Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst

Es könnte nicht passender sein: der dritte Roman des Übersetzers und Schriftstellers Kristof Magnusson heißt Ein Mann der Kunst. Dieser erscheint bei Kunstmann. Dort veröffentlichte der deutsch-isländische Autor bereits seine Bücher Arztroman und Das war ich nicht. Nun wendet er sich dem Genre des Künstlerromans und der Persiflage des Bildungsbürgertums zu. Gelingt Kristof Magnusson hier große Kunst?


Es hätte alles so schön sein können. Zusammen mit dem Direktor des kleinen, aber feinen Frankfurter Museums Wendevogel macht sich der illustre Förderkreis des Museums auf eine Busreise zur Burg Ernsteck. Dort lebt zurückgezogen von der Welt der Malerfürst mit dem großartigen Namen KD Pratz. Ein gefeierter Künstler, der irgendwo zwischen Richter, Baselitz und Polke changiert. Legendenumwoben und seit einer kurzen Liason mit Marina Abramovic auch in den Klatschspalten zuhause.

Dass KD Pratz dem Museum Wendevogel fast freundschaftlich verbunden war, war außergewöhnlich, galt er doch gemeinhin als schwieriger Mensch. Inzwischen Ende sechzig, war er einer der letzten verbliebenen Old-School-Künstler, der sich von Anfang an jeglicher Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb verweigert hatte und allgemein als sperrig galt und zu keiner Gefälligkeit bereit, kurz: er war offenbar ein ziemliches Ekel.

Magnusson, Kristof: Ein Mann der Kunst, S. 9

Jenem KD Pratz möchte das Museum einen eigenen Anbau widmen, in dem die Werke des renommierten Malers präsentiert werden. Doch zuvor gilt es neben der Förderung durch Bund und Land auch den Förderkreis ins Boot zu holen. Und so hat der Direktor (beziehungsweise seine Assistentin) eine Reise für die Mitglieder des Vereins organisiert. Ein Ausflug ins sommerliche Rheingau, bildungsbürgerliche Ausflüge und als Höhepunkt ein Blick ins Atelier auf des Meisters Burg. Jede Menge Goethe-Zitate und erlesene Gespräche inklusive. So der Plan.

Doch dass ein solches Wochende auch eskalieren kann, ganz egal wie gut es geplant ist, das erfahren auch die Mitglieder des Fördervereins rasch. Denn KD Pratz stellt eindrücklich unter Beweis, dass die Gerüchte über seine Weltabgewandheit und Misanthropie alles andere als Gerüchte sind.

Ein Wochenende eskaliert

Erzählt wird die Reise von einem der Gruppe relativ außenstehenden Mann: Constantin Marx. Dieser ist eigentlich Architekt und nutzt das geplante Wochenende, stressigen Abstimmungen mit Bauherren und Firmen zu entkommen. Seine Mutter ist wie er selbst Mitglied im Förderverein und bewundert seit jeher KD Pratz. Als Ideengeberin eines eigenen KD-Pratz-Anbaus ist sie nun natürlich Feuer und Flamme, ihr Idol einmal aus nächster Nähe zu erleben.

Kristof Magnusson - Ein Mann der Kunst (Cover)

Die Turbulenzen und Komiken, die diese Reise birgt, schildert Constatin aus der Ich-Perspektive. Er wirft einen sezierenden Blick auf die Reisegesellschaft, die aus einem gescheiterten Kurator, einer überqualifizerten Assistentin, einem pensionierten Pfarrersehepaar oder auch einem millionenschweren Finanzier mit Einstecktuch besteht. Die Eigenheiten dieser Menschen und das hochkomische Zusammenwirken zwischen Bildungsbeflissenheit und gegenseitiger Ablehnung birgt jede Menge komisches Potenzial. Und Magnusson schöpft das voll aus.

