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Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde

Hänsel und Gretel in Georgien. In seinem Debütroman Vor einem großen Walde lässt Leo Vardiashvili den Exil-Georgier Saba in das Land seiner Kindheit zurückkehren und dabei Spuren folgen, die den Brotkrumen in Grimms Märchen gleichen. Eine ebenso spannende wie erhellende Spurensuche, die das wechselvolle Schicksal Georgiens eindrücklich vor Augen führt.


Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker, der hatte nichts zu beißen und zu brechen und kaum das tägliche Brot für seine Frau und seine zwei Kinder, Hänsel und Gretel. Er hatte wenig zu beißen und zu brechen, und einmal, als große Teuerung ins Land kam, konnte er das tägliche Brot nicht mehr schaffen.

So beginnt das Märchen der Gebrüder Grimm, die in Hänsel und Gretel das Schicksal zweier Geschwister schildern, die sich nur mithilfe einer klug ausgestreuten Spur aus Brotkrumen aus dem verhängnisvollen Dickicht des Waldes und aus dem Zugriff einer gefährlichen Hexe befreien können. Als sie den Weg zurück zu ihrer Familie finden, ist die Mutter in der Zwischenzeit allerdings verstorben. Viel Motivmaterial für Leo Vardiashvili, der in seinem Debütroman eine ebensolche Spurensuche und die Orientierungslosigkeit zweier Geschwister angesichts des familiären Zerfalls beschreibt.

Hänsel in Georgien

Angesiedelt ist seine Erzählung in keinem fiktiven Märchenland sondern in Georgien, das teilweise aber auch an ein Märchen erinnert. Vorwiegend sind es aber die Spuren seiner Vergangenheit, an denen das Land trägt.

Georgien trennte sich von der Sowjetunion und wurde 1991 zur Republik. Hastig gebildete Parteien stritten sich um den Thron dieser frisch geprägten „Republik“. Es dauerte nicht lange, bis man zu den Waffen griff. Und in genau diesem Winter stürzten wir kopfüber in einen bitteren, chaotischen Bürgerkrieg.

Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde, S. 29

Zurückgeblieben in diesem chaotischen und bitteren Bürgerkrieg ist die Mutter von Saba und Sandro. Zusammen mit ihrem Vater Irakli sind die Kinder vor den Schrecken des Kriegs nach England geflohen, nur ihre Mutter Eka blieb zurück, um dem Rest der Familie die Flucht zu ermöglichen.

Eine Spurensuche in Tbilissi

Die Rückholung der Mutter gelang allerdings nicht. Sie starb in Georgien, obwohl Irakli sich in der neuen Heimat in die Arbeit stürzte, um eine Rückkehr seiner Frau zu ermöglichen.

Leo Vardiashvili - Vor einem großen Walde (Cover)

Doch nun, elf Jahre später nach dem Tod der Mutter, hat sich Irakli auf den Weg zurück in das Heimatland seiner Familie gemacht. Die Lebenszeichen von ihm wurden allerdings immer spärlicher. So entschloss sich Sabas Bruder Sandro auf die Suche nach dem Vater zu machen und ebenfalls nach Georgien aufzubrechen. Aber auch er scheint nun vom Erdboden verschwunden zu sein. Zuvor schrieb er Saba noch eine kryptische Nachricht mit der Botschaft, dass er in der alten Wohnung im Tbilisser Stadtteil Sololaki eine Brotkrumenspur des Vaters entdeckt habe. Das war das letzte Lebenszeichen seines Bruders, womit nun alle Lebenszeichen der übrigen Familienmitglieder verstummt sind.

