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Benjamin Myers – Offene See

Der Regen war noch viele Meilen entfernt, doch hier im Garten war es plötzlich ruhig und auffallend still geworden. Kein Vogelrufe. Kein fernes Hundegebell. Der Muskel in meinem Hals pochte mit einem fast elektrisierenden Pulsschlag. […]

Da draußen ist die offene See“, sagte Dulcie leise.

Ich stieg vom Sessel. Sie deutete die Wildwiese hinunter.

„Dieser ferne Streifen Meer, wo Himmel und Wasser eins werden.“

Myers, Benjamin: Offene See, S. 118 f.

Wenn ein Entwicklungsroman auf Nature Writing trifft, wenn der Rückzug in die Natur mit einer Mannwerdung verschmilzt, dann kommt so etwas wie Benjamin Myers Offene See heraus. Ein Buch, das die unberührte Natur, Bildung und Lyrik feiert.


Die offene See. Sie ist das, was Robert Appleyard antreibt. Die letzten Prüfungen in der Schule sind geschrieben und schon bald dräut die Arbeit unter Tage. Denn wir befinden uns in Großbritannien kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Kohleflöze werden nach wie vor abgebaut, Generationen von Männer fahren ein, um wie ihre Vorfahren der Erde Kohle abzuringen. Doch das ist nicht das, was Robert vorschwebt.

Der Sechzehnjährige ist in seiner Liebe zur Natur entflammt. Stundenlang durchmisst er Wälder, wandert und hält sich am liebsten unter dem freien Himmel auf. Die freie Zeit vor seinem Arbeitseintritt will der Junge nutzen, um auf Grand Tour zu gehen und das Meer zu sehen. Und so begibt sich Robert auf eine Wanderung, die Myers im Stile eines Joseph von Eichendorffs inszeniert. Sprudelnde Bäche, Frühlingslandschaft, Entgrenzung pur. Würde aus der Ferne ein Posthorn schallen, man könnte glauben, die Epoche der Romantik würde hier immer noch andauern.

Natur, Rückzug und Freundschaft

Doch wie es so mit dem Wandern ist – auch Unerwartetes tut sich manchmal am Wegesrand auf. Im Falle von Roberts Wanderschaft ist das ein versteckt liegendes Cottage, das er in Küstennähe entdeckt.

Der Weg endete neben dem Cottage, hinter dem nur noch ein Dschungel aus Buschwerk wucherte. Vor dem Haus konnte ich einen Garten sehen, der aus einer kleinen Terrasse mit rissigen Pflastersteinen, einem Rasen und einem Gemüsebeet umgeben von Blumenrabatten bestand. Ringsherum war ein schieferweiß gestrichener Holzzaun, dem die Salzluft arg zugesetzt hatte, denn der Lack warf Blasen, bätterte ab und war stellenweise abgeplatzt.

Der Garten war eine halb kolonisierte Ecke in einer wilden, abfallenden Wiese, die den Blick zum gut eine Meile entfernten Meer lenkte. Die Hecken und Bäume zu beiden Seiten umrahmten die Aussicht wie der Motivsucher eines romantischen Malers.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 34

Immerhin weiß Benjamin Myers selbst recht gut, in welcher Tradition seine Prosa steht. Durch und durch romantisch fängt er die Landschaft ein und inszeniert seine Szenerie im Stile eines Landschaftsmalers á la John Constable. Man könnte dem Autor natürlich Eskapismus, Süßlichkeit oder Kitsch vorwerfen. Aber er belässt es nicht alleine im Feiern der Schönheit unzerstörter Natur und Romantik. Denn durch die Bewohnerin jenes oben beschriebenen Cottages findet nun eine weitere Ebene ins Buch hinein.

In Dulcie jubilo

Die Cottage-Bewohnerin trägt den Namen Dulcie und übt schon ab der erstern Begegnung eine große Faszination auf Robert aus. Zusammen mit ihrem Schäferhund Butters lebt die ältere Dame nahezu autark in ihrem Cottage, umgeben von anderswo rationierten Köstlichkeiten und Büchern.

Die Begegnung mit ihr erweist sich als Glücksfall für Robert. Denn was als zufällige Begegnung beginnt, entwickelt sich im Lauf des Buchs zu einer bereichernden Freundschaft. Dulcie ist weltgewandt, hat einen eigenen Kopf und weckt in Robert die Liebe zur Literatur. Die alte Dame entpuppt sich als humanistische Aufklärerin im besten Sinne, die Robert zu eigenständigem Denken herausfordert. So findet der Junge auch zu seiner Liebe für Lyrik. Eine Liebe, die sich für beide Seiten als vorteilhaft erweisen soll.

