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Betty Smith – Ein Baum wächst in Brooklyn

Besucht man meine Wahlheimatstadt Augsburg, dann kommt man als Tourist um einen Besuch des Rathauses nicht herum. Höhepunkt des Rathauses ist der sogenannte Goldene Saal, ein prunkvoller Raum voller Malereien und Stuck mit über 14 Meter Deckenhöhe. In der Mitte jener Decke prangt ein großes Gemälde, das der Maler Johann Matthias Kagerer geschaffen hat.

Eines dieser unter dem Titel Sapientia, also Weisheit, firmierenden Teilgemälde hat eine schöne Botschaft. So zeigt Kagerer allegorisch, dass jede Generation die vorige übertreffen soll, was das Streben nach guten Taten und Bildung angeht. Schlauer, Strebsamer, Mildtätiger, Besser – der Hunger nach Fortschritt ist es, an den die Betrachter*innen des Gemäldes erinnert werden soll. Ein durchaus guter Vorsatz, der mich zu Betty Smiths Roman Ein Baum wächst in Brooklyn bringt.

Tatsächlich ist es jenes Streben nach Bildung, Teilhabe und sozialem Aufstieg, das das Leben von Francie Nolan beherrscht, der Heldin von Smiths 1943 erschienenem Roman. Sie wächst im ärmlichen Einwanderermilieu Brooklyns auf, genauer gesagt im jüdisch geprägten Viertel Williamsburg. Dort entflieht sie ihrem tristen Alltag, indem sie die lokale Bücherei aufsucht und sich zur anschließenden Lektüre auf die Feuerleiter ihres Appartements zurückzieht. Dort verbirgt sie die Krone eines im Hinterhof wachsenden Baumes, sodass Francie bei ihrer Lektüre der Welt gleich auf zweifache Weise entfliehen kann.

Der große Wunsch nach Mehr

Mit jenem titelgebenden Baum hat Betty Smith eine schöne Metapher gefunden, die dieses Streben und Wachsen ihrer Protagonistin wunderbar spiegelt. Ist Francie doch in ihrer Familie stark verwurzelt, so ist es dann der Wunsch nach mehr, der dann zu einer Ausprägung und Ausdifferenzierung ihrer Persönlichkeit führt. Allmählich geht der kindliche Blick über zu einer erwachsenen Perspektive auf das Leben. Der Ernst des Daseins, er erfasst auch Francie. Es ist das große Talent von Betty Smith, dass ihr Roman ob dieses großen biographischen Bogens von der Geburt bis hin zum Erwachsenenstadium nie an Spannkraft verliert (immerhin umfasst Ein Baum wächst in Brooklyn über 620 Seiten).

Betty Smith

Dass dem so ist und Betty Smith so präzise ihr Milieu durchmisst und schildert, das liegt auch in ihrer Biographie begründet. So entstammt die Autorin selbst einem Einwandererhaushalt. Ihr beiden Eltern kamen aus Deutschland und suchten in den USA ihr Glück. So lautete der Kindername von Betty Smith Elisabeth Lillian Wehner. Mit einem jüngeren Bruder und Schwester wuchs sie ebenfalls in Williamsburg auf. Einige Umzüge folgten, ehe sich die Familie dann in Brooklyn niederließ. Dort wurde Smith auch zu einer fleißigen Nutzerin der Bücherei – hier zeigen sich also schon deutliche die Kongruenz zwischen ihrer Heldin Francie und Smiths eigener Vita.

Eine präzise Milieustudie

Es gelingt Betty Smith in Ein Baum wächst in Brooklyn nicht nur ausgezeichnet, den Lebensweg von Francie Nolan nachzuzeichnen. Über ihre Lebensumstände und Träume schafft es die Autorin wunderbar, das Einwanderermilieu Brooklyns zu skizzieren. Wie ein Wimmelbild zeichnet sie die Straßen des Molochs, der von hart arbeitenden Menschen bevölkert wird. Inmitten von jüdischen Bäckern, irischen Metzgern, gewerkschaftlich organisierten Kellnern, wahlkämpfenden Demokraten, Schrottsammlern und unzähligen anderen Arbeitern und Ethnien wächst Francie heran. Über sie wirft man einen Blick in Gewerkschaftsbüros, Kneipen, Fabriken und Schulen und bekommt einen Eindruck davon, wie es um 1910 zugegangen sein muss in den Straßen Brooklyns.

