Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Einmal um die ganze Welt – oder fast. Maggie Shipstead begibt sich in ihrem neuen Roman Kreiseziehen auf die Spuren einer Weltumfliegerin, die beim Versuch, einmal die gesamte Weltkugel zu umkreisen, im Jahr 1950 verschwand. Jahrzehnte später werden die Pläne zur Verfilmung des Lebens der Pilotin konkreter – und zum Rettungsanker für einen strauchelnden Hollywoodstar.


Es ist ein monumentales Werk, das Maggie Shipstead mit Kreiseziehen (oder Great Circle, wie das Buch etwas eleganter im Original heißt) vorlegt. Beschränkte sie sich in ihren beiden zuvor erschienen Romane Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit und Dich tanzen sehen auf Plots, die unter 450 Seiten blieben, so knackt sie diesmal diese Marke deutlich. Sage und schreibe über 860 Seiten umfasst der von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz ins Deutsche übertragene Roman, der durch seine Soghaftigkeit und das Erzähltalent Shipsteads besticht.

Der Wunsch zu fliegen

Inhaltlich dreht sich in Kreiseziehen (fast) alles um Marian Graves, die schon seit Kindesbeinen an der Wunsch zu Fliegen umtreibt. Zusammen mit ihrem Bruder Jamie wächst sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Schiffsunglück bei ihrem Onkel auf, der in der Nähe von Missoula in Montana lebt.

MAggie Shipstead - Kreiseziehen (Cover)

Just an dem Tag, an dem Charles Lindbergh im Mai 1927 zum ersten Mal nonstop den Atlantik von New York in Richtung Paris überquert, macht Marian die Bekanntschaft mit den Brayfogles, einem schillernden Kunstfliegerpaar. Diese Begegnung lässt die schon seit jeher in Marian schlummernde Flugbegeisterung vollends ausbrechen. Um sich Flugstunden zu verdienen, steigt Marian ins Schmugglergeschäft ein und liefert während der Hochphase der Prohibition als Minderjährige Schwarzgebrannten im ganzen Hinterland von Montana aus, stets unbeirrbar mit dem Ziel einer Fliegerkarriere vor Augen.

Dabei macht sie auch die Bekanntschaft mit Barclay MacQueen, dem mächtigsten Prohibitionsgangster von ganz Montana. Für diesen bringt sie zunächst noch Alkohol per Flugzeug über die Grenze, ehe sie zu seiner Geliebten und später sogar zu seiner Ehefrau wird. Ihr Bruder Jamie hingegen strebt eine Karriere als Maler an, was er in Seattle umzusetzen versucht. Dabei macht er die Bekanntschaft einer jungen Dame aus gutem Hause, in die er sich unsterblich verliebt und die ihn nie wieder richtig loslassen wird.

Ein Hollywoodstar auf Spuren von Marian Graves

Verbunden wird diese Geschichte von Maggie Shipstead mit der Erzählung aus Sicht des Hollywoodstars Hadley Baxter, die aktuell in Ungnade gefallen ist, hat sie doch eine vom Boulevard genussvoll ausgeschlachtete Affäre, die so gar nicht mit dem von ihr verkörperten Star der Archangel-Franchise zusammenpassen will. Um sich zu rehabilitieren und weg vom Image des Kinderstars zu kommen, übernimmt sie in einem Filmprojekt die Rolle der Marian Graves, deren Schicksal sich in dem von Hadley spiegelt.

Denn während die flugverrückte Marian Graves beim Versuch einer Erdumrundung per Flugzeug in der Anatarktis verscholl und nur ein Tagebuch zurückließ, so sind auch Hadleys Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Stück für Stück erfährt man mehr vom unglaublichen Leben von Marian, während sich Hadley immer tiefer in das Leben der Fliegerin einarbeitet, um ihr bei ihrer Verkörperung nahezukommen.

Ein großartig unterhaltsamer Roman

Dabei gelingt Maggie Shiptstead mit Kreiseziehen einer der unterhaltsamsten Roman, die ich in letzter Zeit lesen durfte. Immer mal wieder mit leicht experimentellen Erzählansätzen arbeitenden, mit Raffungen, Sprüngen zwischen Marian, ihrem Bruder Jamie und Hadley in der Jetztzeit schafft sie ein mitreißendes, abwechslungsreiches, höchst farbiges und unterhaltsames Buch, das ich schon jetzt als heißen Kandidaten für die anstehende Geschenkesaison zu Weihnachten handle.

Kreiseziehen ist voller exotischer Schauplätze, die von Neuseeland bis in die Antarktis reichen. Komponiert ist das Ganze als großer Kreis, der sich nicht nur im (sehr spät im Buch stattfindenden) Erdumrundungsvorhaben erschöpft, sondern auch in der Konstruktion der Rahmenhandlung und den immer wieder auftauchenden Volten des Schicksals eingewebt ist. Immer wieder ergeben sich Bezüge zwischen den Figuren und ergeben schlussendlich ein – pardon – rundes Bild.

Maggie Shipstead vermag es, von der Magie des Fliegens ebenso eindringlich zu erzählen, wie von den existenziellen Entbehrungen in der Antarktis, dem Untergang des Schiffs Josephina Eterna oder dem Tagewerk der weiblichen Pilotinnen im Zweiten Weltkrieg. Sie kombiniert das Erzählen vom Set eines Filmdrehs mit der Zeit der Prohibition und den Nöten einer höchst unglücklichen Ehe, ohne dass man das Gefühl hat, dass ihr literarischer Kreis große Unwuchten hätte.