Wie sich die Gruppe selbst zerlegt, wie der schwierige Malerfürst die Ansichten der Förder*innen erschüttert, wie sich das Bildungsbürgertum teilweise selbst demaskiert – hier lässt es sich mit großer Lust und Laune geschildert beobachten. Als Persiflage auf den Künstlerroman und das Bildungsbürgertum funktioniert Ein Mann der Kunst ganz hervorragend. Dass Magnusson dabei eher mit dem großen Pinsel malt, das ist bei seinem Thema verständlich. Seine Figuren sind größtenteils eher Karikaturen – aber diese sind wirklich gut gezeichnet. Der deutschen Literatur gebricht es eh an Autor*innen, die niveauvolle und lustige Satiren schreiben können. Hier liegt nun endlich wieder ein gelungenes Beispiel vor, wie das gehen kann. Keine ganz große Kunst. Aber mindestens mittelgroße!


  • Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst
  • ISBN 978-3-95614-382-3 (Kunstmann)
  • 236 Seiten, 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Sommer-Lektüretipps

Schon wieder August und keine Ahnung, was ihr lesen sollt? Ich bin hier ein paar meiner letzten Lektüren durchgegangen und empfehle euch diese Titel für den Sommer. Die Klicks auf die Cover führen zu weitergehenden Informationen. Viel Spaß!

Für Klassikerfans

Charlotte Bronte – Jane Eyre

Charlotte Bronte - Jane Eyre (Cover)

Durch Zufall gelangte ich beim Stöbern in der Schnäppchen-Ecke einer lokalen Augsburger Buchhandlung an diesen britischen Klassiker: Jane Eyre von Charlotte Brontë. Ein echter Klassiker der englischen Literatur – und das völlig zurecht, wie ich nach der Lektüre meine. Diese von der Ich-Erzählerin Jane Eyre geschilderte Geschichte hat auch über 170 Jahre nach ihrem Erscheinen nichts von ihrer Wucht eingebüßt. Die Geschichte einer starken Frau, ein Schauermärchen, ein Bildungsroman – und hier in einer tollen Neuübersetzung von Andrea Ott (wieder) zu entdecken. Ein schönes Buch und mit einer Lauflänge von knapp 600 Seiten wie gemacht für Schmökerstunden am Strand.

Für hitzige Gemüter

Victor Jestin – Hitze

Victor Jestin - Hitze (Cover)

Wer es nicht ganz so umfangreich mag, für den wäre vielleicht Victor Jestins Buch einen Blick wert. In Hitze schildert er eine Geschichte von großer Wucht. Léonard verbringt mit seiner Familie die Ferien auf einem Campinggelände am Meer. Die Teenager feiern, es gibt Alkohol und Karaoke. Doch Léonard fühlt sich nicht wohl. Als er nachts dem unfreiwilligen Suizid eines Freundes beiwohnt und beschließt, ihm nicht zu helfen, sondern die Leiche zu vergraben, setzt er Dinge in Bewegung, an denen er besser nicht gerührt hätte. Das sinnentleerte Dasein eines Campingurlaubs, die Teenagerzeit, Hormone, Knutschen und eine Stimmung, die wie eine schwüle Hitze über dem ganzen kurzen Büchlein steht. Ein Debüt mit Wucht, ein Sommer-Pageturner der abgründigen Sorte (übersetzt von Sina de Malafosse).

Für Beziehungsmenschen

Nick Hornby

Nick Hornby - Niemand hat gesagt, dass du ausziehen sollst (Cover)

Kann man einen Menschen lieben, der für den Brexit gestimmt hat? Diese und andere Fragen verhandelt der Brite Nick Hornby in seinem Buch Keiner hat gesagt, dass du ausziehen sollst. Der Titel passt leider nicht halb so gut wie das Original: The state of the union. Denn genau darum gehts. Die zwei Hälften des einst vereinten Paars treffen sich zu zehn Pubbesuchen. Der Anlass hierfür: sie warten im Pub auf ihren Termin bei einer Paartherapeutin. In den Dialogen vor der Therapie entfaltet sich langsam eine Ehe in zehn Gesprächen. Diese zeugen von der Zerissenheit jener Ehe, ihrer Widersprüche, Verbindungen und nicht zuletzt auch von der Zerissenheit eines ganzen Landes. Ein schnelles, drehbuchartiges Buch, in dem sich jeder und jede wiederfindet, die schon einmal eine Beziehung geführt hat. An Hornbys frühere Bücher reicht das nicht heran, dennoch ein schneller Lesespaß für eine Zugreise oder einen Nachmittag am Strand.

