Hernan Diaz – Treue

Es gibt Buchtitel, die in ihrer deutschen Übersetzung stärker werden. Erschütterung von Percival Everett wäre so ein Fall, ist der Titel doch deutlich vielgestaltiger lesbar als das schlichte Telephone im Original. Und es gibt Titel, die auf dem Weg ins Deutsche an Nuancenreichtum verlieren. Zu letzter Kategorie zählt leider Hernan Diaz Roman Treue, der im Original den doppeldeutigen Titel Trust trägt und damit natürlich auf das Vertrauen und die Ehrlichkeit anspielt. Ebenso bringt das Wort aber auch einen ökonomischen Aspekt ins Spiel, ließe sich doch Trust auch als Treuhand oder Treuhandverwaltung übersetzen.

Auch wenn in der beim Hanser-Verlag erschienen Ausgabe ein Geldbündel auf dem Cover prangt, so lässt sich das Wortspiel doch nicht adäquat auffangen und geht auf dem Übersetzungsweg einmal quer über den Atlantik verloren. Das ist bedauerlich, denn neben der Treue und dem zwischenmenschlichen Miteinander hat Hernan Diaz vor allem einen Ökonomie-Roman in vier Teilen geschrieben, der sowohl Ökonomie im Erzählen als auch Ökonomie im Sinne von wirtschaftlichem Aufstieg beleuchtet und der dabei raffiniert gebaut ist.


Alles beginnt ganz klassisch, wie ein Roman ebenso beginnt. Wir lernen die Lebensgeschichte des Benjamin Rask kennen, die mit folgenden Worten anhebt:

Da er von Geburt an annähernd jeden erdenklichen Vorteil genossen hatte, blieb Benjamin Rask als eines von wenigen das Privileg eines heldenhaften Aufstieges versagt: Seine Geschichte war keine zäher Hartnäckigkeit, keine Chronik eines unbezwinglichen Willens, der sich aus wenig mehr als altem Blech ein goldenes Schicksal schmiedeten.

Hernan Diaz – Treue. S. 15

Ein bisschen was ist allerdings wirklich anders an dieser Geschichte. Denn diese Aufstiegserzählung, die in Anlehnung an die Erzähltradition des Realismus die Entwicklung von Benjamin Rask hin zu einem der reichsten Männer der Welt schildert, sie ist keine Erzählung des Autors Hernan Diaz. Es ist vielmehr ein Autor namens Harold Vanner, der hier zwischengeschaltet ist und der uns diese Geschichte vom Aufstieg Rasks, dem Siegeszug des kapitalistischen Denkens und von einem großen Verlust erzählt.

Ökonomischer Aufstieg und Verlust

Hernan Diaz - Treue (Cover)

Diesem Roman folgt ein zweiter Teil, der erstaunliche Berührungspunkte mit dem zuvor Gelesenen aufweist. Hier ist es allerdings kein Autor, der eine Geschichte schreibt, vielmehr handelt es sich um die Memoiren von Andrew Bevel, der „Mein Leben“ schildert. Diese Memoiren sind aber eher Manuskript denn fertige Erinnerungen. Immer wieder finden sich Lücken und Anmerkungen im Text, der den Aufstieg Bevels nachzeichnet. Inhaltlich kreisen die Memoiren um seinen Aufstieg, bei dem er sich virtuos an der Börse von Million zu Million spekuliert hat.

Die rätselhafte Kongruenz zwischen Roman und Autobiographie erklärt dann der dritte Teil des Romans, in dem wir Ida Partenza kennenlernen, die im New York der 20er Jahre eigentlich als Sekretärin arbeitet. Während Wolkenkratzer in den Himmel schießen, greifen anti-italienische Ressentiments um sich (ähnlich wie bei Eduardo Lago spielt auch hier der Prozess gegen Sacco und Vanzetti eine Rolle).

Die Kommunisten führen Kämpfe gegen den zügellosen Kapitalismus – und inmitten dieser Konflikte findet sich Ida wieder, die als Tochter eines italienischen Anarchisten ausgerechnet bei jenem aus dem zweiten Teil bekannten Milliardär Andrew Bevel Anstellungen findet. Für ihn soll sie dessen Memoiren in Form bringen und aufschreiben. Dieses Vorhaben ist allerdings ein besonderes, denn Bevel will in den Memoiren auch das Leben seiner Frau ins Licht der Öffentlichkeit bringen, deren Ruf er mit dem Projekt aufzupolieren verhofft.

Bei ihrer Arbeit kommt Ida so mit der Lebensgeschichte von Bevels Frau in Berührung, deren Aufzeichnungen den vierten und letzten Teil des Buchs bilden und die damit gewissermaßen die Klammer um die drei vorgehenden Teile formt.

Ein Roman in vier Teilen mit verbindendem Kern

Alle Teile verbindet, dass sie im Kern die Lebensgeschichte von Andrew Bevel, dessen Aufstieg durch Spekulationsgeschäfte und die Verbindung zu seiner Frau Mildred erzählen. Ob in fiktionalisierter Form oder durch Erinnerungen – stets wird titelgemäß die Treue und Ehrlichkeit der beiden verhandelt. Dabei erzählt Hernan Diaz mit einem Binnenblick auf das Miteinander, lässt beide Partner ihre jeweiligen Perspektiven schildern. Daneben ist die Treue und Ehrlichkeit aber auch eine Frage der Öffentlichkeit und des Blicks von außen. Denn notgedrungen muss sich das Paar auch in der Öffentlichkeit zeigen, besonders nachdem die gewinnbringende Ausschlachtung von Börsencrashs durch Bevel zu Gerede führt.