Offene See ist ein Buch, das die Natur und die Lyrik auf sehr direkte Art und Weise feiert. Das sollte beim Blick auf die Vita Benjamin Myers auch nicht überraschen. Denn Myers schreibt nicht nur Lyrik, sondern auch Sachbüchern, in denen er sich mit Themen rund um die Natur und Landschaften beschäftigt. Mit dem Vorgängertitel errang Myers auch den Roger-Deakin-Award, der sich zeitlebens ja ebenfalls dem Nature Writing widmete.

Sprachliche Mängel

Für mich bleibt nur die Frage bestehen, warum sich ein Lyriker und gefeierter Schriftststeller dann trotz aller unbestrittenen Qualität solche Ausrutscher erlaubt, wie sie immer wieder im Buch zu beobachten sind.

Wenn die Müdigkeit mich überkam, verbrachte ich die Nacht in Scheunen und Schuppen und längst verlassenen Wohnwagen, und mehrmals schlief ich den Schlaf des Gerechten eingezwängt zwischen dichten Heckenwänden aus Brombeersträuchern und Stechpalmen, die vielleicht schon seit dem Mittelalter hier wuchsen, drei Meter hoch und so undurchdringlich wie die Stacheldrahtrollen in Bergen-Belsen.

Myers, Benjamin: Offene See, S. 22

Warum es hier einen KZ-Vergleich braucht, um eine Hecke zu beschreiben, will mir nicht in den Kopf (natürlich spielt das Buch kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, dennoch ist so ein Vergleich für mich reichlich unmotiviert und deplatziert).

Oder eine andere Stelle, an werden ich Ich-Erzähler „die Augen wieder schwer“ (S. 98). Schwere Augenlider kenne ich, schwere Augen hingegen nicht – oder vielleicht ist das der Claus-Kleber-Effekt, den Myers hier beschreibt?

Aber Spaß beiseite, solche sprachlichen Schludereien finde ich etwas irritierend, wenn weiter hinten im Buch dann sprachlich so viel sensiblere Lyrik präsentiert wird, die großes Sprachvermögen zeigt. Für die Übersetzung zeichnen sich Ulrike Wasel und Klaus Timmermann verantwortlich, die in meinen (nicht schweren) Augen ihre Sache eigentlich sehr gut machen.

Fazit

In Offene See inszeniert Benjamin Myers die Natur schwelgerisch, manchmal ganz knapp am Kitsch vorbei, manchmal auch leicht darüber. Mit seinem ungewöhnlichen Duo Robert und Dulcie stellt er dem romantischen Natur-Überschwang auch Elemente des klassischen Bildungsroman entgegen und kontrastiert sein Buch so auf reizvolle Art und Weise.

Wenn man bereit ist, einige sprachliche Schludereien oder Ausrutscher in Kauf zu nehmen, bekommt man hier ein berührendes Buch zu lesen, das den Hohegesang auf Kultur und Bildung anstimmt und das ein England heraufbeschwört, das dem heutigen Brexit-Land so fern erscheint wie Dulcies Cottage der Zivilisation. Zudem ausnehmend schön gestaltet!

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Betty Smith – Ein Baum wächst in Brooklyn

Besucht man meine Wahlheimatstadt Augsburg, dann kommt man als Tourist um einen Besuch des Rathauses nicht herum. Höhepunkt des Rathauses ist der sogenannte Goldene Saal, ein prunkvoller Raum voller Malereien und Stuck mit über 14 Meter Deckenhöhe. In der Mitte jener Decke prangt ein großes Gemälde, das der Maler Johann Matthias Kagerer geschaffen hat.

Eines dieser unter dem Titel Sapientia, also Weisheit, firmierenden Teilgemälde hat eine schöne Botschaft. So zeigt Kagerer allegorisch, dass jede Generation die vorige übertreffen soll, was das Streben nach guten Taten und Bildung angeht. Schlauer, Strebsamer, Mildtätiger, Besser – der Hunger nach Fortschritt ist es, an den die Betrachter*innen des Gemäldes erinnert werden soll. Ein durchaus guter Vorsatz, der mich zu Betty Smiths Roman Ein Baum wächst in Brooklyn bringt.