Für Abenteuerlustige

Kenneth Bonert – Der Anfang einer Zukunft

Kenneth Bonert - Der Anfang einer Zukunft (Cover)

Mit Der Löwensucher hatte Kenneth Bonert in Deutschland seinen Durchbruch. Ganz so dick wie die Familiensaga mit ihren 800 Seiten ist Der Anfang einer Zukunft nun nicht. Aber der über 600 Seiten dicke Roman spielt erneut in Südafrika, dem Wohnort Bonerts. Darin erzählt er aus Sicht des 16-jährigen Martin Helger. Dieser wird in Gestalt der Amerikanerin Annie mitten hinein in den Freiheitskampf um Nelson Mandela und den ANC gezogen. Denn wir befinden uns an der Schwelle der 80er zu den 90er Jahren und die Stimmung im Land brodelt. Die Gefährlichkeit der Situation bekommt auch Martin eindrucksvoll am eigenen Leib zu spüren. Denn jemand hat noch eine Rechnung mit Martins Familie offen. Das ist überraschend erzählend, mitreißend und einfach unterhaltsam. Die Übersetzung dieses facettenreichen Schmökers besorgte Stefanie Schäfer.

Für alle Literaturgourmets

Graham Swift – Da sind wir

Graham Swift - Da sind wir (Cover)

Wenn es um gehobene Lektüre mit Anspruch geht, dann ist Graham Swift eine sichere Bank. Egal ob Wasserland oder Ein Festtag, der Brite hat in noch jedem Buch abgeliefert, das ich bislang las. Nun also Da sind wir. Darin erzählt er von zwei Freunden. Der eine Conférencie. Der andere Zauberer. Gemeinschaftlich steigen sie im englischen Seebad Brighton in den 50ern zu wahren Stars auf und sind echte Publikumsmagneten. Doch das Gefüge der beiden gerät ins Wanken, als die Assistentin des Zauberes zu den beiden stößt. Das Gleichgewicht zwischen den Freunden ist merklich erschüttert. Und dann verschärft sich die Krisis. Und der Zauberer verschwindet plötzlich von der Bühne. Ein verknapptes, reduziertes Werk Graham Swifts, das seine Kunst zu erzählen anschaulich illustriert. Übersetzt von Susanne Höbel.

Für Krimifans

William Boyle – Einsame Zeugin

William Boyle - Einsame Zeugin (Cover)

Der kleine Polar-Verlag versammelt ja einige Perlen in seinem literarischen Krimiprogramm, die bei Mainstream-Verlagen wohl untergehen würden. William Boyle ist solch ein Fall. Er schreibt über Menschen der unteren Mittelschicht und die kleinen Gangster, die man hier so findet. Er siedelt seine Geschichten gerne um das New Yorker Stadtviertel Gravesend herum an. Dort spielt auch Eine wahre Freundin. Darin erzählt er von Amy Falconetti, die für die örtliche Kirche die Kommunion zu Alten und Kranken bringt. Ein wenig spektakuläres Leben, das sich durch eine wenig durchdachte Reaktion Amys schlagartig ändert. Als ein junger Mann erstochen wird, nimmt sie die Tatwaffe an sich und erpresst nun den Mörder. Damit entspinnen sich Dynamiken, die sich Amy vorher sicherlich nicht ausgemalt hat. Ein schwarzhumoriger, schneller und milieusicherer Krimi von William Boyle, der von Andrea Stumpf übersetzt wurde.