Die Bandbreite der Emotionen, Erlebnisse und Affekte ist in Kreiseziehen so unwahrscheinlich breit, dass es einem Wunder gleicht, dass Maggie Shipstead diese motivische Fülle gebändigt bekommt und darüber hinaus plausibel zu vermitteln weiß. Dabei kommt es zu keinem Zeitpunkt der 860 Seiten zu einem literarischen Strömungsabriss, vielmehr generiert die Autorin immer wieder Aufwind und weiß von ihren drei Hauptfiguren zu erzählen.

Diese große Unterhaltsamkeit und das stete Vorantreiben des Plots gleichen für mich auch den Punkt aus, den ich vielleicht als den schwächsten Punkt des Buchs identifiziert hätte, nämlich das ungleich verteilte Erzählgewicht in diesem Buch. Denn nicht nur in Sachen Screentime ist Hadley die Hauptfigur, die in Kreiseziehen das Nachsehen hat. Aber auch dieses potentielle Manko gleich Maggie Shipstead geschickt aus, indem sie sich in den erzählerischen Schlaglichtern aus der Gegenwart auf weniger, aber dafür aussagekräftige Momente fokussiert, die wieder eine Engführung mit dem Schicksal der ebenso unabhängigen und manchmal um Orientierung kämpfenden Marian erlauben.

Fazit

Kreiseziehen von Maggie Shipstead bringt alles mit, was einen grandiosen Unterhaltungsroman ausmacht: Makelloses Erzählhandwerk, ein überbordende Plot mit Ambition, ein Porträt zweier ganz unterschiedlicher und doch ähnlicher Frauen – und zu keiner Minute Langeweile. Auch wenn ihr Buch mit Überlänge ausgestattet sein mag, so lohnt sich das Durchhalten doch auf alle Fälle. Und speziell in der kommenden Winterzeit hat man doch mehr Zeit zum Lesen, was dieses Buch in meinen Augen zum unbedingten Geschenktipp macht.

Besprochen hat das Buch auch Constanze Matthes auf ihrem Blog Zeichen & Zeiten. Hier gehts zu ihrer Besprechung.


  • Maggie Shipstead – Kreiseziehen
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz
  • ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)
  • 861 Seiten. Preis: 28,00 €
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Frank Martinus Arion – Doppeltes Spiel

Nennen Sie einen Roman, der auf den Antillen spielt. Eine echte Herausforderung, auf die ich vor der Lektüre von Frank Martinus Arions Roman Doppeltes Spiel keine Antwort gehabt hätte. Aber da gibt es ja die Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg, die in Zusammenarbeit mit der LitProm uns westlich orientierten Leser*innen die reichhaltige Literatur des Globalen Südens näherbringen möchte.

Und so gibt es nun mit Doppeltes Spiel Literatur von der Antilleninsel Curaçao zu entdecken, die hier in einer Neuübersetzung von Lisa Mensing vorliegt. Schade nur, dass sich das Buch bei allen guten Absichten und der verheißungsvollen Plotidee für mich als Flop herausgestellt hat.


Vier Männer treffen sich unter dem Schatten eines Tamarindenbaums zum Dominospiel. Das auf der ganzen Insel heißgeliebte Spiel dient den vier Männern zum Zeitvertreib und ist das, was man gemeinhin mit der Phrase „Mehr als ein Spiel“ umreißt. Alle vier Männer sind reichlich unterschiedlichen, stammen aus verschiedenen Schichten und Milieus.

Da ist der Taxifahrer Bubu Fiel, bei dessen Haus der Tamarindenbaum steht, unter dem die Männer zusammenkommen. Da ist Chamon Nicolas, der von der benachbarten Antilleninsel Saba nach Curaçao gekommen ist, um dort Arbeit zu finden. Manchi Sanantonio verfügt als Gerichtsschreiber über ein stattliches Eigenheim, das sein ganzer Stolz ist. Und Janchi Pau ist ein klassischer Taugenichts, der nach dem Tod seiner Mutter in einem Rohbau haust, dessen Fertigstellung irgendwann aus seinem Blick geraten ist.

Diese vier Männer verbindet die Leidenschaft zum sonntäglichen Dominospiel – und noch etwas, nämlich ihre Frauen, die auf pikante Art und Weise mit den vier Männern verbandelt sind. Solema, die Frau des Gerichtsschreibers Manchi Sanantonio, pflegt eine Affäre mit Janchi Pau. Manchi weiß zwar um die Promiskuität seiner Frau und lässt sie das regelmäßig durch demütigende Rituale spüren. Von der Affäre seines Dominopartners mit seiner eigenen Gattin ahnt er jedoch nichts. Ebenso wie Bubu Fiel, dessen Frau Nora sich regelmäßig prostituiert, um das von Fiel versoffene Geld für die eigenen Kinder wieder hereinzubekommen. Sie betrügt ihren Mann mit Chamon Nicolas, der wiederum ebenfalls versucht, die Affäre vor seinem Dominopartner geheim zu halten.

Ein Dominospiel auf Leben und Tod

Diese sechs pikant miteinander verbandelten Figuren treffen im Zuge des Dominospiels aufeinander, das sich zu einer echten Partie auf Leben und Tod entwickelt, die schlussendlich ganz Curaçao elektrisiert und in dem verschiedene Temperamente und Ansichten auf dem Spielbrett und vor allem daneben verhandelt werden.

Frank Martinus Arion - Doppeltes Spiel (Cover)

So hätte Doppeltes Spiel werden können (was ich mir von der Beschreibung des Plots auch tatsächlich erhoffte). Stattdessen habe ich ein Buch bekommen, das mich wechselweise gelangweilt, befremdet, dann wieder überrascht aber in seiner Gesamtheit nicht wirklich überzeugt hat.