Tatsächlich ist es jenes Streben nach Bildung, Teilhabe und sozialem Aufstieg, das das Leben von Francie Nolan beherrscht, der Heldin von Smiths 1943 erschienenem Roman. Sie wächst im ärmlichen Einwanderermilieu Brooklyns auf, genauer gesagt im jüdisch geprägten Viertel Williamsburg. Dort entflieht sie ihrem tristen Alltag, indem sie die lokale Bücherei aufsucht und sich zur anschließenden Lektüre auf die Feuerleiter ihres Appartements zurückzieht. Dort verbirgt sie die Krone eines im Hinterhof wachsenden Baumes, sodass Francie bei ihrer Lektüre der Welt gleich auf zweifache Weise entfliehen kann.

Der große Wunsch nach Mehr

Mit jenem titelgebenden Baum hat Betty Smith eine schöne Metapher gefunden, die dieses Streben und Wachsen ihrer Protagonistin wunderbar spiegelt. Ist Francie doch in ihrer Familie stark verwurzelt, so ist es dann der Wunsch nach mehr, der dann zu einer Ausprägung und Ausdifferenzierung ihrer Persönlichkeit führt. Allmählich geht der kindliche Blick über zu einer erwachsenen Perspektive auf das Leben. Der Ernst des Daseins, er erfasst auch Francie. Es ist das große Talent von Betty Smith, dass ihr Roman ob dieses großen biographischen Bogens von der Geburt bis hin zum Erwachsenenstadium nie an Spannkraft verliert (immerhin umfasst Ein Baum wächst in Brooklyn über 620 Seiten).

Betty Smith

Dass dem so ist und Betty Smith so präzise ihr Milieu durchmisst und schildert, das liegt auch in ihrer Biographie begründet. So entstammt die Autorin selbst einem Einwandererhaushalt. Ihr beiden Eltern kamen aus Deutschland und suchten in den USA ihr Glück. So lautete der Kindername von Betty Smith Elisabeth Lillian Wehner. Mit einem jüngeren Bruder und Schwester wuchs sie ebenfalls in Williamsburg auf. Einige Umzüge folgten, ehe sich die Familie dann in Brooklyn niederließ. Dort wurde Smith auch zu einer fleißigen Nutzerin der Bücherei – hier zeigen sich also schon deutliche die Kongruenz zwischen ihrer Heldin Francie und Smiths eigener Vita.

Eine präzise Milieustudie

Es gelingt Betty Smith in Ein Baum wächst in Brooklyn nicht nur ausgezeichnet, den Lebensweg von Francie Nolan nachzuzeichnen. Über ihre Lebensumstände und Träume schafft es die Autorin wunderbar, das Einwanderermilieu Brooklyns zu skizzieren. Wie ein Wimmelbild zeichnet sie die Straßen des Molochs, der von hart arbeitenden Menschen bevölkert wird. Inmitten von jüdischen Bäckern, irischen Metzgern, gewerkschaftlich organisierten Kellnern, wahlkämpfenden Demokraten, Schrottsammlern und unzähligen anderen Arbeitern und Ethnien wächst Francie heran. Über sie wirft man einen Blick in Gewerkschaftsbüros, Kneipen, Fabriken und Schulen und bekommt einen Eindruck davon, wie es um 1910 zugegangen sein muss in den Straßen Brooklyns.

Sozialromantik oder verklärender New-York-Kitsch herrscht bei Smith allerdings nie. Stattdessen ist ihr Roman auch ein präziser Blick hinein in die prekären Verhältnisse, in denen die meisten Einwanderer gefangen waren. Die Passagen, die die Sparanstrengungen von Francie und ihrer Mutter illustrieren, lesen sich nach wie vor eindringlich und durchaus aktuell. Auch ist das Streben nach Emanzipation und Anerkennung bis heute von Gültigkeit geprägt und lässt vergessen machen, dass über 75 Jahre vergangen sind, seit Ein Baum wächst in Brooklyn erschienen ist.

Ein zeitloses Buch

Smiths Roman ist im besten Sinne zeitlos. Ihre Erzählstimme ist auch nach über 74 Jahren klar und frisch (einen großen Anteil daran hat sicherlich auch ihr Übersetzer Eike Schönfeld), der Ton ist hervorragend gewählt und in der Übersetzung ebenso getroffen. Genau dasselbe gilt für die Themen des Buchs, die generationenübergreifend bis universell sind. Dieses Streben nach Mehr, der Wunsch nach dem eigenen Glück und der Versuch, seiner eigenen Herkunft zu entkommen – dieses Themen und sind und werden immer aktuell sein.