Während sich der Kapitalist aus der Öffentlichkeit zurückzieht, unleidlich nur das notwendigste Pflichtprogramm in Sachen sozialer Repräsentation erfüllt, findet seine Gattin in der Philantropie Erfüllung, die sie immer ausgeprägter verfolgt. Doch stimmt das wirklich? Ist diesen Schilderungen zu trauen, besonders wenn sie von einem Mann kommen, für den die eigene Perspektive gleichbedeutend mit der Wahrheit ist, die er seiner Biografin in den Block diktieren will?

Hier verhandelt Hernan Diaz auch den Trust, als Vertrauen mit der Darstellungen des eigenen Ich, wenn für Bevel nur das eigene Erleben die Richtschnur für richtiges Erinnern darstellt.

Wer hat nun recht mit seinem Blick auf das Geschehene oder welche Perspektive ist die Richtige? Die des kapitalistischen Wunderkinds und Börsengurus, die seiner Frau, die der Biografin oder gar die des spekulativen Romanautors? Oder liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen, zwischen ihm und ihr, zwischen Fakten und Fiktion? Diese Überlegungen machen aus Treue eine nachdenkenswerte Lektüre, die durch die raffinierte Montage der vier Teile Raum für eigene Bewertungen eröffnet.

Aber es ist nicht nur eine Geschichte der unterschiedlichen Blickwinkel, die ihr Blick auf Kapitalismus und Ökonomie eint. Es ist auch ein Roman, der die Erzählökonomie eindrucksvoll in den Mittelpunkt stellt.

Erzählökonomie par excellence

Denn wie oben schon beschrieben weist Hernan Diaz‘ Buch ja vier Teile mit völlig unterschiedlichen Geschichten in unterschiedlichen Stilen auf. Betrachtet man dazu die Länge von 411 Seiten, bleiben ja gerade einmal durchschnittlich gut einhundert Seiten für jede der Geschichte. Folglich muss natürlich die Frage gestellt werden, ob es Diaz gelingt, trotz dieser Länge überzeugende Episoden zu kreieren, die in der Kürze funktionieren.

Hier muss ich konstatieren: ja, in meinen Augen geht das Erzählkonzept auf und Diaz gelingt es, auch nur mit hundert Seiten gute Geschichten zu erzählen, die sich sinnreich untereinander verbinden. Im ersten Teil sind es 120 Seiten, die er braucht, um einen Entwicklungsroman in Erzähltradition des Realismus zu erzählen. Wo die (im Buch auch als Verweis auftauchenden) Klassiker, etwa von Henry James hunderte von Seiten für eine Erzählung von Aufstieg und Niedergang benötigen, schafft es Hernan Diaz hier auch mit guten 120 Seiten, eine ähnlich anmutende Erzählung zu kreieren, die sich trotzdem Zeit nimmt und bei der man nicht das Gefühl von zu sparsamen Erzählen bekommt.

Und auch die anderen Geschichten konzentrieren sich auf das Entscheidende, legen den jeweiligen Episodenkern offen, ohne dabei aufgebläht oder viel zu skizziert zu wirken (außer an Stellen wie Andrew Bevels Memoirenmanuskript, wo dies natürlich erwünscht ist). Eben Erzählökonomie par excellence.

Fazit

Das Ganze ist größer als die Summe aller Teile. Diese Binsenweisheit erfüllt sich bei Treue von Hernan Diaz einmal mehr. Obschon vielleicht der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis einen Eindruck von disparat Geschichten oder einer Kurzgeschichtensammlung entstehen lassen könnte, ergibt sich über jede einzelne Episode hinweg ein Bild von zügellosem Kapitalismus, von Dagobert Duck-haftem Streben nach Mehr, aber eben auch von Leid und Verlust.

Gerade im Zusammenwirken der so unterschiedlichen Erzählansätze ergeben sich interessante die Brüche und Leerstellen, die Fragen bezüglich der Ehrlichkeit mit den Lesenden, der Inszenierung des eigenen Ichs und der Verlässlichkeit von geschilderten Lebenswegen aufwerfen. Das macht aus Treue in meinen Augen eine spannende, diskussionswürdige und außergewöhnliche Lektüre, die deutlich mehr anbietet, als nur eine platte Schilderung des Strebens nach ökonomischen Erfolgen zu sein. Dass es Diaz damit auf die Longlist des diesjährigen Booker Prize geschafft hat, erscheint mir nur konsequent.


  • Hernan Diaz – Treue
  • Aus dem Englischen von Hannes Stein
  • ISBN 978-3-446-27375-7 (Hanser)
  • 416 Seiten. Preis: 27,00 €
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Louise Nealon – Snowflake

Liest man das Debüt der 1991 geborenen Irin Louise Nealon, könnte man sich in die Hochphase der 90er Jahre zurückversetzt fühlen, als die Highschoolkomödien amerikanischer Prägung boomten. Denn auch bei Louise Nealon kommt eine junge, unerfahrene Frau vom Land in die Großstadt, um dort zu studieren. Zum universitären Leben mitsamt seiner ganzen Verhaltenscodes und all den coolen Studenten findet sie nicht wirklich Zugang, schließt dann aber doch mit einer Gleichgesinnten Freundschaft, datet Männer, verliebt sich und erfährt dabei auch viel über sich.