Dabei ist die Erzählanordnung des Romans ja wirklich spannend. Vier Männer, zwei Frauen, alle sechs People of Color und miteinander in Beziehung stehend. Der Handlungsrahmen eines einzigen Tages, der mit dem Kapitel Der Morgen und der Vormittag beginnt, sich dann im umfangreichsten Teil der Beschreibung des Dominomatchs am Nachmittag und der Dämmerung fortsetzt und dann in der Dämmerung und in dem Nachspiel dann eine letzte Schlussvolte bereithält. So bleibt die Einheit von Zeit und Ort gewahrt, alle Figuren stehen für unterschiedliche Teile der curaçaonischen Gesellschaft, für unterschiedliche Ideen, Temperamente und Wünsche, wie es mit ihnen und ihrem Land weitergehen soll.

Ein Roman in der Sprache der Kolonisatoren

Und auch die Geschichte hinter dem Roman und seinem Schöpfer Frank Martinus Arion ist ja durchaus interessant. So schrieb der 1936 auf Curaçao geborene Schriftsteller den Roman auf Niederländisch, der Sprache der Kolonisatoren, die die Antillen seit der Zeit der Niederländischen Westindien-Kompanie als Überseegebiet für sich reklamierten (ein Status, aus dem Curaçao erst im Jahr 2005 als autonomes Land innerhalb des niederländischen Königreichs entbunden wurde).

Arion ging 1955 für ein Studium in die Niederlande, wo er in Leiden studierte. Doch trotz seines Wegzugs aus seiner Heimat blieb Curaçao stets seine eigentliche Heimat, wie die Übersetzerin Lisa Mensing in ihrem Nachwort erklärt. So verfasste er die Kurzgeschichte Das Dominospiel bei Bubu Fiel, das nach Umarbeitungen und einer Aufwertung der Frauenfiguren dann 1973 als Roman in den Niederlanden erschien und der erste Roman eines schwarzen Autors aus Curaçao war, bei dem nur People of Color eine Rolle spielen.

Dabei blieb der 2015 verstorbene Arion stets ein Sprachwanderer, der in Doppeltes Spiel mit dem Niederländischen und den einheimischen Sprachen spielt, was die Übersetzung zu einer Herausforderung werden ließ.

Wenig überzeugend bis ärgerlich

All das ist wirklich spannend und lässt die Entscheidung für eine Veröffentlichung und Neuübersetzung des Werks folgerichtig erscheinen. Aber leider ist der Roman von Frank Martinus Arion für mich wirklich literarisch wenig befriedigend und hat mich mit seinem Inhalt alles andere als überzeugt. Das hat mehrere Gründe.

So hatte ich mich nach der Beschreibung des Romans auf einen packenden Roman gefreut, der sein Raum- und Zeitminimum für eine spannende Studie Curaçaos und der Gesellschaft zu nutzen weiß. Dass der Roman schon fast fünfzig Jahre alt ist und damit zu einer Zeit spielt, als Richard Nixon noch US-Präsident war – geschenkt. Könnte der Roman doch auch über seinen Zeitrahmen hinausweisende Bezüge von Kolonialismuskritik und Beobachtung der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf Curaçao herausarbeiten, die das Buch auch heute noch lesenswert machen. Tja, könnte.

Stattdessen dominiert eine äußerst umständliche Exposition der Handlungsfiguren, bei der über hundert Seiten vergehen, bis es dann wirklich zum entscheidenden Dominomatch kommt. Immer wieder werden verheißungsvolle Ansätze der gesellschaftlichen Innensicht von zähen Schilderungen des Dominomatches unterbrochen, wird jedes Anlegen eines Steins lang und breit kommentiert, statt die Handlung voranzutreiben.

Befremdliches Geschlechterbild

Beständig gibt es solche sich ziehenden Schilderungen und Debatten, etwa wenn die vier Männer ausführlichst (und mit verwinkelten Anspielungsebenen) diskutieren, wie mit dem Fall eines fiktiven Richters umzugehen ist, der seine Frau in flagranti mit einem anderen Mann ertappt hat. Bei diesem Richter handelt es sich wiederum einfach nur um das verklausulierte Alter Ego von Manchi und dessen Frau Solema, der seine Freunde in diese Debatte lockt.

Dererlei Passagen hemmen den Lesefluss ungemein – und noch deutlich negativer in meinen Augen – zeigen ein heutzutage doch reichlich befremdliches Geschlechter- und Rollenbild. Die Frauen prostituieren sich häufig, betrügen ihre Männer. Diese wiederum suchen Prostituierte auf oder fahren wie im Falle von Bubu Fiel häufig Ausländer in die Bordelle, wo er in jenen Etablissements auch selbst ein guter Kunde ist. Und wenn speziell ein weiblicher Fahrgast einmal nicht zahlen kann, dann tauscht Bubu Sex gegen Fahrkosten.

Derb, oftmals auch sehr vulgär sind die Äußerungen die sich gerade vor dem Hintergrund unserer Gegenwart sehr vorgestrig und sexistisch bis misogyn lesen, etwa wenn die vier Männer darüber fachsimpeln, ob das Antanzen und Anfassen fremder Frauen legitim ist oder mit ihren letzten sexuellen Abenteuer und Eskapaden prahlen.

Dass die Frauen die eigentlichen Heldinnen dieser Geschichte sind, wie es der Klappentext des Buchs verkündet, auch das hat sich mir nicht wirklich erschlossen. Natürlich bieten die Frauen ihren Männern Paroli, betrügen sie und sind im Auftreiben von ausstehenden Geldern erfindungsreich. Aber reicht das, um aus Frauen Heldinnen zu machen?