Kurzerhand macht sich Saba selbst auf den Weg, um den Brotkrumen zu folgen, die in den großen Wald namens Georgien weisen. Das stellt sich aber als gefährliche Mission heraus. Denn schon auf seinem Zwischenstopp in Kiew wird Saba vor einer Rückkehr in das Land seiner Kindheit gewarnt. Vor Ort muss er dann feststellen, dass zudem auch noch die Tiere des Zoos von Tbilissi ausgebrochen sind. Es mehren sich rasch die Zeichen, dass die ausgebrochenen Raubtiere in den Straßen der georgischen Hauptstadt allerdings Sabas geringstes Problem sind. Denn bei seiner Suche vor Ort stößt er schon bald auf unbequeme und höchst gefährliche Wahrheiten…

Viele Themen und Motive – überzeugend verschmolzen

Vor einem großen Walde ist ein wirklicher Schmöker, der gleich mehrere Stile und Motive miteinander vereint. Da ist die Parallele zum Märchen von Hänsel und Gretel, die hier in eine wahre Schnitzeljagd von Graffitispuren und Manuskriptseiten mündet. Da ist die Erzählung des Familienschicksal der Sulidze-Donauris, das Saba bei seiner Rückkehr an alte Lebensstationen der Eltern ergründet. Gesellschaft leistet ihm neben dem Taxifahrer Nodar und dessen prähistorischem Wolga auch eine Vielzahl an Stimmen im Kopf, die sich immer wieder in seine Reise zu den familiären Wurzeln und Geheimnissen einmischen.

Ebenso ist Vor einem großen Walde aber auch ein Porträt Tbilissis und damit auch des ganzen Landes Georgien, dessen nicht verheilte Wunden ebenso präsent sind wie die Einschüsse im Mauerwerk der Stadt. Ähnlich wie Archil Kikordze in Der Südelelefant ist auch Vardiashvilis Beschau der nicht verheilten Wunden und der psychologischen Narben der Zivilbevölkerung eine beeindruckende Reise in ein Land, das zwar Beitrittskandidat der EU sein mag, dessen Geschichte und Verfassung trotz einer Patenschaft mit der Buchmesse und Werken von Nino Haratischwili und Co. nicht wirklich greifbar ist.

Wo sich Der Südelefant auf den begrenzten Raum Tbilissis und einen Handlungszeitrahmen von gerade einmal einem einzigen Tag beschränkte, da geht Leo Vardiashvili noch weiter. Sein Buch gleicht in vielen Passagen einem atemlosen Roadtrip, der von Tbilissi und den einzelnen Stadtteilen bis nach Ossetien führt und der auch einige Opfer fordern wird.

Das ist in seiner Verschmelzung von unablässig nach vorne treibender Handlung und gleichzeitiger Rückschau auf die Familie und die Entwicklung des ganzen Landes gut gelungen. Durch die Schnitzeljagd und einige immer wiederkehrende Motive entfaltet Vor einem großen Walde einen erheblichen Sog und lässt mit Saba nur so durch die Seiten gleiten.

Fazit

Tief in die Geschichte Georgiens und die Familie Sulidze-Donauri führt dieser Debütroman ein, dessen Verfasser mit seinem Helden Saba das postsowjetische Familienerbe teilt. Denn auch Leo Vardiashvili emigrierte als Jugendlicher mit seiner Familie aus Tbilissi nach Großbritannien. Aus dieser Erfahrung schöpft der Autor eine ebenso mitreißende wie einsichtsreiche Geschichte, die das Schicksal Georgiens und die Stadt Tbilissi auch im Lesesessel etwas näher bringt und dabei großartig unterhält. Ein Einstand nach Maß!


  • Leo Vardiashvili – Vor einem großen Walde
  • Aus dem Englischen von Wibke Kuhn
  • ISBN 978-3-546-10094-6 (Claassen)
  • 464 Seiten. Preis: 25,00 €

Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht

In diesem Frühjahr haben die langen Buchtitel Hochkonjunktur. Nach Owen Booth im vergangenen Jahr fordern heuer etwa Cho Nam-Joo , Saša Stanišić oder Slata Roschal die Tippfähigkeiten von Buchhändlern und Bibliothekarinnen heraus. Nun auch noch Julia Jost, die mit ihrem Debüt Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht einen modernen Heimatroman vorlegt, der den Mikrokosmos eines kärntnerischen Dorfs in einen großen Spielplatz der Sprache und Themen verwandelt.