Für Naturkundige und solche, die es werden wollen

Jutta Person – Esel (Reihe Naturkunden)

Jutta Person - Esel (Cover)

Was macht den Esel zu einem in Fabeln so beliebten Tier? Woher stammt er, welche Sorten gibt es und was will der Esel? Das versucht Jutta Person in ihrem Band Esel aus der Reihe Naturkunden zu ergründen. Wer die Reihe kennt, der weiß was einen erwartet. Ein toll gestaltetes Buch mit farbig illustrierten Karten, guter Schriftsatz und eine wirklich haptische Freude, gehalten im stilvollen Eselgrau. In dieses Buch macht man gerne ein Eselsohr. Und woher der Begriff rührt, das weiß man nach der Lektüre von Jutta Persons Buch dann auch. In diesem Sinne tolle Lektüre für die Ferien, aus der man auch etwas mitnimmt.

Diesen Beitrag teilen

Robert Seethaler – Der letzte Satz

Der Meister der literarischen Verknappung ist wieder zurück. Zwei Jahre nach seinem polyphonen Totengesang gibt es nun eine neue Erzählung des österreichischen Romanciers Robert Seethaler. Diesmal konzertriert er sich auf eine historisch verbürgte Figur, die er in Der letzte Satz zu Wort kommen lässt – Gustav Mahler.

Dieser befindet sich auf der Überfahrt nach Amerika. Die Kaiserkabine auf einem Schiff der Norddeutschen Lloyd AG ist für ihn gebucht. Ein eigner Schiffsjunge steht für den Maestro auf Abruf bereit – doch Mahler kann all den Komfort und Luxus überhaupt nicht genießen. Bluthusten und andere körperliche Gebrechen quälen den zeitlebens mit einer schwächlichen Konstitution geschlagenen Komponisten und Dirigenten. Während er an der Reling des Schiffs steht, fliegen seine Gedanken davon.

Erinnerungen an sein verstorbenes Kind peinigen ihn; die schwierige Beziehung zu seiner Frau Alma treibt ihn genauso um wie entscheidende Wegmarken seines Lebens, die er in Gedanken noch einmal passiert. Modellsitzen für Rodin, das für damalige Verhältnisse megalomanische Konzert der Tausend, seiner 8. Sinfonie, die er in der eigenes umgebauten Konzertsaal in München vor 3000 Zuhörern aufführte oder auch seine musikalischen Siege und Niederlagen. Eine große assoziative Revue eines musikalischen Lebens ist es, die Seethaler uns Leser*innen hier in denkbar verknappter Form darbietet.

Rückblick auf ein Künstlerleben

Hierfür durchbricht er die Rahmenhandlung auf dem Schiff für Einschübe und Rückblicke, die allmählich das Bild eines hochtalentierten, aber auch gequälten Arbeiters ergeben, der weniger Musik-Genie, denn wirklicher Tonarbeiter war. Der mit seinem Wirken, seiner Ehe und seiner Religion haderte.

Robert Seethaler - Der letzte Satz (Cover)

Den Mythos des komponierenden und dirigierenden Talents, dem die Einfälle nur so zuflogen, Seethaler bricht es bewusst. Hier liegt ein Künstlerroman vor, der seine Figur nicht verklärt, sondern auch ihre Kämpfe und ihr Scheitern nicht verschweigt.

Das ist gut gemacht und liest sich absolut flüssig weg. Nach gerade einmal 125 großzügig gesetzten Seiten ist dieses Mahler-Porträt schon am Ende angelangt. Die letzte Reise des österreichischen Musikers, sie findet ihr Ende. „Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen“ (S. 126). Mit diesem letzten Satz endet Der letzte Satz.

Bei aller literarischen Kunstfertigkeit, die Seethaler zweifelsohne zueigen ist. So sehr wie im Trafikanten oder auch in Ein ganzes Leben rührt Mahlers Schicksal dann aber doch nicht an. Denn für ein wirklich ergreifendes Porträt bleibt Seethaler viel zu sehr an der Oberfläche und wagt zu wenig Introspektion.