Zumindest in Sachen Sympathie sind auch sie nicht weiter vorne bei mir. Ich konnte weder auf der männlichen noch auf der weiblichen Seite dieses Doppelten Spiels Held*innen ausmachen. Da helfen auch alle Analogien zwischen den Dominosteinen und den Charakteren mit ihren zwei Gesichtern nicht. Selbst das blutige Finale des Buchs kann da den antiquierten Gesamteindruck meiner Lektüre nicht wirklich retten.

Fazit

So bleibt von Doppeltes Spiel bei mir der Eindruck von einer hochspannenden Theorie rund um das Buch und den Autoren Frank Martinus Arion, dass ein Erscheinen in der Reihe Weltempfänger plausibel erscheinen lässt. Liest man das Buch selbst, erschließt sich die Entscheidung für die Übersetzung genau jenes Titels aus der literarischen Welt des Globalen Südens für mich allerdings nicht wirklich, hat man es doch mit einem recht überkommenen und in vielen Punkten heutzutage fragwürdigen Buch zu tun. So toll die Reihe Weltempfänger sonst auch ist – hier hätte man in meinen Augen durchaus ein aktuellere und auch relevantere – gerne auch weibliche – Stimme aus der literarischen Welt der Karibik finden können.

Wollte man zeigen, wie Sexismus in den niederländischen Seegebieten in weiten Teilen der Bevölkerung gängig war und welches Geschlechterbild dort dominiert(e), dann ist die Wahl von Doppeltes Spiel eine vortreffliche. Auch demonstriert das Buch vorzüglich, wie sich unsere Gesellschaft in Sachen Machtmissbrauch, #metoo und überkommener Rollenbilder sensibilisiert und weiterentwickelt hat, in diesem Sinne ist liefert Frank Martinus Arions Buch viel Anschauungsmaterial.

Für mich war die Lektüre von Doppeltes Spiel allerdings kein Genuss, vielmehr hat mich die Welt, die ich hier vorgefunden habe, in weiten Teilen befremdet. Auch das starke Finale konnte mich mit den Längen und überkommenen Geschlechterbildern leider nicht überzeugen, und so brauchte es viel Selbstdisziplin für die ganze Lektüre, für die ich leider keine gesteigerte Empfehlung aussprechen kann.

Ganz anders sieht das meine Büchergilde-Botschafterkollegin Kathrin alias la_chienne, die Doppeltes Spiel auf ihrem Instagram-Kanal sehr preist. Ihre Kritik findet sich unter folgendem Link:


  • Frank Martinus Arion – Doppeltes Spiel
  • Aus dem Niederländischen von Lisa Mensing
  • Büchergilde Gutenberg, Reihe Weltempfänger
  • 400 Seiten. Preis: 24,00 €

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Buchtipps für Weihnachten 2022

Nur noch ein Monat, dann steht Weihnachten wieder einmal völlig überraschend vor der Tür. Deshalb erlaube ich es mir heute, in drei verschiedenen Kategorien als Geschenkanregungen Buchtipps zu geben, mit denen man sicher nichts falsch macht. Es handelt sich bei den ausgesuchten Titeln um aktuelle Neuerscheinungen, die man im gut sortierten Buchhandel finden sollte (oder zumindest bestellen und dann am nächsten Tag dann abholen kann).

Vor allem angesichts eventueller Engpässe im stationären Buchhandel empfiehlt es sich ja aktuell eh, ein wenig früher mit den Bestellungen dran zu sein. Das macht es den Buchhändler*innen im Weihnachtsstress ein bisschen einfacher – und zudem kann man sich dann selbst beruhigen, dass man einen Teil der Geschenke schon besorgt hat. Anderweitigen Stress an Weihnachten gibt es ja schon genug.

Deshalb hier nun meine diesjährigen Empfehlungen, sortiert nach den Kategorien Sachbuch, Belletristik und Kinder- und Jugendbuch. Viel Vergnügen und gute Inspiration!

Sachbuch

Andrea Wulf – Fabelhafte Rebellen

Ihre Biografie über Alexander von Humboldt zählt zum Besten, das ich im Genre der historischen Biografie in letzter Zeit gelesen habe. Nun nimmt sich Andrea Wulf in ihrem neuen Buch Zeit der frühen Romantiker*innen und deren Wirkungsschwerpunkt Jena vor und erzählt, wie sich in jener Stadt die Geistesgrößen Fichte, Schelling und Co. trafen – und sich gegenseitig beeinflussten. Eine hervorragende Zeitreise, unterhaltsam und lehrreich – und dabei auch erstaunlich aktuell.

Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. 525 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-570-10935-1 (C. Bertelsmann)

Patrick Radden Keefe – Imperium der Schmerzen

Die Opioidkrise der USA, das ist etwas, das man hierzulande nicht wirklich auf dem Schirm hat, außer vielleicht wenn ein Roman mal davon erzählt. Aber dass flächendeckend große Mengen Amerikaner*innen bis in die Mittelschicht hinein schmerzmittelabhängig sind und dadurch durchs soziale Raster gefallen sind, das macht die packend erzählte Geschichte von Patrick Radden Keefe klar. Darin erzählt er, wie die Pharma-Dynastie der Familie Sackler diese Krise verursacht und ausgeschlachtet hat – spannend wie ein Krimi und dabei (leider) sehr faktenbasiert.