Sozialromantik oder verklärender New-York-Kitsch herrscht bei Smith allerdings nie. Stattdessen ist ihr Roman auch ein präziser Blick hinein in die prekären Verhältnisse, in denen die meisten Einwanderer gefangen waren. Die Passagen, die die Sparanstrengungen von Francie und ihrer Mutter illustrieren, lesen sich nach wie vor eindringlich und durchaus aktuell. Auch ist das Streben nach Emanzipation und Anerkennung bis heute von Gültigkeit geprägt und lässt vergessen machen, dass über 75 Jahre vergangen sind, seit Ein Baum wächst in Brooklyn erschienen ist.

Ein zeitloses Buch

Smiths Roman ist im besten Sinne zeitlos. Ihre Erzählstimme ist auch nach über 74 Jahren klar und frisch (einen großen Anteil daran hat sicherlich auch ihr Übersetzer Eike Schönfeld), der Ton ist hervorragend gewählt und in der Übersetzung ebenso getroffen. Genau dasselbe gilt für die Themen des Buchs, die generationenübergreifend bis universell sind. Dieses Streben nach Mehr, der Wunsch nach dem eigenen Glück und der Versuch, seiner eigenen Herkunft zu entkommen – dieses Themen und sind und werden immer aktuell sein.

Das alles macht aus Ein Baum wächst in Brooklyn ein zeitloses Buch. Ein Buch, von dem man sich einfach gut unterhalten lassen kann. Ein Buch, in dem man, wenn man möchte, aber auch tiefergehende Schichten finden kann. Ein Buch, das viele Ebenen besitzt und einem Schaufenster gleich den Blick in eine vergangene Epoche mit nicht vergehenden Themen öffnet.


Bildquelle Betty Smith: https://en.wikipedia.org/w/index.php?curid=33476806)

Die Drei im Dezember

Drei Lektüren meiner letzten Tage, kurz vorgestellt und besprochen. Und ab geht die wilde Fahrt!

Éric Vuillard – Ballade vom Abendland

Ein Buch wie ADHS. Einem irren Kameramann gleich springt Éric Vuillard mitten hinein in das Getümmel des Ersten Weltkriegs. Er zoomt auf Beteiligte wie General Schlieffen, den amerikanischen Präsidenten McKinley, den Attentäter Gavrilo Princip oder Sophie Chotek, jene von Princip ermordete Gattin des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand.

Ähnlich wie bei seinem Erfolg Die Tagesordnung interessiert sich Vuillard auch hier für die Mechanismen, die einen solchen Krieg auslösen. Bei seiner Suche findet er vor allem viel Absurditäten und legt den Wahnsinn offen, den Krieg bedeutet. Seine Collagentechnik und Erzählweise ist dabei oftmals wirklich anstregend, stilistisch nicht immer einwandfrei, manchmal einfach too much. Dennoch schafft Vuillard mit seinem Buch etwas ganz großartiges: Ballade vom Abendland ermöglicht einen neuen Blick auf den Ersten Weltkrieg, fernab von immer wieder wiedergekäuten Jahreszahlen, Ereignissen und Wegmarken. Das ist es, was besondere Literatur ausmacht!

Erschienen ist das Buch in der Übersetzung von Nicola Denis in der Reihe Matthes&Seitz Paperback. Genauere Informationen gibt es hier.


Kathleen Collins – Nur ein Mal

Hier sollte man sich nicht von dem nichtssagenden deutschen Titel in die Irre führen lassen. Viel besser ist der Originaltitel, der zugleich auch der Titel einer der im Buch enthaltenen Kurzgeschichten ist: Whatever happened to interracial love? bzw. im Deutschen etwas sperriger: Was ist nur aus der Liebe zwischen den Rassen geworden?

Das ist eines der Themen, das Kathleen Collins Buch neben vielen anderen umkreist. Die Entstehung dieses Buchs ist dabei wirklich besonders. Die Skizzen und Kurzgeschichten, die in diesem Buch versammelt sind, entstammen aller einer großen Kiste. In diese hatte Collins ihre Theaterstücke, Fragmente und Short Storys gepackt, ehe sie 1988 verstarb. Erst nach 18 Jahren öffnete ihre Tochter die Truhe, sodass wir nun in den Genuss dieser besonderen Erzählungen kommen.

Diese sind alle im Kosmos des Jahres 1963 angesiedelt und erzählen von der Liebe, der Suche nach Verwirklichung und Glück oder vom alltäglichen Rassismus. Manches wird nur angerissen, andere Geschichten sind tiefer ausgestaltet. Eine faszinierende Zeitkapsel, die den Sound und Beat des New Yorks 1963 nacherleben lässt.