Fehlende Widerhaken

Im Gegensatz zum Vorgängerroman Das Feld ist dieses Buch nun schon wieder fast zu einfach zu lesen. Man fliegt förmlich durch die Seiten und damit durch Mahlers Leben, immer eng entlang der tatsächlichen historischen Begegebenheiten. Aber was bleibt am Ende von der Lektüre? Für mich leider nicht allzu viel, das von diesem Buch in Erinnerung bleiben wird. Als biographischer Roman ist es etwas dünn, als Künstlerroman ebenfalls nicht wirklich ausgearbeitet. Eine Studie über einen innerlich zerrissenen Mann vielleicht? Oder doch eher eine biographische Skizze?

Egal was dieses Büchlein ist. Unterhaltsam ist es auf alle Fälle und sprachlich auf dem gewohnt knapp-souveränen Seethaler-Niveau. Auch wird das Buch sicher die Leser*innen wieder für sich einnehmen und die Bestsellerlisten erklimmen, was dem Österreicher und seinem Verlag ja zu wünschen ist. Aber die literarischen Widerhaken, die das Buch langfristig in meinem Kopf verankern, sie fehlen mir hier leider. Leider nur ein sprachlich ansprechendes Porträt von Stationen aus dem Leben des Meisters, in dem für mich nicht genug Musik drin ist.

Eine andere spannende Stimme (die sich auch mit meiner deckt) gibt es bei Aufklappen,


  • Robert Seethaler – Der letzte Satz
  • ISBN 978-3-446-26788-6 (Hanser)
  • 128 Seiten. Preis: 19,00 €
Diesen Beitrag teilen

Das Deutscher-Buchpreis-Lotto 2020

Heute in zwei Wochen erscheint sie: Die Longlist des Deutschen Buchpreises 2020. Und wie jedes Jahr, so gibt es auch heuer wieder mein kleines Longlist-Lotto. Bücher, von denen ich mir vorstellen könnte, dass sie auf der Liste vertreten sind, die den Geschmack der Juror*innen getroffen haben und Bücher, für die ich mir Chancen auf den Gewinn des Titels ausrechne. Einige davon wurde auch schon auf Buch-Haltung.com besprochen. Besonders berücksichtig habe ich dabei das Frühjahr, in dem die Aufmerksamkeit für die meisten Novitäten vollkommen verpufft ist. Vorhang auf für meine Tipps!

Chirstine Wunnicke – Die Dame mit der bemalten Hand (Berenberg-Verlag). Bov Bjerg – Serpentinen (Ullstein). Olga Grjasnowa – Der verlorene Sohn (Aufbau). Leander Fischer – Die Forelle (Wallstein). Ronya Othmann – Die Sommer (Hanser).

Mariam Kühsel-Hussaini – Tschudi (Rowohlt). Rolf Lappert- Leben ist ein unregelmäßiges Verb (Hanser). Ulrike Draesener – Schwitters (Penguin). Ulla Lenze – Der Empfänger (Klett-Cotta). Ulrike Ulrich – Während wir feiern (Berlin Verlag)

Deniz Ohde – Streulicht (Suhrkamp). Olivia Wenzel – 1000 Serpentinen Angst (Fischer). Christoph Nußbaumeder – Die Unverhofften (Suhrkamp). Thomas Hettche – Herzfaden (Kiepenheuer & Witsch). Abbas Khider – Palast der Miserablen (Hanser).

Andreas Schäfer – Das Gartenzimmer (DuMont). Ulrike Almut Sandig – Monster wie wir (Schöffling). Cihan Acar – Hawii (Hanser Berlin). Benjamin QuadererFür immer die Alpen (Blanvalet). Katharina Köller – Was ich im Wasser sah (Frankfurter Verlagsanstalt).