Doch statt auf einem Campus in den USA spielt Snowflake im Irland unserer Tage. Die Universität ist das Trinity College und Debbie, so der Name der Ich-Erzählerin, entstammt einem Milchviehbetrieb in der Region Kildare, zu dem sie eine enge Bindung hegt.


Das Setting, der Erzählton und die Anlage des Romans weckt dabei viel Erinnerungen an Benedict Wells großen Romanerfolg Hard Land, erleben doch beide Figuren innerhalb kurzer Zeit viele Umbrüche und entdecken einige Geheimnisse – Liebe und Sexualität inklusive. Beide jungen Menschen werden mit Tod und Sterben, der Frage von innerfamiliärem Zusammenhalt und der Ausrichtung des eigenen Lebens konfrontiert. Und noch dazu ist der leichte, manchmal fast etwas ins harmlos Plaudernde abgleitende Erzählton gemein – und ebenso wie bei Hard Land dürfte die Zielgruppe für Snowflake auch schon im Jugendalter beginnen.

Doch zunächst einmal zum Inhalt von Louise Nealons Erzählung. Denn in dieser bekommt es Debbie mit den Tücken des universitären Lebens und dem Geheimnis ihrer eigenen Herkunft zu tun.

Studentenleben in Irland

Louise Nealon - Snowflake (Cover)

Zusammen mit ihrer Mutter lebt sie auf der familieneigenen Farm. Nebenan in einem Trailer wohnt ihr Onkel Billy, der die Familie etwas zusammenhält. Denn Debbies Mutter leidet an schwersten Depressionen, kann tagelang das Bett nicht verlassen – und auch ihren eigenen Vater kennt Debbie nicht, war ihre Mutter in ihren Jugendjahren doch reichlich promiskuitiv unterwegs, sodass ziemlich viele Männer als potentielle Väter in Frage kommen könnten.

Nun aber will sie an der Universität ein neues Kapitel ihres Lebens aufschlagen. Zwar bleibt sie weiterhin auf dem elterlichen Hof wohnen und pendelt mit dem Zug zum Trinity College, aber mit neuen Freund*innen und akademischen Herausforderungen hofft sie ihrem Leben einen entscheidenden Impuls zu verleihen.

Heute ist mein erster Tag an der Uni, und ich habe den Zug verpasst. Billy war sich ganz sicher, dass ich ihn noch kriege. Er hat zu lange mit dem Melken gebraucht und konnte mich erst danach zum Bahnhof fahren. Also komme ich jetzt zu spät. Wozu, weiß ich allerdings nicht so genau. Ich brauche Freunde, aber bis zum Mittag sind bestimmt schon alle guten weg. Es ist Orientierungswoche, und ich habe Collegefilme gesehen – wenn ich an der Uni meine zukünftig beste Freundin oder meine große Liebe treffe, dann am ersten Tag.

Louise Nealon – Snowflake, S. 16

Ihre Befürchtungen stellen sich dann teilweise als berechtigt heraus. Die universitären Codes und die des Studentenlebens, all das mag sich Debbie mit ihrer ländlichen Sozialisation und Prägung nicht wirklich erschließen. Nur in der forschen Xanthe findet Debbie eine Freundin, mit ihr bei allem Hilfestellung gibt, was man als Studentin ebenso tut. Diskussionen, Partys, Datinghilfe und mehr, all das erlebt Debbie in zunehmenden Maße.

Schwierig wird das neue Leben allerdings, da die Probleme zuhause überhandnehmen und ihre Mutter immer tiefer im schwarzen Schlund der Depression versinkt. Besonders als deren Freund genau auf die gleiche Art und Weise stirbt, wie Debbie dies zuvor geträumt hat, löst das schwere Erschütterungen aus.

Ein leichter Roman mit Schwere

Louise Nealon gelingt es auf leichte Art und Weise von ihrer Heldin Debbie zu erzählen, gleichzeitig aber auch der Schwere in Form der Depression der Mutter und dem Suchen nach dem eigenen Platz im Leben Ausdruck zu verleihen. Dabei macht der einfache Erzählton des Ganzen das Buch auch schon für Jugendliche interessant, die sich sicherlich mit Debbie und einigen ihrer Sorgen und Nöte identifizieren dürften.

In seiner Erzählweise ist das freilich nicht radikal, sondern eher brav. Und doch bereitet die Lektüre von Snowflake Freude. Man streift gerne mit Debbie durch Dublin, lernt ihren Blick auf die irische Gesellschaft und das Stadt- und Landleben kennen und wird noch einmal ins eigene Studentenleben zurückversetzt. Das weckt durch den Blick auf die Millenialgeneration natürlich Assoziationen zu einer anderen jungen irischen Autorin, die als Stimme dieser Generation gilt, nämlich Sally Rooney.