Erschienen ist das Buch in der Übersetzung von Brigitte Jakobeit und Volker Oldenburg im neugegründeten Kampa-Verlag. Alle Informationen hierzu gibt es an dieser Stelle.


Bernard MacLaverty – Schnee in Amsterdam

Es passiert kaum Spektakuläres in diesem Buch. Ein altes Paar aus Irland tritt seinen Kurzurlaub in Amsterdam an. Man kennt sich seit Jahrzehnten, hat sich mit den Fehlern und Makeln des anderen arrangiert – und nun also vier Tage in Amsterdam.

Damit ist die Handlung von Bernard MacLavertys Roman Schnee in Amsterdam eigentlich relativ vollständig umrissen. Das Spannende ist hier weder die Rahmenhandlung noch die Sprache, die zwar erfreulich genau die Atmosphäre und jeweiligen Stimmungen einzufangen weiß, aber hinter die große Stärke des Romans zurücktritt.

Diese ist die Zeichnung der beiden Hauptfiguren Stella und Gerry. Wie beide eigentlich alles voneinander wissen, dennoch aber blind für die wahren Bedürfnisse und Geheimnisse des anderen sind, das ist toll gezeichnet und mit einer großen Empathie für die Figuren geschildert. Denn es gibt ein Geheimnis, das mit dem Besuch der Touristenattraktionen Amsterdams wieder neu ins Bewusstsein von Stella gerät. Nie hat sie es Gerry anvertraut, doch nun reißt der Urlaub alte Wunden auf.

Der Kurzurlaub gerät bei MacLaverty zum Kammerspiel, das beide Figuren eine spannende Entwicklung durchlaufen lässt. Weniger formal denn psychologisch interessant und glaubhaft erzählt!

Erschienen ist MacLavertys Roman in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser bei C.H. Beck.

C. E. Morgan – Der Sport der Könige

Zucht und (Familien)Ordnung

Es gibt Bücher, die machen es dem Leser (respektive mir) nicht leicht. Man muss sich durch so manche Seiten kämpfen, bleibt immer wieder hängen. Das Ende des Buchs scheint in weiter Ferne – lohnt sich da das Durchhalten? Oder sollte man nicht lieber abbrechen und die Zeit besser investieren?

In vielen Fällen würde ich energisch für Letzteres werben, im Falle von Der Sport der Könige bin ich ich froh, dies nicht getan zu haben. Warum?

Viele Leser*innen werden schon die äußeren Werte des Buchs abschrecken. Über 960 Seiten umfasst das von Thomas Gunkel übersetzte Werk. Und dann ist das Thema noch dazu auf den ersten Blick eines, das jetzt auch keine Jubelstürme auslösen dürfte. Pferdezucht im Süden der USA, und das über einen Zeitraum von mehreren Jahrzehnten hinweg. Das dürfte so einige Leser*innen zurückschrecken lassen.

Und tatsächlich gab es auch bei mir immer wieder Phasen, in denen ich das Buch zuklappen und beiseite legen wollte. Denn Morgans Roman bietet dazu reichlich Gelegenheit. Oftmals fehlt gerade im zweiten und dritten Fünftel des Romans die Spannkraft und der Fokus. Immer wieder wechselt die Autorin Erzählperspektive und Figuren (und das teilweise auch ohne wirkliche Not). Springt in der Zeit hin und her, ist mal bei den Siedlern und Sklaven, die das Land von Kentucky prägten. Dann nimmt sie von einem Absatz auf den anderen neue Figuren in den Fokus, erzählt mal im Präteritum, dann wieder im Präsens. Logisch ist das nicht immer und hätte deutliche Straffungen durch ein Lektorat verdient. Doch das Ganze belohnt auch, schließlich ist die Geschichte hinter Der Sport der Könige eine durchaus spannende. Aber worum geht es überhaupt in diesem sehr amerikanischen Roman und was kennzeichnet das Buch?

Eine Familiengeschichte aus Kentucky

Die Folie des Opus Magnum bietet die Familiengeschichte der Forges. Einst gelangte ein Vorfahr von Henry Forge mit einem Sklaven nach Kentucky, wo er sich niederließ und den Grundstein für die erfolgreiche Dynastie legte. Generation folgte auf Generation und machte sich das fruchtbare Land untertan. Erst Henry Forge schert aus der agrikulturellen Erblinie der Familie aus. Er hegt schon als Kind den Traum, Pferde zu züchten. Und für diesen Traum kämpft er und infiziert mit seinen Visionen auch seine Tochter. Zusammen versuchen sie, ein Rennpferd zu züchten, das die Konkurrenz bei Rennen weit hinter sich lässt.