Jetzt seid ihr dran: was sind eure heißen Tipps? Welches Buch seht ihr auf der Liste? Und welches so gar nicht? Ich freue mich auf eure Kommentare und eure Tipps in Sachen Deutscher Buchpreis 2020 – Longlist!

Diesen Beitrag teilen

Karine Tuil – Menschliche Dinge

Eine Familie, die auseinanderfliegt. Eine mögliche Vergewaltigung, ein Prozess. Karine Tuil betrachtet in ihrem neuen Roman Menschliche Dinge und blickt tief hinein in die Abgründe von Macht und Machtmissbrauch. Ein höchst aktuelles Buch, gesellschaftliche relevant und doch mit einem Schluss, der mich unzufrieden zurückließ.


Die Französin Karine Tuil ist eine Spezialistin, was das Durchleuchten von Gesellschaften im Kleinen angeht. Meist beschränkt sie ihre Erzählungen auf ein kleines Ensemble von Figuren, in deren Konflikten und Problemen allerdings die Sollbruchstellen unserer modernen Gesellschaft offenbar werden. In ihren beiden Roman Die Gierigen und Die Zeit der Ruhelosen war das schon so. Und in Menschliche Dinge ist das nicht anders.

Karine Tuil - Menschliche Dinge (Cover)

Sie erzählt diesmal von einer Familie, die auf den ersten Blick alles hat. Er, Jean Farel, scheinbar soignierter und gnadenloser Interviewer, der sie in seiner Sendung schon alle hatte: Präsidenten, Entscheider, Wirtschaftsbosse. Und nun soll ihm auch noch der Verdienstorden der Ehrenlegion verliehen werden. Seine Frau, Claire, deutlich jünger, als meinungsstarke Leitartiklerin erfolgreich und in eine wilden Affäre mit einem jüdischen Lehrer verstrickt. Und schließlich ihr Sohn, Alexandre, ausgezeichneter Absolvent von Eliteschulen, nun ein Engagement bei Google anstrebend.

Doch so arriviert, mächtig und gut vernetzt sie alle auch sein mögen – sorgenfrei sind sie deswegen keinesfalls. Jean gilt bei seinem Sender als Auslaufmodell und alter, weißer Mann von vorgestern. Claire droht sich in ihrer Affäre zu verlieren. Und Alexandre löst im sinnentleerten Alkohol- und Drogenrausch auf einer Party eine folgenschwere Katastrophe aus, die seine Familie noch weiter entzweien wird, als es ohnehin schon der Fall ist.

Macht und Machmissbrauch

Aus Sicht ihrer drei Hauptfiguren, der Familie Farel, schildert Karine Tuil zunächst deren Leben, ehe die zweite Hälfte des Romans dann ihren Ausgang in der von Alexandre ausgelösten Katastrophe nimmt. Auf einer Fete soll er die Tochter von Claires Affäre vergewaltigt haben. Für ihn war alles nur ein Partyspiel, für Alexandres Opfer eine klare Vergewaltigung.

Die verschiedenen Sichtweisen auf Alexandre und seine Tat werden im folgenden, ausführlich geschilderten Prozess offenbar. Durch diesen Prozess wirft Karine Tuil auch einen klaren Blick auf den Komplex von Macht und Machtmissbrauch. Ist Alexandre ein skrupelloser Vergewaltiger, der aufgrund seiner Stellung kein Nein akzeptieren kann? Oder hat die #metoo-Bewegung zu einer Überempfindlichkeit in Sachen sexualisierter Gewalt und Gleichstellung gesorgt? Die Figuren in Menschliche Dinge haben da ganz unterschiedliche Ansichten, die alle ihren Raum bekommen. Die Anhörungen und Plädoyers arbeiten diese sehr deutlich heraus. Hier kann Karine Tuil auch ihre Herkunft als Juristin nicht verhehlen.