Übersetzung aus dem Englischen von Benjamin Dittmann-Bieber, Gregor Runge und Kattrin Stier. 639 Seiten. 36,00 €. ISBN 978-3-446-27392-4 (hanser blau)

Volker Ullrich – Deutschland 1923

Dass der deutsche Buchmarkt nicht allzu originell ist, das fällt aktuell besonders deutlich ins Auge. Was einmal gut lief, das wird munter kopiert und fortgeführt. Bestes Beispiel ist zur Zeit der von Florian Illies angestoßene Trend zum anekdotischen Jahrbuch. Mindestens fünf Bücher über das Jahr 1923 erschienen diesen Herbst in verschiedenen Verlagen in ganz unterschiedlicher Qualität. Für sich steht darunter das Buch des Historikers Volker Ullrich, in dem er auf plaudrige Zeitkoloritschnipsel verzichtet und sich stattdessen dem Jahr in thematischen Schwerpunktsetzung näher, wobei er sachkundig von der Inflation, von der Tanzwut, dem Erstarken rechter Kräfte oder Kultur im Zeichen der Krise erzählt. Fundiert, genau und umfassend.

441 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-406-79103-1 (C. H. Beck)

Eberhard Seidel – Döner

Ein Buch über Döner, das man auch Veganerinnen und Vegetariern schenken kann? Unbedingt, denn Eberhard Seidels Buch ist weitaus mehr als eine Hymne an das Kultgericht. Er bietet darin eine Geschichte der (türkischen) Migration in Deutschland und erzählt von Aufstieg und Ausgrenzung, von Xenophobie, die sich vom Gammelfleischskandal bis hin zur NSU-Mordserie aka „Dönermorde“ immer wieder zeigte und zeigt und für türkische Mitbürger*innen zu oft auch Todesgefahr bedeutet. Ein Buch, das weit über die reine Kulinarik hinausblickt, und das es deshalb so empfehlenswert macht.

257 Seiten. 20,00 €. ISBN 978-3-7550-0004-4 (März-Verlag)

Irene Vallejo – Papyrus

Eine Geschichte der Schrift, des Buchs, der Kulturtechnik des Lesens, all das vereint Irene Vallejos Sachbuch Papyrus, das mitreißend von der Kraft des gedruckten und geschriebenen Worts zu erzählen vermag. Denn eines wird in Vallejos über 750 Seiten starken (aber niemals langweiligen) Buch auch klar – die Geschichte der Welt ist auch eine Geschichte der Bücher und umgekehrt.

Übersetzung aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. 752 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-257-07198-6 (Diogenes)

Belletristik

Prosaische Passionen

Männer schreiben Literatur, Frauen Unterhaltung. Deshalb braucht man sie auch nicht in den literarischen Kanon aufnehmen. Gegen diese jahrhundertealte und grotesk falsche Praxis setzt der von Sandra Kegel herausgegebene Sammelband ein wuchtiges Kontra. Denn der Band versammelt Shortstorys von vielfältigen weiblichen Erzählerinnen quer über den ganzen Erdball verteilt. Von großen Namen wie Colette oder Virginia Woolf bis hin zu echten Entdeckungen wie Chawa Schapira oder Out el-Kouloub oder Ding Ling. Erzählerinnen, denen in einer gerechteren Welt ein ebenbürtiger Platz im Kanon der Literatur gebührte.

928 Seiten. 40,00 €. ISBN 978-3-7175-2546-2 (Manesse)

Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Ein Schmöker im besten Sinne, der mitreißend vom Leben der Pilotin Marian Graves erzählt. Diese verschwand vor Jahrzehnten im ewigen Eis der Antarktis und nur ein Tagebuch blieb von ihr zurück. Nun soll der gefallene Hollywoodstar Hadley Baxter Marian Graves in einem Film verkörpern und taucht dafür ganz tief ein in das Leben der eigensinnigen Pilotin, das uns Maggie Shipstead als emotionalen, fesselnden und unheimlich suggestiven Bilderbogen präsentiert. Hier lohnt sich jede der über 800 Seiten fiktiver Lebensgeschichte, in der man wirklich versinken kann.

Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susa Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz. 861 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)

Lucy Fricke – Die Diplomatin

Taut das Leben einer Staatsdienerin im Auswärtigen Dienst für einen Roman? Unbedingt, wie Lucy Fricke in Die Diplomatin beweist. Ihr gelingt ein Buch auf Höhe der Zeit, das die Frage nach dem Nutzen von Demokratie und demokratischen Prozessen stellt und das mit der Erzählerin Fred eine wunderbar ambivalente und lebensnahe Heldin in den Mittelpunkt stellt. Hier finden Privates und Politik gelungen zusammen. Und außerdem schreibt Lucy Fricke mit die wohl trockensten und besten Dialoge, die man für Geld kaufen oder in Bibliothek leihen kann.

256 Seiten. 22,00 €. ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)

Amor Towles – Lincoln Highway

Ein Schmöker irgendwo zwischen Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt und den Romanen Mark Twains, das ist Lincoln Highway von Amor Towles. Jener legendäre Highway, die erste Schnellstraße von Ost nach West, wird bei Towles zur Richtschnur für ein Brüderpaar, die den Spuren ihrer Mutter folgen wollen. Doch die Reise entwickelt sich ganz anders als geplant – zum Glück, denn so lässt es sich wunderbar mit den jugendlichen Protagonisten mitfiebern und bangen. Großartige Unterhaltung mit dem Zeug zum modernen Americana-Klassiker.

Aus dem Englischen von Susanne Höbel. 576 Seiten. 26,00 €. ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)

Johanna Adorján – Ciao

Bei diesem Buch hat es im vergangenen Jahr nicht zu einer Rezension gereicht, was keinesfalls der Qualität von Johanna Adorjáns Prosa, sondern vielmehr meinen eigenen Zeitreserven geschuldet war. Umso schöner, dass sich das Buch jetzt als kostengünstiges Taschenbuch zum Verschenken anbietet. Denn Adorján erzählt darin augenzwinkernd von einem Großfeuilletonisten, der erkennen muss, dass seine besten Jahre schon hinter ihm liegen.