Doch Konkurrenz und Rivalität gibt es nicht nur zwischen den Pferden und zwischen den jeweiligen Ställen. Auch die Familiengeschichte der Forges ist vermintes Terrain. Immer wieder prallen die Lebenswelten von Henry und seiner Tochter Henrietta aufeinander. Die Widersprüche zwischen altem (zutiefst rassistischen) Denken in der Tradition des Südens und einer weiblichen, von Fortschritt geprägten Sicht auf das Leben bilden eine explosive Gemengelage.

Den zündenden Funken an der Lunte jenes Forge’schen Pulverfasses bildet der Pferdepfleger Allmon. Er kommt zur Farm, nachdem er zuvor jahrelang im Gefängnis gesessen hatte (wofür, das erklärt C. E. Morgan wohldosiert im Laufe des Buchs). Er übernimmt durchaus talentiert die Aufzucht und Betreuung der Pferde in den Ställen von Henry und Henrietta. Doch bei einem normalen Dienstherr-Angestellten-Verhältnis bleibt es nicht.

Henrys Tochter fühlt sich stark zu dem schwarzen Ex-Häftling hingezogen, was auch bei Henry nicht unbemerkt bleibt. Für ihn als einen Rassisten reinsten Wassers ist dies natürlich ein einziger Affront, den er mit allen Mitteln verhindern will. Doch die drei Parteien verstricken sich durch ihr Begehren, ihr Taktieren und ihre Intrigen in ein Netz, dass sie unauflöslich umspinnt.

Das Menschliche im Tier, das Tierische im Menschen

Das Spannende an Morgans Roman ist, dass sie die Grenzen zwischen Mensch und Tier verschwimmen lässt. So sind für sie die Pferderennen und die damit einhergehende zirkusähnlichen Events nur Stellvertreterkriege. Die wahren Rivalitäten spielen sich zwischen den Pferdezüchtern, Rennstallbesitzern und Jockeys ab. Sie bringen die echten Rivalitäten ans Tageslicht und enthüllen das animalische Erbe, das sich in den Konkurrenzkämpfen Bahn bricht. Besonders eindringlich sind dementsprechend auch die Szenen mit den großen Schauwerten geraten. Die Beschreibungen der Pferderennen rufen Erinnerungen an andere große Pferderennklassiker wach, allen voran Ben Hur oder die Krimis von Dick Francis.

Aber auch in anderen Szenen gelingt es C. E. Morgan hervorragend, sowohl höchst mitreißend, als auch metaphernsatt zu erzählen. So schildert sie höchst anschaulich den Alltag von Pferdezüchtern, unter anderem eben auch die Besamung einer Pferdestute. Von der Mechanik dieser Szene weiß sie dann geschickt auf die menschliche Sexualität überzuleiten – auch hier kommt sie wieder vom Tierischen zum Menschlichen. Dass sich beides kaum unterscheidet, das wird in der Der Sport der Könige immer wieder klar.

Die Anziehung und Hassliebe zwischen Henrietta und Allmon, die sich immer wieder explosiv Bahn bricht, wird von ihr nuanciert gezeichnet. Aber auch hier ist Henry ein unausweichlicher Teil, dem die Affäre zwischen seiner Tochter und dem Ex-Häflting nicht verborgen bleibt. Soll er dieses Begehren seines einfach akzeptieren, oder muss er versuchen, die Bande auch im Sinne seines dem Rassismus verhafteten Denkens zu kappen?

Diesen erfolgreichen Tiertrainer in die Wüste schicken und seine Tochter dabei vielleicht verliere – oder dem potentiellen Erfolg mit seinem Pferd alles unterordnen? Es ist auch diese Schwanken zwischen Kalkül und Gefühl, aus dem Morgans Buch seinen Reiz zieht. Die Amerikanerin lässt die Leser*innen selbst abwägen und vermeidet dadurch den Fehler, alles selbst allzu genau zu bewerten und damit dem Buch die moralische Spannung zu entziehen.

Großer Stilwillen – mit Problemen

Wie ich eingangs schon schrieb, machte es mir dieses Buch alles andere als leicht. Lässt man das Thema und die amerikanische Zentrierung auf die Familie als Kernzelle des Romans beiseite bleibt immer noch die Frage: wie ist der Stoff erzählt?