Das alles macht aus Ein Baum wächst in Brooklyn ein zeitloses Buch. Ein Buch, von dem man sich einfach gut unterhalten lassen kann. Ein Buch, in dem man, wenn man möchte, aber auch tiefergehende Schichten finden kann. Ein Buch, das viele Ebenen besitzt und einem Schaufenster gleich den Blick in eine vergangene Epoche mit nicht vergehenden Themen öffnet.


Bildquelle Betty Smith: https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=33476806)

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Vera Brittain – Vermächtnis einer Jugend

Der Berliner Verlag Matthes und Seitz macht es mit seiner Neuauflage von Vera Brittains Memoir Vermächtnis einer Jugend möglich: die Wiederentdeckung eines faszinierenden Buches und einer nicht minder faszinierenden Frau, die heute schon wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist.

Zwar ziert in Hamburg und Berlin-Mitte zwei prominente Plätze der Name Vera Brittains, doch ihr Werk und ihre Mission verdienen eigentlich mehr. Mehr als zwei Schilder mit rudimentären Informationen über diese außergewöhnliche Frau. Denn in ihrer packenden Autobiographie erzählt Brittain von dem, was Kriege für die Menschen bedeuten, wirbt energisch für den Frieden und erzählt vom Kampf für Frauenrechte.

By Wikswat – Own work, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=53694740

Zusammen mit ihrem Bruder Edward wächst Brittain Ende des 19. Jahrhunderts im ländlichen England wohlbehütet auf. In puncto Bildung fällt schon bald das Talent des Mädchens auf, und so schafft sie es bis nach Oxford, wo sie Englische Literatur am Mädchencollege zu studieren beginnt. Doch das Weltgeschehen jener Tage wirkt sich auch ins Privatleben von Vera Brittain aus.

Nachdem 1914 in Sarajevo der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand ermordet wurde, entzündet sich das Pulverfaß Balkan mit den bekannten Konsequenzen. Nacheinander treten die Nationen Europas in das ein, was als Großer Krieg bezeichnet wird (wer sollte ahnen, dass wenige Jahre später ein noch brutalerer Krieg folgen sollte?). Auch England greift im August 1914 per Kriegserklärung ins Kriegsgeschehen ein, nachdem Belgien gemäß dem Schlieffen-Plan angegriffen und besetzt wurde. Großbritannien betrachtet sich als Schutzmacht Belgiens und wird nun so in den Krieg involviert, was anfangs durchaus noch begrüßt wurde.

Engagement im Ersten Weltkrieg

Denn zunächst herrscht allenorten noch viel Enthusiasmus, erwartet man doch ein schnelles Ende des Kriegs. Auf deutscher Seite kursiert der bekannte Schlachtruf, der auch auf der nebenstehenden Postkarte verewigt ist: Jeder Schuss ein Russ, jeder Stoß ein Franzos, jeder Tritt ein Brit, jeder Klapps ein Japs.

Mit großer Begeisterung und Kriegsgeheul stürzt man sich in die Schlacht. Auch auf der Insel war die Lage zu Kriegsbeginn von einer ähnlichen Euphorie geprägt. Zahlreiche junge Männer melden sich zum Militär, darunter auch Vera Brittains Bruder und ihr baldiger Verlobter Roland Leighton. Diesem Engagement will Vera nicht nachstehen und meldet sich als sogenannte VAD (Voluntary Aid Detachment) für den freiwilligen Hilfsdienst an der Heimatfront.

Als Krankenschwester ist sie für die Versorgung und Pflege der an der Front verletzten Soldaten zuständig. Doch die beginnende Euphorie wandelt sich schnell mit zunehmender Dauer und den damit einhergehenden Verlusten an der Front. Besonders der Einsatz ihres Verlobten und ihres Bruders in diesem Krieg strapaziert die Nerven und sorgte für eine ständige Belastung. Sie konstatiert:

Die Welt war aus den Fugen und wir alle waren die Opfer; anders konnte man es nicht sehen. Diese vernichteten, sterbenden jungen Männer bezahlten genauso wie ich für eine Situation, die weder sie noch ich herbeigesehnt oder auf irgendeine Weise herbeigeführt hatten. Ich dachte an ein Gedicht mit dem Titel „An Deutschland“, das ich irgendwo gelesen hatte, es fasst den in mir aufkeimenden Gedanken in Worte. Später erfuhr ich, dass es von Charles Hamilton Sorley stammte, der 1915 gefallen war:

Ihr saht nur eurer Zukunft großen Plan

und wir nur unser enges Hirngewinde,

und jeder wehrt des anden liebstem Wahn

voll Hass. Also bekämpfen Blinde Blinde.

Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 309 f.

Die Erfahrung des allgegenwärtigen Leids

In den Schilderungen der psychischen Belastung und dem emotionalen Druck, dem sich Brittain stellvertretend für tausende junger Mensch ausgesetzt sah, ist dieses Buch unglaublich beeindruckend. In mehreren Passagen droht der Atem zu stocken, gerade wenn sie lapidar Ereignisse von größter Wucht schildert, die man kaum zu verarbeiten vermag.

Soldaten auf den Schlachtfeldern von Passchendaele

Die Tätigkeit als eigentlich ungelernte Hilfskrankenschwester, die unter der Schikane von Vorgesetzten und dem unentrinnbaren Leid litt, vermittelt Vera Brittain ungeschönt und sehr direkt. Auch wenn der Erste Weltkrieg nun genau 100 Jahre zurückliegen mag – das Leid wird mit dieser Lektüre wieder plastisch erfahrbar. Sie nimmt die Leser mit in Krankenstationen und auf die Schlachtfelder, die zur Todesstätte von hunderttausenden jungen Menschen wurden. Ein besonderes Augenmerkt gilt Vera Brittain dabei der Yper-Schlacht und der Passchendaele-Schlacht, bei der auch ihr Bruder involviert war. Dort rieben sich deutsche und alliierte Truppen auf, ohne dass sich in diesem Stellungskrieg wirkliche Landgewinne oder taktische Vorteile ergeben hätten. So lautet hier das Urteil der Autobiographin:

Zwischen 1914 und 1919 haben sich junge Männer und Frauen, bestürzend reinen Herzens und naiv für die Eigeninteressen der Älteren und der zynischen Ausbeutung, immer wieder – wie ich an jenem Morgen  in Boulogne – einer Sache verpflichtet, die sie anfangs für edel und gut hielten und an die sie auch später lange glauben wollten. Je „fadenscheiniger“ der Patriotismus wurde, je mehr Argwohn und Zweifel sich einzuschleichen begannen, umso inbrünstiger und häufiger wurden die periodischen Neu-Verpflichtungen, umso beharrlicher die Selbstbeschwörung, dass unsere Sache gerecht sei und unser Beitrag frei von selbstsüchtigen Interessen.

Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 304

Aus Schaden wird man doch nicht klüger

Gewalt gebiert Gewalt, und Krieg wird immer wieder nur wieder neuen Krieg hervorrufen. Diese Erkenntnis ist ja nicht neu, schon der griechische Dramatiker Ayschylos thematisierte das in seinem Dramenreigen Die Orestie 500 vor Christus. Doch auch 2414 Jahre später ist dieser Gedanke immer noch vital und gültig. Dies zeigen auch die Erinnerungen von Vera Brittain ganz klar.

Die Britin illustriert eindrucksvoll, wie der Kriegseintritt Großbritanniens die Lage keinesfalls befriedete, sondern immer noch mehr anheizte. Sie schildert das Leid, das auf beiden Seiten der Frontlinie unfasslich groß war und zeigt, wie eine ganze Generation junger Menschen ihr Leben gab. Und das im Endeffekt für Nichts und wieder Nichts.

Denn nach Ende des Großen Kriegs beginnt sie im Auftrag des Völkerbundes Vorträge zu halten und England zu bereisen. Sie kommt in diesem Zuge auch nach Deutschland, wo sie feststellt, dass auch hier das Leid allgegenwärtig ist. Wirklichen Gewinn hat der Krieg allein den Spekulanten, Kriegstreibern und Großindustriellen gebracht, die am Krieg und Leid mitverdient haben. Den einfachen Menschen hat der Krieg nur Verluste beschert.

Logisch lässt sich aus diesen Erlebnissen und den Schilderungen in Vermächtnis einer Jugend Vera Brittains Engagement für mehr Pazifismus ableiten. Ihr unermüdliches Werben um Friede und Verzeihen unter persönlicher Belastung beeindruckt.

Doch bitter auch die Erkenntnis, dass man aus Schaden doch offensichtlich nicht klug wird. Denn fünfzehn Jahre später nach dem verlustreichen Frieden von Compiègne überzieht ja schon der nächste, noch blutigere Krieg Europa. Gewalt gebiert eben doch nur Gewalt.

Für Vera Brittain muss dies persönlich, ihrem Memoir nach zu urteilen, eine Niederlage ohnesgleichen gewesen sein. Denn ihre Mission für Frieden und Abrüstung konnte man nur als gescheitert betrachten.