Fazit

Nebeneinandergestellt würde ich im direkten Vergleich allerdings Louise Nealons Debüt den Vorzug geben, gelingt ihr doch ein runder Roman, der gekonnt die Balance zwischen Schwere und Leichtigkeit, Humor und Ernst findet. Eine junge Stimme aus Irland, die ich aus obigen Gründen auch mit Benedict Wells in eine literarische Beziehung bringen würde und die schon für jugendlicher Leser*innen interessant sein dürfte. Schön, dass uns der Mare-Verlag dieses Debüt zugänglich gemacht hat und die Übersetzung Anna-Nina Kroll anvertraut hat, die schon bei Anna Burns bewiesen hat, wie gut sie irische Stimmen ins Deutsche bringen kann. Ein gelungener Einstand!


  • Louise Nealon – Snowflake
  • Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
  • ISBN 978-3-86648-660-7 (Mare)
  • 352 Seiten. Preis: 24,00 €
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Amor Towles – Lincoln Highway

Vier Jungen ohne Väter, eine Reise in zehn Tage. Dazwischen ein Bogen aus Geschichten, Schicksalen und antiken Mythen. Mit Lincoln Highway gelingt Amor Towles ein Gegenentwurf zu seinem vorhergehenden Roman Ein Gentleman in Moskau – und ein Buch mit fast klassikerhaften Zügen und dem Zeug zum Bestseller.


„Das ist der Lincoln Highway“, erklärte Billy und fuhr an der schwarzen Linie entlang. „Er ist 1912 erfunden worden und nach Abraham Lincoln benannt, die erste Straße, die Amerika von Osten nach Westen durchquert.“

Billy setzte die Fingerspitze auf den Anfang am Atlantik und fuhr an der Linie entlang.

„Der Lincoln Highway fängt in New York am Times Square an und geht bis zum Lincoln Park, San Francisco, der dreitausenddreihundert Meilen weiter westlich liegt. Und er führt durch Central City, das ist nur zwanzig Meilen von unserem Haus entfernt.“

Amor Towles – Lincoln Highway, S. 32 f.

Saß Graf Rostov, der Held von Amor Towles letzten Roman Ein Gentleman in Moskau im Hotel Metropol fest und verbüßte seine lebenslange Haft in statischer Verdammtheit, so ist in Lincoln Highway nun alles beständig in Bewegung. Es beginnt schon mit einer Autofahrt zu Beginn des Romans, der noch viele weitere Kilometer folgen werden.

Von Nebraska bis San Francisco (eigentlich)

Nach einem unglücklichen Zufall, der zum Tod eines anderen Jungen führte, befand sich Emmet in der Besserungsanstalt Salina, die er nun im Juni des Jahres 1954 als 18-Jähriger verlässt. Auf der elterlichen Farm in Nebraska wartet allerdings nur sein Bruder in Begleitung eines benachbarten Farmers – und ein Banker, der Emmett über die Schulden seines verstorbenen Vaters unterrichtet.

Amor Towles - Lincoln Highway (Cover)

Auf der elterlichen Farm hält Emmett nach seiner Vorgeschichte nicht mehr viel – besonders als sein kleiner, hochintelligenter Bruder Billy zehn Postkarten enthüllt, die ihnen ihre Mutter einst schrieb und die Stationen des Lincoln Highways markieren. Billy vermutet seine Mutter in San Francisco, weswegen die Brüder in zehn Tagen von Nebraska gen Westen reisen wollen. Der Studebaker, den Emmetts Vater seinem Sohn vererbte, steht bereit und so könnte es eigentlich losgehen. Doch statt eines brüderlichen Roadtrips durch die Weiten der USA kommt alles ganz anders.

Denn kurz nach der Ankunft auf der heimischen Farm klopft es an der Tür und es stehen zwei weitere Insassen der Besserungsanstalt von Salina vor Emmetts Haustür. Woolly und der Ich-Erzähler Duchess erweisen Emmett die Ehre, nachdem sie als blinde Passagiere im Kofferraum des Direktorenwagens gereist sind. Sie haben ganz andere Reisepläne als Emmett, denn sie wollen nach New York, um an ein Erbe von Woolly zu gelangen. Und so beginnt eine Reise, die sich völlig unvorhergesehen entwickelt und die immer wieder mannigfaltige Überraschungen und Begegnungen bereithalten soll.

Stets in Bewegung

Ob im Studebaker oder als blinde Passagiere in Zügen, ob vertikal in Aufzügen oder horizontal auf Seen oder Straßen – beständig drängen die Figuren in diesem Roman voran, jagen Idealen, verschollenen Familienmitgliedern oder dem großen Geld hinterher, stets begleitet von antiken Vorbildern, die Billy im Kompendium von Helden, Abenteurern und anderen unerschrockenen Reisenden des Professors Abernathe entdeckt und seinen Reisegefährten nahebringt.