Hier zeigt sich der große Formwillen von C. E. Morgan, die mit dem Buch fast an der magischen 1000-Seiten-Grenze kratzt. Dies ist erlaubt, da das Buch von der erzählten Zeit her eine riesige Spanne umfasst. Mehrere Generationen werden in Der Sport der Könige betrachtet und sogar bis zurück in die Sklavenzeit springt die Autorin. Jene für Amerika identitätsstiftende Periode ruft sie mit immer wieder zwischengeschalteten Binnenepisoden wach. Diese schildern anschaulich das Schicksal von Sklaven. Das ist gut gedacht und gemacht, da ja der Rassismus DAS große Subthema des Buchs ist und dementsprechend einer umspannenden Betrachtung mit historischem Blick bedarf.

Nun schrieb ich oben, dass die 960 Seiten auf alle Fälle erlaubt sind. Doch die andere Frage lautet, ob diese Fülle an Seiten wirklich alle notwendig ist – versteht die Autorin alle 960 Seiten konzise mit Inhalt zu füllen und sind diese für die Handlung alle unerlässlich? Da sieht die Sache in meinen Augen schon wieder ganz anders aus.

Oftmals hängen die Erzählbögen nämlich ordentlich durch, lassen Dynamik und Esprit vermissen. Dies sorgte bei mir dann für jenes Durchhänger-Gefühl, das mich nach dem Start bis zur Mitte des Buches hin (immerhin über 300 Seiten) befiel. Wo will die Autorin hin und warum kommt sie damit nicht eher auf den Punkt? Diesem Gefühl meiner Lesefrustration hätte durch das stärkere Einwirken einer Lektorin oder eines Lektors sicherlich Abhilfe verschafft werden können.

So muss nicht jeder Verästelung des Familienstammbaums nachgegangen werden, um bestimmt Ansichten oder Ereignisse zu belegen. Ein Fokus auf wenige entscheidende Momente in den Generationengeschichten und Schlaglichter auf Momente, die für die Charakterprägung der Protagonisten entscheidend waren, dies wäre für mich die bessere erzählerischen Entscheidung gewesen. So ist doch vieles ausgewalzt oder manchmal auch überflüssig – um nicht von den so manches Mal störenden oder überflüssigen stilistischen Flachsen, die dieser Text besitzt.

Gerade aber zum Ende des Buchs hin rundet sich dann aber auch vieles, die erzählerischen Bögen hinter ihren erzählerischen Finten werden manifest. Gerade das Ende und der wirklich starke Abschluss versöhnen dann doch mit dem ziellosen (manchmal auch nur so erscheinenden) Mäandern im Mittelteil. Doch auf diesem Weg bis hin zum Erkenntnisgewinn riskiert es C. E. Morgan mit ihren erzählerischen Kapriolen und Ausschweifungen, so manche Leser’in zu verlieren. Das ist schade, denn wie bei jedem guten Pferderennen ist doch der Zieleinlauf das Spannende und Entscheidende.

So braucht es aber jede Menge Puste und Geduld, um mit C. E. Morgan den Sport der Könige zu betreiben und mit ihr auf die Strecke zu gehen. Doch es lohnt sich!

Henry trat vom Zaun zurück und begriff plötzlich: Wenn man alle Rennbahnen auf der Welt schloss , jedes Zaumzeug weghängte und jedes Koppeltor aufstieß, würden Pferde immer noch in der offenen Prärie hintereinander herjagen. Es war unausweichlich, unbezweifelbar, denn ihr Wettstreit war angeboren. Neben dem natürlichen Ehrgeiz von Tieren waren die größten Träume der Menschen nichts als plumpe Machenschaften.

Morgan, C. E.: Der Sport der Könige, S. 904

George Pelecanos – Das dunkle Herz der Stadt

Das Verhalten des Hardboiled Detective entspricht einem an Kraft und Härte orientierten Männlichkeitsideal. Er ist üblicherweise Kettenraucher und schätzt hochprozentige Getränke. Sein Verhältnis zum anderen Geschlecht ist komplex oder ambivalent. Er ist an Frauenbekanntschaften und sexuellen Abenteuern interessiert, zeigt jedoch meist eine frauenfeindliche Einstellung. Soweit es die klassischen gebrochenen Romanfiguren der 1930er bis 1950er Jahre betrifft, ist in jüngster Zeit zu diesen archetypischen Charaktereigenschaften allerdings ein differenzierteres Bild gezeichnet worden.