 

Vera Brittains Kämpfe

Vera Brittain als Krankenschwester

Andere Kämpfe hingegen waren für Vera Brittain erfolgreicher. So schafft sie es in einem Umfeld, das Frauen gerne niedrig hielt, ihren Bildungsabschluss in Oxford zu erlangen. Sie setzt sich für Frauenrechte ein und macht die Bekanntschaft mit einigen Vordenkerinnen. Besonders mit ihrer Freundin Winifred verband Vera Brittain eine innige Freundschaft. Diese Freundschaft half ihr auch dabei, die Wunden, die der Erste Weltkrieg in ihr geschlagen hatte, wenigstens ein wenig zu mildern.

Ein weiteres Heilmittel, das sich auch in der Gestaltung von Vermächtnis einer Jugend niederschlägt, ist die Lyrik. Diese spielt für Vera eine wichtige Rolle. Ihr Verlobter Roland dichtet genauso wie ihr Bruder und sie selbst. Die 13 Kapitel, die die chonologische Ordnung des Buchs ergeben, werden stets mit einem Gedicht eingeleitet. Diese hat Hans-Ulrich Möhring ins Deutsche übertragen, wofür ihm Respekt gebührt. Die lyrische Übertragung funktioniert beeindruckend gut. Doch nicht weniger Respekt muss auch Ebba D. Drolshagen gezollt werden. Sie hat die knapp 500 Seiten Autobiographie wunderbar übersetzt. Zudem steuert sie auch noch ein Nachwort bei, dass die Lektüre abrundet. So wird nicht nur die persönliche Sicht Vera Brittains sondern auch ein objektiverer Blick auf ihr Leben möglich.

Doch was bleibt von einem solchen Leben, solchen Erlebnissen und einem solchen Engagement gegen Krieg und Gewalt? Vera Brittain selbst findet in ihrem Memoir zu folgendem, analytischen Schluss:

Ich hatte endlich die Bitterkeit darüber abgelegt, mein halbes Leben lang immer wieder in der Freiheit beschnitten worden zu sein, zu arbeiten und Neues zu schaffen. Ich begann zu begreifen, dass diese alten Feinde und mein Kampf gegen sie mein Leben seiner Mittelmäßigkeit enthoben, ihm Glanz verliehen, es lebenswert machten; Menschen, denen das Schicksal zu viel abverlangt, sind um so viel vitaler als jene, denen es zu wenig abfordert. In gewisser Weise war ich mein Krieg, und mein Krieg war ich, ohne ihn täte ich nichts und wäre nichts

Brittain, Vera: Vermächtnis einer Jugend, S. 505

Unbedingt wieder neu zu entdecken: Vera Brittain

Vermächtnis einer Jugend ist ein Manifest: eines, das die Gräuel des Kriegs beschreibt und eindringlich für Frieden wirbt, ein Manifest für Bildung und genauso ein Weckruf für Frauenrechte und eine Anerkennung ihrer Stellung und Verdienste.

Mag das Buch in Großbritannien ein Verkaufsschlager (gewesen) und auch für die Leinwand adaptiert worden sein – hier in Deutschland würde Vera Brittain etwas mehr Ruhm guttun. Man kann nur hoffen, dass diese Neuauflage der Autobiographie dazu führt, dass Vera Brittain vielfach gelesen wird. Ihre Verdienste sollten nicht vergessen werden.

Hier gilt es schließlich wieder, eine außergewöhnliche Frau zu entdecken, die uns immer noch viel zu sagen hat!

 


[Bildnachweise:

Titelbild Header: By John Warwick Brooke –  Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=567171

Postkarte Kriegsproganda: ÖNB Bildarchiv

Passchendaele: By William Rider-Rider – Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5736873

Vera Brittain: By Noelbabar – Own work, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=56358506]

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Tara Westover – Befreit


Jeder Mensch hat das Recht auf Bildung.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948), Artikel 26

Es ist ein Grund zum Feiern: in weniger als zwei Monaten feiert diese bahnbrechende Erklärung ihr 70-jähriges Jubiläum. Das Recht auf Bildung, es ist zentrales Element der Erklärung der Menschenrechte, auch in der Genfer Flüchtlingskonvention und der Kinderrechtskonvention ist dieses universale Recht verankert.

Doch was ist, wenn die Eltern ihrem Kind dieses verbriefte Grundrecht vorenthalten? Wenn statt der Bildung des Nachwuchses in einer instutionellen Einrichtung eigene Regeln und Dogmen den Alltag bestimmen und damit das Recht auf Entfaltung und Bildung der Kinder zunichte machen?