Tu felix austria kann man nur immer wieder ausrufen. Die Alpenrepublik schafft es in erstaunlich hoher Schlagzahl, immer wieder neue und vielversprechende Autor*innen hervorzubringen, die sich sprachmächtig mit ihrer Heimat befassen und eine neue Form der Heimatliteratur schreiben, die sich mit dem Althergebrachten, der Region, ihren Menschen beschäftigt, dabei aber auch die Verstrickung in die Vergangenheit und die dunklen Seiten der Heimat nicht vergisst.

Raphaela Edelbauer, Leander Fischer, Valerie Fritsch, Helena Adler, Vea Kaiser oder Johanna Sebauer sind nur einige Namen in dieser Riege junger österreichischer Autor*innen, die sich in den letzten Jahren mit dörflichen Gemeinschaften und dem Miteinander unterschiedlichster Figuren auseinandersetzten.

Auch Julia Jost reiht sich nun mit ihrem wirklich außergewöhnlich betitelten Debütroman in diese Riege ein. Denn ihr gelingt mit Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ein Roman, der vielleicht nicht ganz so sprachverliebt wie die Edelbauer, Fritsch oder Fischer, dafür aber erstaunlich reichhaltig an Themen und Setzungen ist.

Den erzählerischen Rahmen bildet ein Umzugstag, den die junge Erzählerin im heimischen Garten des Gratschbacher Hofs neunzehnhundertvierundneunzig erlebt. Dieser in Kärnten gelegene Gasthof befindet sich in der Nähe der Karwanken, die sich in der Entfernung von gut vierzig Kilometer auftürmen. Mit der Zeit dort auf dem Hof ist es eigentlich schon vorbei, als der Roman einsetzt, denn die Familie will umziehen.

Ein Umzug steht an

Und so schleppen Umzugshelfer Kiste um Kiste, aus dem Zuhause dort, das die Mutter mit Möbeln an- oder besser gesagt schon überfüllt hat. Alle kommen sie noch einmal zum Abschied um beim Umzug zu unterstützen, vom Dorfpfarrer Don Marco bis zu der Generation der Großeltern, die den Hof dort am Fuß der Karawanken begründet haben und den Umzug partout nicht verstehen können. Es ist ein großes Hallo, das die Erzählerin aus der Distanz unter einem LKW heraus beobachtet, wo ihr nur ein schnüffelnder Rauhaardackel Gesellschaft leistet.

Julia Jost - Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht  (Cover)

Durch die Fülle an Gestalten, die sich auf dem Hof die Klinke in die Hand geben entsteht ein erzählerischer Reigen, der die Figuren, den biografischen Hintergrund der Erzählerin und damit auch die Gegend, in der Josts Geschichte spielt, näher definiert und ausgestaltet.

Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht ist reich an Themen. Die Vergangenheit einer Figur als Partisanenkämpfer im slowenischen Teil des Karawankengebirges ist ebenso Thema der Erzählung wie der kaum verborgene Faschismus, der sich auch im Jahr 1994 noch als erstaunlich widerstandsfähig und hartnäckig erweist.

Von der Zeit des Zweiten Weltkriegs bis in die erzählte Gegenwart hinein bildet dieser Faschismus ein Kontinuum, das von alkoholgeschwängerten Besäufnissen, Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkriegs und Weltkriegsdevotionalien bis zu einem Foto von Kurt Waldheim im Klassenzimmer der Erzählerin reicht. Es ist ein Kontinuum, das man von dem von Jost gezeichneten Bogen mühelos auch bis hinein in die Gegenwart weiterspannen könnte, in der die rechtsextremistische FPÖ kurz vor ihrem Wahlsieg bei den diesjährigen Nationalratswahlen steht.