Wikipedia zum Thema Hardboiled Detective

Diese Definition des klassischen Hardboiled-Detektivs könnte man wie eine Blaupause über George Pelecanos‚ Roman Das dunkle Herz der Stadt (Deutsch von Karen Witthuhn) legen. Denn sein Krimi ist (wieder einmal) eine Hommage ans Hardboiled-Genre und an Washington.

Dort ist seine Erzählung angesiedelt, in deren Mittelpunkt der Gelegenheitsdetektiv und Barkeeper Nick Stefanos steht. Dieser ist nach Betriebsende selbst der beste Kunde seiner Bar. Mit einem schweren Alkohlproblem ausgestattet schlägt er sich durch sein Leben und kippt Bier auf Bier, Shot auf Shot.

Auch an jenem Abend, mit dem der Roman beginnt, ist dies der Fall.  Nach einer ausgiebigen Zechtour will er eigentlich nur ausruhen und sucht deshalb das abgelegene Ufer des Anacostia Rivers auf, der durch Washington fließt. Dort ist er Ohrenzeuge, wie ein junger Mann von zwei Tätern erschossen wird.

Die Polizei sieht keinen Grund für ausgedehnte Ermittlungen, für sie ist der Fall klar. Da der Erschossene Schwarzer war, ist das Motiv für den Mord im Bandenmilieu zu suchen. Doch an diese einfache Erklärung mag Stefanos nicht glauben und beginnt selbst zu ermitteln.

Hardboiled Washington

Dies ist die erzählerische Grundidee hinter Das dunkle Herz der Stadt. Es ist ein ganz solider Hardboiled-Krimi geworden, der alle Konventionen des Genres berücksichtigt. So wird aus der Ich-Perspektive geschildert, wie sich Stefanos durch die Spelunken der Stadt säuft, seine Polizeikontakte akquiriert und ein bisschen ermittelt. Natürlich darf auch die obligatorische Ballerei nicht fehlen – wäre ja schade drum. Hardboiled ist eben Hardboiled.

Aus persönlicher Sicht gab es nur ein Manko  – ich wurde mit der Figur des Nick Stefanos nicht warm. Seine dauernde Trinkerei und sein Weltbild stießen mich ab. Denn was bei einem guten Hardboiled-Krimi cool und draufgängerisch wirkt, las sich im vorliegenden Falle eher armselig.

Besonders das obligatorische Frauenbild, das sich durch Stefanos ermittelt, stieß mir sauer auf. Natürlich ist eine gewisse Misogynie meist Teil des klassischen Hardboiled- aber muss das heute immer noch so perpetuiert werden? Das Glück wird hier mit einem Frauenhintern verglichen, den man natürlich ergreifen muss. Handlungsentscheidend ist keine einzige Frau, sie sind alle nur Sidekicks oder stehen etwas unmotiviert in der Handlung herum (dass Stefanos seine Freundin dann auch konsequenzerweise betrügt muss hier nicht genauer ausgeführt werden).

#Metoo mag zwar einiges an Aufmerksamkeit generiert haben – bis zu Nick Stefanos sind die Erkenntnisse aber noch nicht durchgedrungen. Sein Frauenbild ist stark in den 50er verhaftet und las sich für mich wirklich altbacken und anstrengend. Dies verleidete mir den ganzen Krimi, der ansonsten eine schöne Hommage an den klassischen Hardboiled geworden wäre.

Wo ist Margaret Stokowski, wenn man sie mal braucht?

So ist George Pelecanos Das dunkle Herz der Stadt ein Krimi mit Helden, dem man gerne vor seinem nächsten Einsatz ein Abendessen mit Margaret Stokowski oder Sophie Passmann wünschen würde. Auf dass sie ihm da ein bisschen was erklären und zurechtrücken. Wenn Stefanos Weltbild dann ein bisschen moderner geworden ist, könnte ich mir eine neue Chance für ihn vorstellen. Aber auch erst dann.

Etwas merkwürdig ist auch die Veröffentlichungspolitik des Ars-Vivendi-Verlags. So ist Das dunkle Herz der Stadt (bzw. im Original deutlich treffender Down By the River Where the Dead Men Go) der Abschluss der Nick-Stefanos-Trilogie. Ursprünglich erschien der erste Band 1992, der zweite folgte 1993. Zwei Jahre später kam es dann zum Abschluss. Über die Gründe, warum man nun 23 Jahre später etwas zusammenhangslos nur Band 3 publiziert, anstatt die Trilogie chronologisch zu veröffentlichen, kann nur spekuliert werden (Rechte? Qualität?). So oder so – ein Roman, dem man sein Alter in puncto Weltsicht durchaus anmerkt. Zu hoffen ist, dass der bald erscheinende Roman Prisoners da etwas mehr auf der Höhe der Zeit ist!