Davon kann Tara Westover äußerst eindrucksvoll berichten. Sie legt Zeugnis ab in Form ihres Memoirs Befreit (Deutsch von Eike Schönfeld). Darin schildert sie ihre Kindheit und Jugend in einem staats- und bildungsskeptischen Haushalt in der Einöde Idahos – und ihren Weg aus diesem obstruktiven Milieu heraus.

Eine Kindheit in Idaho

Doch das ist eigentlich viel zu harmlos formuliert für das, was Westover erleben und erleiden muss. Zusammen mit sieben Geschwistern wächst sie in Mountain West auf, einer Region in der Einöde Idahos. Am Fuße des mächtigen Bergs Buck Peak befindet sich das Haus der Westovers.

Ebenso massiv und bedrohlich ragt ihr Vater über der Familie auf, dessen Ansichten und Doktrinen das Familienleben bestimmen. Denn die Westovers sind Mormonen – was Taras Vater radikal lebt. Die Vorstellungen der Bibel und der mormonischen Glaubenslehrer gelten als unverrückbare Richtschnur, nach der sich das ganze Leben auszurichten hat. In seiner Orthodoxie unbeirrbar wird da schon einmal sämtliche Milch aus dem Haus entfernt und das Müsli fortan mit Wasser getrunken – es steht ja so in der Heiligen Schrift.

Doch nicht nur in seiner Auslegung der Heiligen Schrift und der Ausrichtung des ganzen Lebens danach ist Westovers Familie radikal. Auch lehnt Vater Westover stellvertretend für seine Familie jegliche staatliche Einmischung in sein Leben beziehungsweise den Staat selbst ab.

Das Ende ist nahe – nur bitte ohne den Staat

Staatliche Versicherungen, Geburtsurkunden oder Ähnliches? Nur ausgeklügelte Instrumente des amerikanischen Staates, um seine Untertanen zu unterdrücken und diesen hinterherzuspionieren. Besser ist es, wenn man sich selbst im Stile der Prepper abkapselt, um für den Notfall gerüstet zu sein, sobald eines Tages dann der Zusammenbruch kommt.

Hier zeigt Westover nationenübergreifend, wie solche Radikalisierung und Denkprozesse funktionieren – unabhängig davon, ob es sich gerade um einen ultraradikalen Redneck im Hinterland Amerikas oder einen Reichsbürger in Franken handelt. Die Wege in die eigenen Wahnvorstellungen hinein und das Leben mit radikalen Ansichten sind universell. Eine bittere Erkenntnis, die Befreit birgt – denn heraus findet man aus so einer Welt kaum mehr.

Aber auch Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen des Staats sind für die Westovers Teufelszeug. Hat sich einmal ein Kind etwas gebrochen oder schwer verletzt, wird zu homöopathischen Pflanzenmitteln gegriffen, statt den Weg in ein staatliches Krankenhaus zu suchen. Denn die Ärzte haben nur die Vergiftung ihrer Patienten im Sinn, so die verqueren Ansichten des Vaters.

Bildung? Teufelszeug

Dass diese Weltanschauung sich auch auf die Bildung erstreckt, sollte nicht verwundern. Denn in Schulen bekommen die Kinder nur eine sozialistische Gehirnwäsche verpasst. Und sowieso ist der ganze Bildungssektor von den Illuminaten unterwandert – da erzieht man seine Kinder lieber daheim und lässt ihnen ein gewisses Maß an Grundbildung zukommen. Doch bitte nicht zuviel, schließlich sollen die Mädchen eh nur heiraten und die Jungs auf dem familieneigenen Schrottplatz als Arbeitskräfte eingesetzt werden.

Angesichts dieser Hintergründe mutet die Emanzipationsgeschichte von Tara Westover umso kühner und bewundernswerter an. Ihr Weg aus diesem bildungsfeindlichen Milieu bis nach Harvard erscheint zwar auf den ersten Blick wie ein Märchen, doch dass dieser Weg mit unglaublichen psychischen Belastungen, Ängsten und der zunehmenden Abkapselung von den eigenen Wurzeln einherging, das verschweigt die Amerikanerin in Befreit nicht.

Hier bekommt man einen Eindruck, wie es sein muss, wenn man das Höhlengleichnis von Platon in die heutige Welt überführt. Denn gemäß Kants aufklärerischen Postulat Sapere aude ist man hier wirklich Zeuge, wie sich eine junge Frau selbst aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit befreit und so einen neuen Blick auf ihr Leben und ihre Welt erhält. Alleine das macht Befreit schon zu einem beeindruckenden Leseerlebnis – wenngleich die Passagen ihrer sozialen Herkunft wirklich harter Tobak sind.