Die destruktive Macht des Sex

Im Gegensatz zu anderen Büchern, wie etwa Bettina Wilperts nichts, was uns passiert, blickt Karine Tuil allerdings über das Thema der Vergewaltigung und die Suche nach der Wahrheit hinaus. Die gesellschaftliche Analyse infolge der #metoo-Bewegung und der Umgang von Eliten untereinander sind ihre Themen. Genauso spielt auch der Sex und seine destruktive Rolle zwischen den Geschlechtern eine Rolle. Nicht von ungefähr lautet der erste Satz des Buchs:

Sex war unbestreitbar der wirksamste Brandbeschleuniger, löste das ultimative Inferno aus – Schluss mit der Maskerade: das hatte Claire Farel verstanden, als sie mit neun Jahren den Zerfall ihrer Familie miterlebte, weil ihre Mutter der magnetischen Anziehungskraft eines Medizinprofessors verfallen war, den sie auf einem Kongress kennengelernt hatte; sie hatte es es verstanden, als sie, schon im Beruf, zusah, wie Personen des öffentlichen Lebens in kürzester Zeit alles verloren, was sie sich über Jahre hinweg aufgebaut hatten: Position, Ruf, Familie – gesellschaftliche Strukturen, die nur unter großen Mühen und mit Zugeständnissen-Lügen-Versprechungen, der Dreieinigkeit der haltbaren Ehe, stabil geblieben waren, sie hatte erlebt, wie sich die klügsten Vertreter der politischen Klasse für lange Zeit, manchmal sogar für immer, ins Aus beförderten, für nichts als ein flüchtiges Abenteuer, das Ausagieren einer Fantasie, den unbezwingbaren Drang des sexuellen Begehrens – alles, sofort.

Tuil, Karine: Menschliche Dinge, S. 11

Eine schwierige Conclusio

Das ist zweifelsohne gesellschaftlich höchst relevant. Doch auch wenn das Buch nach den Silvesterereignissen von Köln einsetzt, eine Linie von der Affäre um Bill Clinton bis hin zu Harvey Weinstein zieht und intellektuell auf der Höhe der Zeit agiert: der Schluss von Menschliche Dinge enttäuschte mich doch sehr.

Die Conclusio dieses Romans driftet für mich sehr unangenehme Richtung á la Svenia Flaßpöhlers Die potente Frau ab. Ohne zuviel vorwegzunehmen ist es am Ende eine App namens Loving, die sich in der Zukunft großer Beliebtheit erfreut. Die vom normalen Dating und Zwischenmenschlichen verunsicherte Menschen können für sich hier dann einen virtuellen Kontakt anbahnen, der genau ihren Wünschen und Vorlieben entspricht.

Dieser Epilog bedient für mich in der Konsequenz dann wieder dieses alberne Narrativ, dass #metoo den ganzen Flirt, das Spiel mit den Erwartungen und letzten Endes sogar die Erotik getötet habe. War das Buch zuvor wirklich nuanciert und ließ verschiedene Sichtweisen nebeneinander stehen, so ist es dieser Schluss eben nicht.

Ein enttäuschendes und plattes Ende für einen zuvor umso überzeugenderen Roman. Da nützt auch sämtliches Zitieren von Simone de Beauvoir, Georges Bataille, Martin Buber und Susan Sontag zuvor wenig.

Fazit

Menschliche Dinge ist ein Buch, das Debatten auslösen könnte. Eines, das dahingeht, wo es wehtut. Das eine Pluralität von Sichtweisen zulässt und das dadurch auch nicht jedem oder jede gefallen wird. Das Buch ist auch die Analyse einer Gesellschaft, die durchaus mit Widersprüchen behaftet ist. Und nicht zuletzt ist Menschliche Dinge ein Innenbericht aus der Welt der Eliten, die eben doch nicht so heil ist, wie man es gemeinhin annehmen könnte.


  • Karine Tuil – Menschliche Dinge
  • Aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff
  • ISBN: 978-3-5461-0002-1 (Claassen)
  • 384 Seiten, 22,00 €
Diesen Beitrag teilen