Thomas Mullen – Darktown

Von den schwierigen Anfängen der ersten schwarzen Polizisten in Atlanta in den 40er Jahren erzählt Thomas Mullen in Darktown (Übersetzung von Berni Mayer). Diese wollen ein Mord aufklären und sehen sich mit ubiquitärem Rassismus und Ausgrenzung konfrontiert.

Dabei war der Dienstbeginn der acht Männer in den Straßen Atlantas noch von so viel Aufmerksamkeit und Hoffnung begleitet worden. Auf Druck von Politik und schwarzer Bevölkerung hin wurden nämlich Freiwillige ausgewählt, um die bisher strikt weiße Polizei unterstützen sollten.

Doch die Befugnisse und Einsatzgebiete der acht Männer waren enorm beschnitten. Diese durften lediglich im als Darktown bezeichneten Stadtviertel, in dem die schwarze Bevölkerung wohnte, Streife gehen. So etwas wie ein Einsatzfahrzeug besaßen sie nicht, die Druckkosten für ihre Visitenkarten mussten sie aus eigener Tasche begleichen und Verhaftungen durchführen durften sie gleich zweimal nicht. Stattdessen mussten sie nach der Verhaftung oder der Feststellung einer Straftat zunächst einmal ihre weißen Kollegen rufen, die ihre Kollegen aus Darktown gängelten und schikanierten, wo es nur ging.

Angesichts dieser Widrigkeiten und Hindernisse brauchte es schon besondere Widerstandsfähigkeit der acht Männer, die sich zwischen weißer und schwarzer Bevölkerung aufrieben. Thomas Mullens Roman konzentriert sich auf einen der acht, der in den Mittelpunkt des Buches gerückt wird: sein Name ist Lucius Boggs, Sohn eines einflussreichen Predigers und mit einem hartnäckigem Gerechtigkeitssinn gesegnet. Dieser versieht mit seinem Partner Smith den Patrouillendienst in den Straßen von Darktown.

Auf Streife in Darktown

Schon auf den ersten Seiten stoßen die beiden auf einen Betrunkenen, der mit seinem Fahrstil die öffentliche Sicherheit gefährdet. Auf dem Beifahrersitz ein verängstigtes farbiges Mädchen. Doch eine Verhaftung des Betrunkenen scheitert, da sich die herbeigerufenen „richtigen“ Polizisten weigern, eine Verkehrskontrolle durchzuführen und den Betrunkenen weiterfahren lassen. So sieht Polizeiarbeit 1948 in Atlanta aus.

Als die schwarzen Polizisten später die Leiche jenes Mädchens vom Beifahrersitz des Betrunkenen finden, beginnt Boggs, Ermittlungen anzustellen, obwohl ihm das natürlich strengstens untersagt ist. Doch seine Ohnmacht bei der Verkehrskontrolle in jener Nacht lässt ihn nicht ruhen. Die Scharte soll ausgewetzt werden – der jungen Frau soll Gerechtigkeit widerfahren.

Rassismus allenorten

Unterstützung erhält er dabei von ungewöhnlicher Seite. Die zweite Hauptfigur, die zum Kontrapunkt Boggs wird, ist der weiße Ermittler Denny „Rake“ Rakestraw. Dieser entfremdet sich zusehends von seinem rassistischen Polizeipartner Dunlow und mischt ebenfalls in den Ermittlungen Boggs mit. So gehen beide Stück für Stück ihren Spuren nach. Und das praktisch gegen den Willen des gesamten Polizeiapparats.

Über diese Ermittlungen und die Spurensuche der Männer schafft es Mullen gut, die damaligen Umstände zu skizzieren. Der omnipräsente Rassismus, egal ob bei Zivilbevölkerung oder im Polizeiapparat, wird von Mullen gut eingefangen. Die Ausgrenzung der schwarzen Gemeinde und die teilweise Unterwanderung der Polizei durch den Ku-Klux-Klan – Darktown gelingt es, die Zustände nachvollziehbar zu vermitteln.

In diesen Schilderungen der historischen Gegebenheiten ist der Roman wirklich stark. Der Kriminalfall hingegen fällt im Vergleich zu den historischen Begebenheiten stark ab. Er ist konventionell gestaltet und erinnert in seiner Schema-Haftigkeit an durchschnittliche TV-Krimis, allen voran den Tatort. Das Auffinden der Leiche, die Befragung der Verdächtigen, die falschen Fährten, die Stellung des Täters zur rechten Zeit – das ist alles etwas erwartbar und für meine Begriffe altbacken und abgenutzt.