272 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-462-00399-4 (KiWi)

Kinderbuch

Oliver Jeffers, Sam Winston – Wo die Geschichten wohnen

Das, was Irene Vallejo für Erwachsene in Papyrus tut, das schaffen Oliver Jeffers und Sam Winston in ihrem fantasieanregenden und poetisch abstrakten Buch Wo die Geschichten wohnen für die kleineren Leserinnen und Leser. Sie zeigen, wie vielfältig die Welt der Literatur und der Bücher ist und wie wunderbar es sein kann, sich ganz in diese zu versenken. Ein großartiges Bilderbuch, in dem auch Erwachsene noch viel entdecken können.

44 Seiten. 14,90 €. ISBN 978-3-95854-092-7 (mixtvision)

Das Buch vom Dreck

Zugegeben, ein Buch vom Dreck, das klingt nicht nach dem angemessensten Buchgeschenk. Aber das ist es, vereint das Buch von Piotr Socha und Monika Utnik-Strugala doch witzige Grafiken und viel Informationen über Hygiene, Viren und wichtige Errungenschaften im Kampf (oder besser der Koexistenz) mit dem Dreck. Nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen viralen Ausnahmesituation eine großartige Kulturgeschichte der Hygiene für die ganze Familie

Übersetzt von Dorothea Traupe. 216 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-8369-6164-6 (Gerstenberg)

David Walliams – Gangsta-Oma

Gibt es etwas langweiligeres, als bei seiner Oma die Freitagabende zu verbringen, nur damit Mama und Papa tanzen gehen können? Ja, nämlich wenn sich herausstellt, dass die eigene Oma eine Juwelendiebin ist, mit der man den Tower of London ausrauben könnte. So abgedreht und so humorvoll wie der Brite David Walliams schreiben derzeit nicht viele Autor*innen. Umso schöner, dass Band 2 der Reihe dieser Tage ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist.

Aus dem Englischen von Salah Naoura. 272 Seiten. 11,00 €. ISBN 978-3-499-21795-1 (Rowohlt)

Nils Mohl – Henny & Ponger

Eine S-Bahnfahrt in Hamburg, zwei Jugendliche, die das gleiche Buch lesen und eine Notbremsung. So beginnt das Roadmovie Henny & Ponger, in dem Nils Mohl die ungewöhnliche Geschichte der beiden gleichnamigen Held*innen erzählt, in der man nie ganz genau weiß, woran man ist. Nur eines weiß man: das hat Drive, das zieht in die Geschichte und ist sprachlich so gut geschildert, dass man immer weiter möchte mit Henny und Ponger.

320 Seiten. 18,00 €. ISBN 978-3-95854-182-5 (mixtvision)

Kirsten Boie – Dunkelnacht

Nicht nur aus Gründen des Heimatbezugs sei auch dieses Buch von Kirsten Boie, für das sie den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis in diesem Herbst erhielt, nachdrücklich empfohlen. Denn in Dunkelnacht erzählt sie aus Sicht von Kindern von einem der grausamsten Endphaseverbrechen, nämlich der Penzberger Blutnacht. Eindringlich, erschütternd und mahnend, ohne dass das Buch je ins Moralinsaure kippen würde. Einfach ein beeindruckendes Buch für eine historisch interessierte Leserschaft.

112 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-7512-0053-0 (Oetinger)

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Femi Kayode – Lightseekers

Die Suche nach Licht, dem Enlightment, sie ist der Epoche der Aufklärung eingeschrieben und ebenso der Ermittlungsfigur Dr. Philipp Taiwo, die in Femi Kayodes Krimidebüt Lightseekers Licht ins Dunkel bringen soll. Er soll nämlich auf dem Land in Nigeria den Fall der Okriki Three auflären, ein Lynchmord, der drei jungen Studenten das Leben kostete.


Etwa eine Stunde fliegt man von der nigerianischen Großstadt Lagos nach Port Harcourt, immer entlang der Küste des Atlantischen Ozeans. Der Psychologe Dr. Philip Taiwo tritt diesen Flug an, da er einen Auftrag erhalten hat, der ihn nach Okriki ins Umland von Port Harcourt (oder PH, wie Einheimische sagen) führt. Dort wurden drei junge Studenten von einem Mob auf der Straße zu Tode gehetzt und anschließend per Necklacing umgebracht.

Nachdem sie geschlagen wurden, legte ihnen der Mob Reifen um den Hals, um diese dann anzuzünden. Eine unfassliche Tat, die auch Emeka Nwamadi nicht ruhen lässt. Der einflussreiche Mann engagiert Taiwo, um im Fall zu ermitteln – denn eines der drei Opfer ist sein eigener Sohn. Es ist ein Autrag, den der forensische Psychologe, der bis vor acht Monaten die Polizeibehörde in San Francisco unterstützt hat, eigentlich ablehnen möchte.

Solche Anfragen waren nichts Neues für mich, darum hatte ich meine Standardantwort parat. „Sie dürfen mich nicht mit einem Privatdetektiv verwechseln, Mr. Nawamadi. Ich bin Psychologe mit speziellen Kenntnissen auf dem Gebiet der Motive von Verbrechen und der Vorgehensweise der Täter. Beim Großteil meiner Forschung handelt es sich um rein akademische Untersuchungen.“

Femi Kayode – Lightseekers, S. 22 f.

Ermittlungen in Okriki

Und dennoch begibt er sich auf Druck von Nwamadi und seines eigenen Vaters nach Okriki, um im Fall der drei Studenten zu ermitteln. Unterstützung erhält er durch Chika, den persönlichen Assistenten von Emeka Nwamadi, der ihm vor Ort beistehen soll, um Licht ins Dunkel dieser massengesteuerten Tat zu bringen. Er tut sich auf dem Campus um, muss sich mit einer wenig kooperationswilligen Polizei vor Ort herumschlagen und erlebt eine Stadt, in der sich die religiösen Gruppen unversöhnlich gegenüberstehen. Und auch privat steht der Psychologe unter Druck, hat er doch seine Frau in den Armen eines jungen Studenten gesehen und hat auf dem Flug die Bekanntschaft mit einer schönen Anwältin gemacht, die über jeden seiner Schritte erstaunlich gut informiert scheint.