Das erinnert in seiner überstürzenden Hast und der vorwärtsdrängenden Bewegung an Klassiker der Reiseliteratur wie Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt, wenngleich es hier nur zehn Tage sind, die das Handlungsgeschehen bestimmen (und immer wieder als Leitmotiv in verschiedensten Abwandlungen auftauchen, von Hausregeln und Countdowns bis hin zu den Zehn Geboten, die das Personal des Romans immer wieder bricht)

Zwischen all diese Bewegungen und Reisen setzt Amor Towles mitreißende Begegnungen, die von reisenden Hobos und Illusionisten bis zu doppelzüngigen (und reichlich gefährlichen) Predigern reichen, was an einen anderen Klassiker erinnert, nämlich Mark Twains Tom Sawyer und Huckleberry Finn. Das lässt trotz der Länge von fast 580 Seiten keine Langweile aufkommen, da durch die Struktur eines Countdowns, die Vielfalt der Figuren und den immensen Geschichts- und Schicksalsbogen Abwechslung ebenso wie Dramatik gegeben ist.

Weit mehr als ein schlichter Road Novel

Diese Vielfalt ist es, die Lincoln Highway auch ein Gefühl von Zeitlosigkeit verleiht, wenngleich der Handlungsrahmen des Buchs ja eigentlich mit zehn Tagen im Juni 1954 sehr eng gesteckt ist. Diese Enge weiß Amor Towles aber maximal für sich zu nutzen und erzeugt durch seine Schilderungen von Tramps und Reisenden das Bild eines nostalgischen Amerikas, das aber nie in platten Americana-Kitsch abkippt. Stets ist doch auch das Gefühl des Verlusts, des Platzens von Illusionen und des Schmerzes präsent, der besonders am Ende des Romans zum Vorschein kommt und der das Buch zu weit mehr als einem gewöhnlichen Road-Novel macht.

Auch maximiert er durch diese Vielfalt an Schicksalen das Identifikationspotenzial, das dem Buch innewohnt. Acht ebenso heterogene wie plausibel geschilderte Figuren aus ganz unterschiedlichen Gesellschaftsschichten sind es, denen man in Lincoln Highway begegnen kann und deren Schicksale und Geschichten zur Identifikation einladen. Das macht das Buch maximal anschlussfähig und sollte für viele begeisterte Leserinnen und Leser sorgen, weshalb ich Towles Buch durchaus einen ähnlichen Erfolg zutraue, wie er ihm schon in den USA beschieden war. Dort stand das Buch an der Spitze der Bestsellerlisten und verkaufte sich innerhalb weniger Monate millionenfach.

Zeitdruck bei der Übersetzung?

Schade nur, dass die Übersetzung von Susanne Höbel ins Deutsche mit der Güte von Towles Werk nicht so ganz mithalten kann. An einigen Stellen wirkt es so, als sei nicht allzu viel Zeit für gründliches Arbeiten geblieben. Die Protagonisten begrüßen sich des Öfteren mit einem „Hallo da“, was im Englischen als „Hello there“ gang und gäbe sein mag, im Deutschen allerdings etwas merkwürdig klingt und eher ein „Hallo zusammen“ oder „Hallo miteinander“ wäre.

Auch wirkt es wenig idiomatisch, wenn Emmets Bruder Billy auf Seite 405 Folgendes erklärt: „Im Jahr 49 BC war Cäsar Gouverneur von Gallien“. Before Christ hätte man hier durchaus als „vor Christus“ übersetzen können, statt den englischen Terminus stehen zu lassen. Auch andere Formulierung wirken ab und an etwas befremdlich, sodass sich der Eindruck von Übersetzungshektik in der deutschen Version manifestiert. Das ist schade, da Susanne Höbel ja ansonsten Romane wirklich gelungen ins Deutsche zu übertragen weiß.

Fazit

So bleibt festzuhalten, dass Lincoln Highway das Zeug zum Klassiker hat. Amor Towles bietet darin neben überzeugendem Erzählhandwerk eine Vielzahl an Figuren und Schicksalen auf, die die Leser*innen für sich einnehmen dürften. Er zeigt in der Tradition von Mark Twain Hobos, Dynastiesprößlinge, Farmerkinder und falsche Prediger, die sich alle auf der Suche befinden und denen allesamt Unrast und ein steter Bewegungsdrang zueigen ist. Das macht aus Lincoln Highway ein nimmermüdes Lesevergnügen, bei dem es zu keinem Zeitpunkt zu Stillstand oder gar Langeweile kommt. Es ist ein Road Novel, es ist mehr als ein Road Novel, es ist eines der Bücher, das die Bestsellerlisten erobern dürfte und auch über das kurzlebige Novitätengeschäft hinaus das Zeug zum Longseller hat.


  • Amor Towles – Lincoln Highway
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
  • 576 Seiten. Preis: 26,00 €
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Norbert Scheuer – Mutabor

Der Eifel-Schreiber ist wieder da. Wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor schreibt Norbert Scheuer mit seinen Romanen eine Geschichte des Urftlandes in der Eifel – und widmet sich insbesondere dem Städtchen Kall, in dem Scheuer auch selbst wohnt. Mit Mutabor führt er seine Chronik des Urftlandes fort. Nur schade, dass er diesmal seine Geschichte unter allzu viel Erzählfragmenten verbuddelt.


Mit seinem letzten, vor ziemlich genau drei Jahren erschienenen Roman Winterbienen gelang Norbert Scheuer der Durchbruch. Hatte es schon zuvor ab und an Preise und Nominierungen für sein Schreiben gegeben, wurde ihm nun für seinen Roman über einen Imker, der zugleich als Fluchthelfer im Zweiten Weltkrieg arbeitete, der Wilhelm Raabe-Literaturpreis zugesprochen. Auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises schaffte es Scheuer mit seinem Roman. Wie schon zehn Jahre zuvor mit Überm Rauschen gelang ihm auch mit diesem Buch der Sprung auf die Shortlist, wenngleich Saša Stanišić dann das Rennen machen sollte.