Partisanen, Rechtsextremismus und Tod im Dorf

Aber auch der Tod als Thema ist präsent in diesem Roman. Das Erwachen der eigenen Sexualität, die den landläufigen Vorstellungen entgegensteht, das Verhältnis zur Tochter des bosniakischen Kustos des Gratschbacher Hofs, die Volksfrömmigkeit, die Konzentration auf das Wirtshaus als mindestens der Mittelpunkt des Dorfs, wenn nicht gar der Welt, von all diesen Themen erzählt Julia Jost in ihrem Debüt, das die Fülle an Themen und Figuren durch den engen erzählerischen Rahmen des einzelnen Tages gut eingebunden bekommt.

Verliert dieser so hochtourig beginnende Roman vielleicht grob aber der Hälfte des Buchs auch etwas an erzählerischer Spannkraft, ist Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht dennoch ein famoses Debüt, das zeigt, wie moderne Heimatliteratur aussehen kann und mit dem sich Julia Jost einen Platz in der vorderen Reihe der österreichischen Erzähltalente sichert.

Weitere Stimme zu Josts Debüt gibt es auch bei Juliane vom Blog Poesierausch und dem Blog Bücheratlas, die sich ebenfalls dem Buch gewidmet haben. Auch Alexander Carmele widmet auf dem Blog Kommunikatives Lesen Julia Josts Roman eine vertiefende Analyse.


  • Julia Jost – Wo der spitzeste Zahn der Karwanken in den Himmel hinauf fletscht
  • ISBN 978-3-518-43167-2 (Suhrkamp)
  • 231 Seiten. Preis: 24,00 €

Ann Napolitano – Hallo du Schöne

Vier Schwestern, eine Familie und das ganze Leben in all seinen Ausprägungen. Daraus macht Ann Napolitano einen berührenden Familienroman, der auf das blickt, was Familien im Innersten zusammenhält – und was sie auseinandertreibt.


Oprah Winfrey empfahl diesen Roman im Rahmen ihres Buchclubs, auch Barack Obama setzte ihn auf seine Empfehlungsliste im Sommer 2023. Dank des Übersetzers Werner Löcher-Lawrence und dem herausgebenden Dumont-Verlag lässt sich Ann Napolitanos Hallo du Schöne nun auch hierzulande lesen und genießen.

Angesiedelt ist dieser Roman größtenteils im Chicagoer Stadtteil Pilsen, wo die Handlung zu Beginn der 80er Jahren einsetzt. Dort lebt die Familie Padavano mit ihren vier Töchtern Julia, Sylvie und den Zwillingen Cecilia und Emeline, die sich mit ihren unterschiedlichen Temperamenten und Anlagen hervorragend verstehen und ergänzen.

Schon bald heiratet Julia als die Älteste den vielversprechenden Basketballer William, der selbst so etwas wie den dichten Familienverbund der Padavanos nie kennengelernt hat. Seine Eltern sind ihm gegenüber höchst distanziert, besonders, seit in Kindertagen seine ältere Schwester starb. So findet er nach der Heirat mit Julia nun im Hause Padavano seine Ersatzfamilie.

Vier Schwestern und William

Ann Napolitano - Hallo du Schöne (Cover)

Es ist aber nichts kitschig und einfach in der Welt, die Ann Napolitano in ihrem Roman beschreibt. Denn vor der Heirat von William und Julia hat das familiäre Gefüge durch die ungeplante Schwangerschaft von Cecilia und den Tod des Familienoberhaupts Charlie Padavano bereits schwere Risse erhalten. Es kam zur Verstoßung der jüngsten Tochter und folglich sind die Verwerfungen innerhalb der Familie nun erstmals wirklich öffentlich geworden.

Nachdem danach die Mutter das Zuhause in Pilsen verlassen hat, sind die Schwestern auf sich gestellt und müssen sehen, wie sie auf mit ihren neuen Leben klarkommen. Als sich dann auch noch die Ehe zwischen Julia und William als nicht so berechenbar herausstellt, wie es sich Julia als Jugendliche erträumte, wird es vollends kompliziert im Kosmos der Padavanos.