Femi Kayode - Lightseekers (Cover)
Lightseekers von Femi Kayode

Es ist ein passables Krimidebüt, welches uns Femi Kayode durch den Übersetzer Andreas Jäger mit Lightseekers präsentiert. Dabei tut für meinen Geschmack die äußere Aufmachung des Buchs dem Inhalt keinen Gefallen. Denn ein Thriller, wie das Buch vom Verlag gelabelt wird, ist Lightseekers mitnichten. Und auch die Spannung, die in den Kurzkritiken der Financial Times und des Guardian auf der Rückseite mehrfach hervorgehoben wird, gibt es im Großteil dieses Buchs so nicht. Vielmehr ist das Buch über weite Strecken ganz konventionell die beschauliche Ermittlung in einem Cold Case, der schon einige Monate zurückliegt.

Zusammen mit Chika muss sich der Ich-Erzähler auf dem Campus umtun, versucht gegen den Widerstand der lokalen Behörden und Einheimischen die Geschehnisse noch einmal wachzurufen und stößt dabei natürlich ein ums andere Mal an Grenzen. Zwischen lügenden Studenten, Spuren im digitalen Raum und einflussreichen in Kulten organisierten Männern muss sich Taiwo seinen Weg suchen, um zur Wahrheit zu gelangen.

Ein Krimidebüt mit etwas Steigerungspotential

Lightseekers ist ein Debüt, das durchaus noch Steigerungspotential erkennen lässt. So ist der Registerwechsel von der hauptsächlichen und sehr zähen Ermittlungsarbeit hin zu einem eskalierenden Finale mit viel Wumms noch nicht ganz ausbalanciert. Rumpelnd und mit einigem Knirschen schaltet dieses Buch vom trägen Ermittlungsgang plötzlich in ein hochtouriges und hochexplosives Finale, das mit all seinen Schauplätzen und Handlungsvolten dann sehr abrupt erscheint. Auch die eingeschobenen kursiven Reflektionen einer Figur erscheinen noch nicht ganz organisch in das Ganze eingebunden, das am Ende dann einfach zu hektisch wirkt.

Auch dürfte die Ermittlerfigur Dr. Philip Taiwo in den kommenden Fällen noch etwas mehr Profil bekommen, um sich gegen andere ermittelnde Psychologen wie etwa Michael Robothams Joe O’Loughlin abzuheben. Aber insgesamt lässt Femi Kayode doch viel Potential erkennen, das er in den kommenden Bänden der Krimireihe hoffentlich weiter entfalten und entwickeln wird. Schön ist es auf alle Fälle, dass hier mit Nigeria ein Schauplatz gewählt wird, der in der zeitgenössischen Krimiliteratur mit einzelnen Ausnahmen sowieso unterrepräsentiert ist.

Fazit

So ist Lightseekers ein Krimi um einen Cold Case, der in den ermittelnden Händen des Psychologen Dr. Philip Taiwo schlussendlich doch noch einmal gefährlicher wird, als es zuvor den Anschein hatte. Femi Kayode gelingt mit seinem Krimi ein passables Debüt, das Steigerungspotential erkennen lässt, sich aber auch durch die Wahl des Schauplatzes wohltuend vom sonstigen Krimi-Einerlei abhebt.


  • Femi Kayode – Lightseekers
  • Aus dem Englischen von Andreas Jäger
  • ISBN 978-3442-77011-3
  • 463 Seiten. Preis: 16,00 €
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Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch

Wenn es ein literarisches Trendthema in diesem Herbst gibt, dann ist das unzweifelhaft das des Meeres. Fast ein Dutzend Romane erschienen in den letzten Monaten, die sich mit dem Leben auf oder am Meer beschäftigen (Auf See von Theresia Enzensberger, Zur See von Dörte Hansen, Über die See von Mariette Navarro, und so weiter und so fort). Nun gibt es mit Die Meerjungfrau von Black Conch einen Roman zu entdecken, der auch das Leben unter dem Meer in den Blick nimmt, indem Monique Roffey den Meerjungfrauenstoff feministisch neuinterpretiert und auf eine abgelegene Karibikinsel verlegt.


Black Conch heißt die kleine Insel, auf der David Baptiste lebt und als Fischer arbeitet. Mit Gitarre und Spliff ausgerüstet will er einen entspannten Tag auf dem Meer verbringen, als er zum ersten Mal die Bekanntschaft mit der Meerjungfrau namens Aycayia macht, die angezogen von seinem Gesang nahe seines Bootes auftaucht.

Die Meerjungfrau in der Badewanne

Dass das Ganze nicht auf einer drogeninduzierten Wahrnehmungsstörung beruht, das stellt sich spätestens dann heraus, als er im Gefolge von amerikanischen Touristen deren Angelausflug begleitet. Denn dort geht den Männern gerät anstelle eines stattlichen Fisches die Meerjungfrau an den Haken gerät. Was bei Ernest Hemingway der Marlin des alten Mannes war, das ist den Männern jetzt die Meerjungfrau, die sie in einen epischen Kampf verwickelt und aus dem die rohen Männer am Ende als Sieger herausgehen.