Das schizophrene, gewaltgeschwängerte Milieu am Fuße des Buck Peak, die scheinheiligen Doppelstandards ihrer Familie – das alles liest sich schon bedrückend. Ein Leben unter diesen Umständen muss da ja noch ungleich schwerer sein. Bei der Verarbeitung hilft Tara Westover dann aber auch wiederum die Bildung.

Erst auf Seite 290 in ihrem Memoir, aber noch relativ am Anfang ihres Bildungsprozesses befindlich, liefert ihr das Wissen die Voraussetzung zum Verständnis ihres Vaters und damit auch zum Verständnis ihrer ganzen Familie. Bipolare Störung heißt das Wort, das ihr zunächst wie andere Begriffe (beispielsweise der Terminus  Holocaust), ein völlig unbekannter Ausdruck ist. Doch dann gibt ihr die Erklärung dieser Begriffe einen Schlüssel in die Hand, mit der sie sich ihre Welt ein Stück weiter aufsperren kann. Dies ist beeindruckend geraten und hält auch für uns Leser eine Erkenntnis bereit: Wir können manchmal an der Welt scheitern und an ihr zweifeln – aber mithilfe der Bildung können wir sie zumindest besser verstehen.

Das macht aus Tara Westovers Erzählung eine Geschichte, die weit über dieses Einzelschicksal hinausweist. Ihr Buch beleuchtet die beiden Seiten ihres Lebens eindringlich, zwischen denen sich nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch die Gesellschaft entscheiden muss. Verblendung, Fanatismus und religiöse Dogmen auf der einen Seite, Individualismus, Bildung und Aufklärung auf der anderen Seite. Ein starkes Plädoyer und das beeindruckende Lebenszeugnis einer jungen Frau.

Fazit oder: The Redemption Song

Zu einem Song mit großer Symbolkraft wird für Tara das Lied Redemption Song von Bob Marley. Die Selbsterkenntnis, die ihr das Hören dieses Lieds beschert ist enorm. Darin heißt es 

Emancipate yourself from mental slavery

None but ourselves can free our mindes

(Bob Marley, Redemption Song)

Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Außer dass wir auch im 70. Jahr nach der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte die Bildung als Schlüssel zu einem besseren Leben allen, wirklich allen zugänglich machen müssen. Befreit ist und sollte uns da Mahnung und Ansporn zugleich sein.

 

Weitere Besprechungen des Buchs finden sich auf den Blogs Binge-Reader sowie Feiner, reiner Buchstoff.

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Elena Ferrante – Die Geschichte eines neuen Namens

Die Neapolitanische Saga um die Freundinnen Elena und Lila geht weiter. Der zweite Band behandelt die Jugendjahre der Freundinnen und ihren schweren Kampf um Anerkennung und Selbstbestimmung und ist zugleich wieder ein Panorama Italiens in den 60er Jahren.

Nach dem Cliffhanger am Ende von Meine geniale Freundin wollte man natürlich wissen, wie sich die junge Ehe von Lila und Stefano entwickeln würde und welchen Weg Elena, genannt Lenù, beschreiten würde. Der nächste Band des Quartetts gibt nun eine ausführliche Antwort. Der Konflikt, der sich im ersten Band mit den Solaras bereits andeutete, steigert sich nun. Während Stefano in Abhängigkeit zu den Brüdern steht, die die Camorra repräsentieren, rebelliert Lila weiterhin und bringt ihr störrisches Wesen immer wieder zum Ausdruck. Dies sorgt für häusliche Konflikte und bleibt auch im Rione, dem Stadtviertel Neapels in dem die beiden Freundinnen aufwuchsen, nicht unbemerkt. Klatsch, Neid und subtile Gewalt sind in diesem dumpfen Milieu an der Tagesordnung und engen die beiden jungen Frauen ein.

Während Lila in ihrer Beziehung rebelliert, versucht Lenù dem Druckkessel Rione durch Bildung zu entgehen. Im Gegensatz zu ihrer genialen Freundin verfolgt sie nämlich weiterhin ein Schulkarriere, die sie bis in ein Kolleg in Pisa führen wird. Doch trotz allem Drang nach Bildung und Fortkommen verläuft auch Lenùs Weg alles andere als gerade. Ein Sommer in Ischia wird zum Wendepunkt im Leben der beiden Frauen und stellt alle Dinge auf den Kopf …

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