Zurück im Urftland

Nun, drei Jahre später, gibt es einen neuen Roman von Norbert Scheuer, der den Erzählzyklus des Urftlandes fortsetzt und erweitert.

Mitten im verschwundenen urzeitlichen Meer, in den längst versickerten Flüssen und ausgetrockneten Seen liegt das Urftland und in ihm Kall wie eine verlassene, öde Insel im Ozean der Zeit.

Vielleicht ist auch Mutter in diesem unendlichen Ozean für immer verschwunden. Die Grauköpfe wissen möglicherweise darüber Bescheid und wollen es mir nur nicht sagen.

Norbert Scheuer – Mutabor, S. 52 f.

Das Geheimnis ihrer Herkunft, es beschäftigt die Ich-Erzählerin Nina Plisson beständig. Ihre Mutter ist verschwunden, ihren Vater kennt sie ebenfalls nicht. Minderjährig ist sie der Aufsicht durch eine Betreuungsperson unterstellt, die sich aber als missbräuchlich erweist.

Norbert Scheuer - Mutabor (Cover)

Feste Fixpunkte in ihrem Leben sind eigentlich nur ihre Schildkröte, die als Referenz zu Virginia Woolf auf den Namen Orlando getauft wurde, und ihre Tätigkeit bei Evros, dem griechischen Kneipenwirt, der seine Gedanken auf Bierdeckel stempelt und der in Nina die diffuse Liebe zu Byzanz und den Störchen weckt.

Das Kreisen um die Fragen ihrer eigenen Identität wird das ganze Buch über bleiben, wenngleich Norbert Scheuer auch noch anderes Personal wie die ehemalige Lehrerin Sophia oder die männlichen Kneipenbesucher Striegl, Vincentini oder Hillarius kurz porträtiert und zu Wort kommen lässt.

Hier beginnen aber schon die Probleme, die ich mit Scheuers neuem Roman hatte, ist die Kürze hier doch wirklich ein Schwachpunkt der Erzählung.

Leider zu kurz und zu knapp

Es sind nicht einmal knapp 190 Seiten, die Mutabor aufweist. Von diesen 190 Seiten entfallen aber schon 33 auf Bierdeckel – das sind die Seiten, die kurze Sentenzen und Fantasien des Kneipenwirts Evros nebst an Rorschachtests erinnernden Kritzeleien und Spritzzeichnungen aufweisen (die schön gestaltet auch auf dem inneren Buchumschlag fortgeführt werden).

Bleiben als noch 160 Seiten für eine wirkliche Handlung, die sich hier leider in Fragmenten erschöpft. Zwar lässt sich eine Grundgeschichte der Identitätssuche Ninas aus dem Buch herauslesen, darum herum sind aber viele wenig zielführende, teilweise assoziative Motive und Andeutungen gruppiert, die die Entwicklung einer konsistenten Geschichte immer wieder unterbrechen. So lässt sich das folgende Bild auch auf das Erzählen im Buch selbst übersetzen.

„Ach, es geht um Nina. Sie behauptet, ihre Betreuerin habe ihr den Rucksack weggenommen, da seien all ihre Schätze drin gewesen. Ich kenne die Sachen, es sind verstörende Bilder, mit Skizzen vollgekritzelte Hefte, in denen es einzig und allein um die Frage geht, was aus ihrer Mutter geworden ist.“

Norbert Scheuer – Mutabor, S. 119 f.

Mit Skizzen vollgekritzelte Hefte, das ist ein passendes Bild für die erzählerische Gestaltung des Buch. So tauchen die Störche vom Cover ab und an als Leitmotive auf, griechische Mythen spielen eine Rollen, genauso wie die archaische und kraftvolle Flusslandschaft der Urft immer wieder in Szene gesetzt wird. Daneben geht es aber auch um gefangene Marder, Missbrauch , Armbänder, Demenz, Liebe der Kategorien vergeblich und hoffnungsvoll (zwischen Nina und dem Afghanistan-Heimkehrer Paul, den Scheuer-Leser unter anderem aus Die Sprache der Vögel kennen dürften, entspinnt sich langsam eine Romanze).

All das ist für meinen Geschmack etwas zu abgehackt und eben in der Sprache des Buchs skizzenhaft erzählt, als dass sich ein wirklicher Lesefluss einstellt und man in Scheuers Erzählwelt gezogen wird (wie mir das bei den Winterbienen passierte, die ganz so ganz anders sind und den erzählerischen Sog haben, der Mutabor fehlt).

Stilistisch klar erkennbar

Der enge Lokalbezug, die Verknüpfung der Figuren über die Bücher hinweg, die Vermengung von Fiktion und Realität im Nachwort, das bekannte Personal des grauköpfigen, kommentierenden Chores, die Sprachkraft, all das bildet ja die unverwechselbare stilistische Signatur des Eifeler Schriftstellers Norbert Scheuer und ist auch in diesem Buch wieder vorhanden – nur leider viel zu verhalten, als dass sich bei mir Begeisterung eingestellt hätte.