Leichte Abstriche in puncto Stil

Leichte Defizite weist der Roman auch auf stilistischer Ebene auf.

Chandler und Hammett. Brillante Leute. Sie schreiben über Detektive und Polizisten, vielleicht findest du da ein Stück Wahrheit. Ihre Helden sind gute Männer, die erkennen, dass ihr Umfeld viel finsterer ist, als ihnen bewusst war. Große Verschwörungen kündigen sich an. Aber dann schau ich dich an, Officer Lucius, und kann mir keinen finstereren Ort für dich vorstellen. Du bist nicht der Schnüffler, der zu seinem Schrecken feststellt, dass seine Welt korrupt ist, denn das weißt du längst. Das Böse schlägt einem hier förmlich ins Gesicht, es gibt kein Geheimnis dabei. Es sonnt sich vor unseren Augen und fällt über dich her, sobald du dich ihm näherst.“

Mullen, Thomas: Darktown, 285

Hier sieht man schön Stärken und Schwächen von Mullens Roman: Die unverstellten Referenzen an die Paten des Romans, Dashiell Hammett und Raymond Chandler (deren Hardboiled-Welt der Roman ganz gut paraphrasiert) und die Übertragung auf die Lebenserfahrung in Darktown (mit der Doppelspiegelung von Noir-Roman und Noir-Welt) geht einher mit stilistischer Ungelenkheit. Die Metaphernüberfrachtung hier fällt wirklich auf. Das Böse, das einem ins Gesicht schlägt, das sich sonnt und dann auch noch über einen herfällt – drei Metaphern, nicht wirklich kohärent, innerhalb von zwei Sätzen. Manchmal wäre hier weniger dann doch wieder mehr.

Langsam stand er auf. Er war immer noch gefesselt, wollte sie aber nicht um einen Gefallen bitten. Jesus, tat sein Finger weh.

Mullen, Thomas: Darktown, S. 347

Zwar mag hier der Einwurf Jesus im englischen Original ganz passend sein, im Deutschen ist es dann doch eher ungeläufig. Man hätte erwägen können, ob ein „Herr im Himmel“ oder „Herrgott“ nicht hier im Deutschen treffender gewesen wäre. Aber solche stilistischen Holprigkeiten seien angesichts der geringen Menge, mit der sie sich gegen den gesamten Textkorpus ausnehmen, gerne verziehen.

Es sind keine großen gravierenden Mängel, die ich hier feststelle, aber für kleiner Abzüge in der B-Note des Romans sorgen sie dann doch.

Große Fußstapfen

Natürlich steht Darktown auch in einer Reihe mit Genrevorbildern, deren Vergleich sich das Buch stellen muss. Allen voran kommt mir der mit Sidney Portier verfilmte Roman In der Hitze der Nacht von John Ball in den Sinn, der einst ebenfalls bei Dumont in der (leider schon lange eingestellten) Reihe der Dumonts Kriminalbibliothek erschien. Dieser Roman verhandelt den Rassismus innerhalb der Südstaaten auf der Folie eines Krimis meisterhaft. Jene Qualität von Balls Buch erreicht das Buch in meinen Augen nicht.

Auch nuanciertere Auseinandersetzungen mit Rassismus, wie sie etwa zuletzt Leonard Pitts jr. in Grant Park gelungen ist, schafft Mullen nicht in einer ähnlichen Qualität. Dafür ist das Buch etwas zu konventionell gestaltet und hätte ein wenig mehr an Zwischentönen bedurft.

Die größte Stärke des Buchs ist die Darstellung der damaligen Umstände und der gesellschaftlichen Situation. Diese Informationen fließen unangestrengt nebenbei in die Handlung ein und machen so dann aus einem durchschnittlichen Krimi einen besonderer historischen Roman. Nicht das beste Buch, das dieses Jahr zum Thema Rassismus in der amerikanischen Gesellschaft erschienen ist. Aber ein eindringliches und sehr gut recherchiertes Buch, was auch Mullens Dankesworte im Appendix des Buchs zeigen.

Eine weitere Besprechung des Buches ist bei FAZ online erschienen. Die Rezension findet sich hier. Zudem hat sich auch Iris vom Schurkenblog des Buchs angenommen. Zu welchem Urteil sie kommt, das verrät ihr Beitrag.