Denn nach einem Suizidversuch des unter Depressionen leidenden William wird das Leben der Schwestern zur Zerreißprobe, die auch die familiären Wurzeln und Beziehungen auf eine große Probe stellt.

Wie war es möglich, [d]ass es unsichtbare Fäden zwischen ihnen gab, die sie verbanden, die sie aber nicht hatte sehen und daher auch nicht zerschneiden können?

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 427

Zusammenhalt und Bewährungsproben einer Familie

Hallo du Schöne erzählt vom Zusammenhalt einer Familie, die schweren Bewährungsproben unterworfen ist. Tod, Trennung, Abschiedsschmerz, Lieben und Entlieben, neue Verbindungen und Verstoßungen – es passiert viel in dieser Familie, in der auch Ann Napolitano selbst vielfach auf Louisa May Alcott und deren Schwestern-Klassiker Little Women verweist.

Die vier so unterschiedlichen Schwestern, ihre Kämpfe und Wünsche, Ann Napolitano weiß in diesem Familienroman hervorragend davon zu erzählen. Die verschiedenen emotionalen Stadien, die Entwicklungen in den Figuren und wechselhaften Schicksale, sie stehen im Mittelpunkt des Romans, der hauptsächlich aus den Perspektiven Julias, Williams und Sylvies auf das Geschehen blickt, das sich von den 80er Jahren bis ins Jahr 2008 erstreckt.

Viel Gefühle stecken in diesem Buch, aber keine übermäßige Rührseligkeit oder gar Kitsch. Vielmehr widmet sich Napolitano dem genau beobachteten Miteinander ihrer Figuren und schafft es durch die abwechslungsreichen Perspektiven und vielen Entwicklungen, den Roman über die ganze Länge von über 520 Seiten hervorragend ins Ziel zu bringen und dabei den unsichtbaren Fäden nachzuspüren, die die vier Schwestern und die Familie im Innersten zusammenhalten.

Fazit

Versehen mit einem der wohl augenfälligsten Cover des Bücherfrühjahrs 2023 ist Hallo du Schöne ein mitreißender, wirklich emotionaler und fabelhafter Unterhaltungsroman, der das Genre des Familienromans auf das Beste repräsentiert. Glaubhaft gezeichnete Figuren mit Tiefe und ihnen innewohnenden Konflikten, gutes Erzählhandwerk und noch dazu spannend zu lesende Entwicklungen, all das vereint Ann Napolitano zu einem Werk, dem hierzulande hoffentlich ein anderes Schicksal beschieden ist, als es die Bibliothekarin Sylvie über die Bücher konstatiert, mit denen sie bei ihrer Arbeit in der Lonzano-Bibliothek befasst ist:

Die hellen, glänzenden Umschläge neuer Bücher machten Silvie immer etwas traurig. Autoren wie Verlage hofften, ihre Bücher würden die Welt im Sturm erobern, doch das war so gut wie nie der Fall. Seit ihrem dreizehnten Lebensjahr arbeitete Sylvie in dieser Bibliothek und hatte Hunderte, Tausende Bücher sich in die Regale hinein- und wieder hinausbewegen sehen.

Ann Napolitano – Hallo du Schöne, S. 401

Ich hoffe wirklich (und bin eigentlich auch davon überzeugt), dass dieses Buch Lese*innenherzen für sich einnimmt und in vielen Bibliotheken einzieht, um zu bleiben!


  • Ann Napolitano – Hallo du Schöne
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-6945-9 (Dumont)
  • 520 Seiten. Preis: 25,00 €

Maja Haderlap – Nachtfrauen

Frauen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Emanzipation und Nachfolge, Kärnten und Slowenien. Maja Haderlap gelingt mit ihren neuen Roman Nachtfrauen ein präziser Blick auf die slowenische Minderheit in Kärnten und ein literarisch überzeugendes Porträt verschiedener Generationen von Frauen.