Das Gefühl eines Mangels an Plot setzt sich so leider auch auf der stilistischen Ebene fort, unter der auch die Entwicklung der Figuren leidet.

Scheuer war schon einmal stärker, was die Wahl seiner Figuren betraf. So hat mich die Erzählperspektive der jungen Nina nicht überzeugt und hinterließ einen etwas schalen Eindruck. Und auch die übrigen Figuren bleiben hier etwas diffus und bekommen wenig Tiefe oder gar Entwicklungsmöglichkeiten zugesprochen, was bei den gerade einmal 150 Normseiten auch wenig überraschen sollte.

Fazit

Wer Norbert scheuer durch den fantastischen Roman der Winterbienen kennengelernt hat, dürfte sich hier die Augen reiben, so anders ist doch dieses Buch. Zwar bleibt sich Scheuer mit Themen und Stil treu, doch gibt er hier den Verschachtelung und den Assoziationen vor der Entwicklung einer stringenten und klar deutbaren Geschichte den Vorzug. Damit steht er zwar in einer Reihe ganz ähnlich erzählter Bücher in diesem Frühjahr, doch wirklich mitreißen konnte er mich nicht. Vielleicht bedarf es noch einer sorgfältigen zweiten oder dritten Lektüre damit Mutabor sich im Wortsinn wirklich wandelt und zugänglich wird. Ich hätte aber überhaupt nichts dagegen gehabt, mich schon im ersten Anlauf überzeugen zu lassen und einmal mehr in die Welt des Urftlandes gezogen zu werden.

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Négar Djavadi – Die Arena

Kaum bricht sie an, die Zeit der Wahlkämpfe, dann ist es auch wieder Zeit für Veranstaltungen, die gerne einmal den Titel „Die Arena“ oder „Die Wahlkampfarena“ tragen. Das Parteienpersonal nimmt in solchen Veranstaltungen Stellung und bekennt Farbe in Konfrontationen, wie es dann immer in Werbungstexten heißt. So richtig hoch her geht es bei solchen Konfrontationen selten. Ganz anders die historischen Arenen im römischen Weltreich, die noch für Massenspektakel, Gewalt und Tod standen und die von den heutigen Arenen etwa so weit entfernt sind wie Italien von stabilen politischen Verhältnissen.

Négar Djavadi hat nun einen Roman geschrieben, der ebenfalls den Titel Die Arena trägt und der sich thematisch zwischen phrasenreichem Wahlkampf und tödlichem Spektakel im alten Rom einordnet. Darin zeigt sie ein Paris im Ausnahmezustand, das wenig mit Eiffelturm und Croissant-Seligkeit zu tun hat, als vielmehr eines, das von Gangkriegen und Polizeigewalt inmitten eines Wahlkampfs um das Amt des Pariser Bürgermeisters erschüttert wird.


Dass ein Riss durch die französische Bürgerschaft geht, das haben die jüngsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen deutlich gezeigt. Nachdem sich Amtsinhaber Emmanuel Macron in einigen Arena-Debatten mit seiner rechten Herausforderin Marine Le Pen maß, behielt er zwar sein Präsidentenamt, wenige Wochen später verlor er allerdings die Mehrheit im Parlament und die extremen Ränder wurden durch die Wahlen gestärkt.

Dieses Gefühl gravierender politischer Veränderung, der Hinwendung zu extremen Positionen und gärende Wut im Volk scheint immer wieder in Die Arena durch, wenn diese Gefühle nicht sogar das ein ums andere Mal offen zutage treten. Négar Djavadi thematisiert dies, indem sie als Form den klassisch-realistischen Großstadtroman in der Tradition eines Émile Zola oder Honoré de Balzac wählt.

Verschiedene Figuren, verschiedene Milieus

Eine Vielzahl unterschiedlicher Figuren rückt sie in den Mittelpunkt, die pars pro toto für verschiedene Paris oder vielmehr französische Milieus und Gesellschaftsschichten stehen.

Alles beginnt dabei mit dem Mord an einem Teenager im Müllraum eines Mehrparteienhauses, für den eine verfeindete Gang wenig später Rache übt.

Ja, seit September hat es schon zwei [Abrechnungen] gegeben… Die letzte war Ende Januar, da wurde ein Jugendlicher tot im Müllraum der Cité Rouge gefunden. Le Parisien brachte keine vier Zeilen darüber, und in den anderen Zeitungen stand gar nichts! Adam hatte es mir nach der Schule erzählt… Vierte Klasse, stell dir vor…“

„Cité Rouge gegen Grange-aux-Belles, richtig?“

„Offensichtlich… Aber da ist noch die Cité Blanche, die Beihilfe leistet oder mitmacht (verdrossenes Kopfschütteln). Es ist alles so undurchsichtig, dass du nicht wirklich weißt, was vor sich geht. Issa ist der Dritte in fünf Monaten.

Négar Djavadi – Die Arena, S. 293

Die Gangs der unterschiedlichen Stadtviertel bekriegen sich – und mitten hinein in diesen Konflikt wird auch Benjamin Grossmann gezogen. Dieser ist eigentlich ein erfolgreicher Jetsetter unter Dauerstress. Für die französische Produktionsplattform BeCurrent arbeitet er als französischer Lokalchef, betreut die Entwicklung neuer Serienformate (auch hier wieder der Anknüpfungspunkt zum Serienschreiber Balzac), fungiert als Mittler zwischen vielversprechenden Kreativen und seinen amerikanischen Chefs. Kurzum, Grossmann steht für eine echte Upperclass-Existenz zwischen Schickeria und Dauerstress.