Monique Roffey - Die Meerjungfrau von Black Conch (Cover)

Als die Männer in einer Kneipe ihren Sieg über das weibliche Wesen feiern wollen, nutzt Baptiste die Gelegenheit und entwendet die Jagdtrophäe namens Aycayia, um sie aus der Macht der Männer zu befreien und bei sich zuhause in der Badewanne zu parken. Diese Notlösung erweist sich als Herausforderung, denn langsam transformiert sich die Meerjungfrau in Baptistes Badewanne.

Sie verliert ihren Fischschwanz und wird unter den staunenden Blicken Baptistes wieder zu der Frau, die sie einst war. Doch natürlich kann man so eine Meerjungfrau natürlich nicht einfach so bei sich zuhause unterbringen, selbst wenn der Schauplatz der Geschichte eine dünne besiedelte Karibikinsel ist. Das muss auch David erfahren, denn eine übergriffige Nachbarin und uralte Kräfte haben auch noch ein Wörtchen mitzureden. Und so kommt es zu Fischregen, einem Polizeieinsatz und mehr, stets mit dem Ziel, wieder Macht über die Meerjungfrau zu erlangen.

Eine Neuinterpretation mit feministischem Einschlag

Die Meerjungfrau von Black Conch ist aus zwei Gründen eine interessante Lektüre. Zum Einen ist es der feministische Aspekt der Geschichte, der vom Versuch der Domestizierung, weiblicher Anpassung und Widerstandskraft erzählt – wenngleich manchmal auch etwas brachial (und für mein Empfinden gerade im ersten Teil des Buchs zu brachial, wenn die Männer gnadenlos geifernd zur Jagd auf die Meerjungfrau blasen).

Eine Greisin und eine Schönheit, beide ausgestoßen. Frau zu sein war gefährlich, wenn man irgendetwas nicht richtig machte.

Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch, S. 212

Hier ist es eben nicht nur eine Geschichte von Männern, die über den weiblichen Körper verfügen, sondern auch die weibliche Perspektive kommt zu Gehör. Immer wieder erzählt Aycayia selbst von ihrem Leben und ihrer äußeren und insbesondere inneren Zerrissenheit – und zwar in der Form von Lyrik.

Das ist dann auch der zweite Punkte, der Monique Roffeys Buch zu einer intereressanten Lektüre werden lässt. Denn statt für eine normale Schriftsprache entscheidet sich die auf Trinidad geborene Autorin für karibisches Englisch, das sich aus verschiedenen Elementen zusammensetzt, darunter etwa kreolisches Englisch und lokaler Slang, was zu einer starken Mündlichkeit der passagenweise eingesetzten Sprache führt.

Wie übersetzt man karibisches Englisch?

Ähnlich wie zuletzt die Übersetzerin Karin Diemerling, die den auf der Karibikinsel Camaho spielenden Krimi Die Knochenleser von Jacob Ross ins Deutsche übertrug, entscheidet sich auf die Übersetzerin Gesine Schröder im vorliegenden Fall, diese im Deutschen nicht adäquat wiederzugebenden Sprachfärbung durch einen künstlich nachgebildeten Slang abzubilden, oder wie sie es im Nachwort zu ihrer Übersetzung schreibt:

Es gibt gewichtige Argumente dafür, bei der Übersetzung auf Abweichungen von der Standardsprache in Satzbau und Wortbildung zu verzichten- sie werden von Leser:innen oft schlicht als Fehler empfunden. Die Unterschiede einzuebnen würde andererseits dem Roman eins seiner wesentlichen Gestaltungsmittel nehmen. Die Sprechweise jeder Figur lässt ihre Gruppenzugehörigkeit, ihren sozialen Status und ihre Haltung zum Geschehen erkennen. (…) Und schließlich haben die trinidadischen Passagen einen charakteristischen Rhythmus, einen Singsang, der dem Erzählten eine besondere Färbung verleiht.

All das ginge verloren, wenn die Unterschiede im Deutschen nicht deutlich sichtbar wären.

Gesinde Schröder in ihrem Nachwort zu „Die Meerjungfrau von Black Conch“, S. 237 f.

Das macht aus dem Roffeys Roman ein außergewöhnliches, man könnte auch sagen eigenwilliges Erlebnis, wenn der Fischer David Baptiste in seinem Tagebuch des Jahres 2015/16 von den Ereignissen berichtet, die sich damals im Sommer des Jahres 1976 abgespielt haben. Aber das alles bleibt trotz lyrischer Passagen und fiktivem Slang dann doch gut lesbar, da dieser immer wieder zugunsten von Schriftdeutsch abgelöst wird.

Zudem ist Schröders Idiom auch deutlich dezenter eingesetzt als beispielsweise das fiktive schwarze Amerikanisch, das Werner Löcher-Lawrence seine Figuren in James McBrides Der heilige King Kong sprechen lässt, das die Figuren fast entstellt. Hier ist alles dezenter eingesetzt und verleiht der Neuinterpretation durchaus Charme, indem die Figuren trotz der eigenwilligen Sprache nicht als Simpel karikiert werden.

Fazit

Diese übersetzerische Entscheidung und der Aspekt einer mutigen Neuinterpretation eines schon fast zum Märchenkitsch geronnenen Mythos holen Die Meerjungfrau von Black Conch in die Gegenwart und machen aus dem alten Stoff eine ambitionierte Erzählung auf Höhe des Zeitgeists, die von Zerrissenheit, männlichem Eroberungsdrang und einer ungewöhnlichen Liebe erzählt. Mit exotischem Schauplatz versehen fernab jeder Märchenstunde ist hier ein eigenwilliges Buch zu entdecken, in das man abtauchen kann.


  • Monique Roffey – Die Meerjungfrau von Black Conch
  • Aus dem Englischen von Gesine Schröder
  • ISBN 978-3-608-50522-1 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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