragisch ergebenen Gesichter der jungen Frauen und des Alten vom Frühjahr vor Augen. Nein. So wollte sie nicht enden.

Petry, Ann: The Street, S. 269 f,

Es ist der Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen sozialen Schicht, der Menschen umtreibt, seit es diese Schichten gibt. Viel ist darüber geschrieben worden, am eindrücklichsten sind für mich in der deutschen Literatur die Erzählungen Gottfried Büchners (Woyzeck) und Theodor Storm (Ein Wiedergänger), die mir gleich in den Sinn kommen, wenn es um den Wunsch nach Aufstieg aus der eigenen Klasse geht. Du sollst es einmal besser haben als wir ist zum geflügelten Wort geworden. Es schwingt darin der Wunsch mit, den Kindern ein sorgenfreieres Leben zu ermöglichen und ihnen die Hürden des eigenen Lebens aus dem Weg zu räumen.

Doch ebenso präsent wie der Wunsch nach Aufstieg ist auch das Wissen, das dieses Privileg nur wenigen Menschen vorbehalten ist. Die sichtbaren und unsichtbaren Schranken von Gesellschaften arbeiten effektiv, eine Durchlässigkeit der Schichten ist nicht immer gegeben.

Gegen den Sturm

Das muss auch Lutie Johnson erkennen. Sie ist die Heldin von Ann Petrys Debütroman. Höchst symbolisch weht ihr schon in den ersten Zeilen dieser Erzählung ein Sturm entgegen, der alle anderen Menschen von der Straße treibt. Sie bietet dem Sturm allerdings Paroli, denn sie ist auf der Suche nach einer Wohnung für sich und ihren Sohn Bubb. Diese findet sie in der 116th Street in Harlem, einem Straßenzug, der von ärmlichen Mietshäusern und schuhschachtelgroßen Wohnung dominiert wird.

Sie blickte hoch zu den düsteren Wohnungen, wo die Köpfe erschienen waren. Endlose Reihen schmaler Fenster, endlose Stockwerke zusammengepferchter Menschen. Sie besah sich die Straße insgesamt. Mülltonnen standen am Rand. Halbverhungerte Katzen wühlten darin – raschelten im Papier, nagten an Knochen. Und es war ja nicht nur diese Ecke, diese Straße, dachte sie wieder. Es war überall in Harlem das Gleiche, wo die Mieten so niedrig waren.

Petry, Ann: The Street, S. 198

Bildstark inszeniert Petry dieses Harlem der 40er Jahre, in dem die Armut grassiert. Das Straßenbild wird von ausrangierten Möbeln dominiert, die auf der Straße stehen. Diese werden von den Menschen als eine Art Wohnzimmer genutzt, wie ein weißer Cop im Buch einmal bemerkt. Die erdrückende Enge der Wohnungen und der sozialen Klasse lässt die Menschen auf die Straße und die Vordertreppen der Häuser flüchten.

Ann Petry - The Street (Cover)

Auch Lutie versucht, nicht allzu viel Zeit in ihrer Wohnung zu verbringen. Als Sekretärin hat sie sich selbst fortgebildet und bestreitet so das kärgliche Einkommen für sich und ihren Sohn, der nach der Schule stundenlang in der Wohnung auf sie wartet. Ihr großes Ziel ist es, genug Geld für einen Auszug und ein sorgenfreies Leben mit ihrem Jungen zu sammeln.

Doch dieses Unterfangen gleicht an einem Ort wie Harlem dem Kampf gegen Windmühlen. Meist scheitert Lutie in The Street an den Männern, die ihr Chancen verbauen und sie nur ausnutzen wollen. Egal ob der Hausmeister ihres Mietshauses, ein Bandleader oder der lokale Pate, der im Besitz von Tanzlokalen und Mietshäusern ist. Positiv gezeichnete Männer gibt es in Luties Straße nicht. Das Patriachat zeigt sich hier in Harlem von seiner hässlichen Seite.

Vom Kampf um ein besseres Leben

In den Beschreibungen ihrer Charaktere ist Ann Petry sehr präzise. Die glaubhaft gestalteten Figuren legen die gesellschaftlichen Mechanismen offen, durch die Ausgrenzung und Stigmatisierung funktionieren. Von den kleinen Nebenfiguren wie etwa Luties schnapsbrennenden und konsumierenden Vater bis hin zum psychisch gestörten Hausmeister, der ein Komplott um Luties Sohn herum spinnt. Petry erzählt psychologisch glaubhaft und mit großem Einfühlungsvermögen. Auch Mittel der Spannungsliteratur wendet sie in ihrem Buch an, was The Street Drive verleiht.

Ich las Petrys Roman als eine Art schwarzen Gegenentwurf zu Betty Smiths Ein Baum wächst in Brooklyn, das drei Jahre vor Petrys Buch erschien. Wo bei Smith reelle Aufstiegschancen und Bildung durch Lesen für junge Frauen stets in Reichweite sind, so ist die Welt bei Ann Petry deutlich düsterer. Missbräuchliche Männer, Enge, Düsternis, Armut und Gewalt sind allgegenwärtig und stehen der weiblichen und sozialen Emanzipation entgegen.

Treiben auf den Straßen Harlems 1939

Neben Betty Smith erinnerte mich dieser Roman am stärksten an James Baldwin (der ebenfalls in Harlem geboren wurde), vor allem an seinen Beale Street Blues. Einen ähnlich scharfen Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und die Probleme der schwarzen Bevölkerung teilen beide Autor*innen. Aber auch an Jacqueline Woodsons Ein anderes Brooklyn oder Maya Angelous Autobiografie fühlte ich mich in manchen Passagen erinnert.

Auch heute noch von großer Aktualität

Obwohl schon 74 Jahre vergangen sind, liest sich dieser Roman an keiner Stelle altbacken oder überholt. Die von Uda Strätling ins Deutsche übersetzte Sprache Petrys ist frisch und ihre Beschreibungen des Treibens auf den Straßen Harlems sind mehr als überzeugend. Die Absatzzahlen von über 1,5 Millionen verkauften Exemplaren (wovon man heute nur träumen kann) sind angesichts der Qualität des Buchs mehr als verständlich. Die Wiederentdeckung dieses Buchs nebst dem schönen Nachwort von Tayari Jones ist ein Glücksfall. Schön, dass Nagel & Kimche dem Buch eine Chance gibt.

Nicht nur allen Lesern von James Baldwin und Co. sei dieses Werk wärmstens ans Herz gelegt. Eine unbedingte Empfehlung – ein Buch, das wieder gelesen und besprochen werden sollte. Denn die in The Street thematisierten Probleme und Fragen sind auch heute noch allgegenwärtig und von Relevanz.


Titelbild und Straßenszene aus Harlem stammen aus dem Archiv der New York Public Library. Die Rechte ebenda. https://digitalcollections.nypl.org/items/bcdf3fbe-a589-88d6-e040-e00a1806445a

  • Ann Petry – The Street
  • Mit einem Nachwort von Tayari Jones
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-312-01160-5 (Nagel & Kimche)
  • 384 Seiten, 24,00 €
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