Als ihm nun sein Handy geklaut wird, potenziert sich Grossmanns Stress noch einmal deutlich. Denn für seinen Job ist das Telefon eigentlich unerlässlich, weshalb er vor seinem Umfeld den Verlust des Mobiltelefons kaschiert. Einen Jungen, den er im Verdacht hat, sein Telefon gestohlen zu haben, stellt er in der Nacht des Verlustes noch zur Rede und schreckt bei der Konfrontation auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück.

Eine Debatte über Polizeigewalt

Négar Djavadi - Die Arena (Cover)

Als nun der vermeintliche Handydieb tot aufgefunden wird, ist Grossmann alarmiert. Doch statt ihn als Verdächtigen zu vernehmen, ist die Polizei erst einmal auf sich selbst konzentriert. Denn die Polizistin, die den toten Jungen entdeckte, hat sich zu einer Unüberlegtheit hinreißen lassen und dem Toten einen Tritt versetzt, ehe sie dessen Ableben feststellte. Dieser Tritt wurde gefilmt und verbreitet sich nun auf den sozialen Kanälen reißend schnell. Ein Shitstorm gegen die Polizei nimmt ihren Lauf, auf Twitter und Co. verbreitet sich das Video wie ein Flächenbrand und befeuert die Debatte um Polizeigewalt.

Populistische Talkshow-Gäste gießen zusätzlich noch ins Öl ins Feuer und sorgen schnell für eine Eskalation der Ereignisse, während Benjamin Grossmann hofft, sich dem Interesse in der Debatte entziehen zu können. Und das alles findet zur Hochzeit des Kampfs um das Bürgermeisteramt der Stadt Paris statt.

Von moderato bis furioso

Die Arena orientiert sich grundsätzlich an den eben schon erwähnten literarischen Vorbildern und erzählt immer wieder abwechselnd von ganz unterschiedlichen Figuren, darunter Polizist*innen, Migranten, Gangmitglieder, respektable Bürger*innen, Talkshow-Gäste, Geflüchtete und Politiker*innen. Djavadi begnügt sich aber nicht mit dem Ausfüllen der bekannten Romanstruktur, sondern entwickelt dieses Erzählkonzept weiter, indem sie den durch Twitter und einschlägige digitale Plattformen befeuerten Shitstorm anschaulich erzählt und auch Textnachrichten und Tweets in ihre Erzählung einbettet.

Gut gelingt Djavadi dabei auch zu zeigen, wie der Shitstorm in der digitalen Welt dann schließlich auf die reale Welt übergreift. Konsequent und plausibel demonstriert sie, wie die in der Gesellschaft beständig köchelnden Konflikte um die altbekannten Themenfelder (öffentliche Ausübung der eigenen Religion in einem laizistischen Staat, etc.) immer stärker befeuert werden und auch durch eine entsprechende mediale Begleitung schließlich im Straßenkampf enden (was auch an Ladi Lys Film Die Wütenden – Les Misérables aus dem Jahr 2019 erinnert).

Ganz folgerichtig ist ihr Roman innerhalb der beiden Erzählklammern Präludium und Postludium durch die inkrementalen musikalischen Bezeichnungen moderato, crescendo und furioso strukturiert, die auch stellvertretend für die öffentliche Meinung und das Erregungsniveau stehen. Diese Steigerung der Erregung und Gewalt ist eindrücklich gestaltet, wenngleich das Personenensemble das ein oder andere mal eine leichte Unwucht aufweist – angesichts der dahinterstehenden Fragen und der gesellschaftskritischen Analyse des Buchs fällt das allerdings nicht wirklich stark ins Gewicht, erzählt Négar Djavadi doch mit großem Anspruch und wagt sich an die Vermessung der gesamten französischen Gesellschaft.

Fazit

In Sachen bissiger und zeitkritischer Gesellschaftsromane sind uns die französischen Autor*innen weit voraus. Das beweist Michel Houellebecq, das beweist Karine Tuil und das zeigt nun auch Négar Djavadi auf beeindruckende Art und Weise. In ihrer Arena treffen unterschiedliche Milieus, Interessen und Persönlichkeiten aufeinander und ergeben ein düsteres Bild der französischen Gesellschaft.

Dass da etwas in unserem Nachbarland aus den Fugen gerät, illustriert die iranischstämmige Autorin und Filmemacherin eindrücklich und erweist sich damit als hellsichtige Diagnostikern bestehender Zustände. Mit Die Arena war sie den Ereignissen des französischen Wahlkampfs sogar um ganze zwei Jahre voraus.

Ein dichter, figurenreicher und sehr politischer Großstadtroman, der seinen großen Vorbildern gekonnt folgt und der trotzdem absolut zeitgemäß und eigenständig bleibt.


  • Négar Djavadi – Die Arena
  • Aus dem Französischen von Michaela Meßner
  • ISBN 978-3-406-79126-0 (C.H. Beck)
  • 463 Seiten. Preis: 26,00 €
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