Passend zur Patenschaft der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastgeberland Slowenien im vergangenen Jahr erschien im Herbst 2023 auch der neue Roman von Maja Haderlap. Endlich, kann man sagen, denn die Autorin hatte lange nichts mehr von sich hören, geschweige denn lesen lassen. Eine Rede anlässlich des Staatsaktes für den hundertsten Geburtstag der österreichischen Republik im Jahr 2018, vor zehn Jahren ein Gedichtband, das war es dann aber in Sachen vernehmlicher Äußerungen in der Öffentlichkeit.

Umso schöner, dass das Warten nun ein Ende hat und mit Nachtfrauen endlich wieder ein Roman vorliegt, der Haderlaps Profession als Lyrikerin nicht verhehlen kann – und es zum Glück auch nicht will. Denn der Grenzgängerin zwischen slowenischer und österreichischer Literatur gelingt ein Roman, der präzise Menschen zeichnet, Grenzen erkundet und literarisch durch seine Zurückhaltung und Präzision punktet.

Eine Heimkehr nach Südkärnten

Der Inhalt ist dabei schnell erzählt. So kehrt Mira heim nach Südkärnten, wo sie ihre Mutter besucht. Dort, fernab von Wien, wo sie mit ihrem Mann lebt und als Referentin arbeitet, bedeutet die Heimkehr zugleich auch den Abschluss eines prägenden Kapitels ihres Leben. Denn ihre Mutter soll auf Wunsch ihres Neffen aus dem Hof ausziehen, in dem sie aufwuchs und der auch Miras Zuhause war, in dem sie den prägenden Teil ihres Lebens verbrachten.

Maja Haderlap - Nachtfrauen (Cover)

Aus dem Hof soll eine Schreinerei werden – und Miras Mutter in ein altersgerechtes neues Zuhause umziehen. So ist es zwischen Mira, ihrem Bruder Stanko und dem Cousin besprochen. Nur die Mutter weiß noch nicht viel von den Plänen, weshalb es nun an Mira ist, ihr diese Nachricht schonend beizubringen.

Vieles wirbelt ihre Heimkehr nach Südkärnten dabei auf. Das nicht einfache Verhältnis zu ihrer Mutter (womit sich Haderlap in eine ganze Reihe an Elternbüchern einreiht, am augenfälligsten für mich dabei die Verwandtschaft von Nachtfrauen mit der Mutterhommage Eigentum ihres österreichischen Landsmannes Wolf Haas), die Beziehung zu Miras Mann und einer alten Jugendliebe, die natürlich prompt wieder aufflammt, die Zerrissenheit von Mira – und die von ihrer eigenen Mutter, die im zweiten Teil des Buchs dann in den Vordergrund gerückt wird.

Zwischen Slowenien und Kärnten

Denn neben aller gar nicht buchentscheidenden Handlungen ist es vor allem die Frage der Herkunft und Identität, die für mich in Haderlaps Buch im Vordergrund steht. Wie die Autorin selbst sind auch ihre Figuren dort am Fuße der Karawanken binational, entzweigerissen zwischen ihrem arrivierten Leben in Österreich und der slowenischen Vergangenheit. Eine Zerrissenheit, die sich nicht nur, aber am augenscheinlichsten in der Mehrsprachigkeit ausdrückt, in die auch Mira wieder zurückfällt, als sie nun nach Hause zurückkehrt.

Nachtfrauen erzählt von unterschiedlichen Generationen von Frauen, von erlebten Kriegsgräuel, von Emanzipation und der Frage, wo man im Leben eigentlich wirklich hingehört. Wie sie das tut, das ist das Buchentscheidende, das die ganze Klasse dieses Werks ausmacht. Haderlap erzählt in einer reduzierten, genau gesetzten Sprache, die auf den ersten Blick vielleicht trügerisch einfach sein mag, dahinter aber erst in ihrer Klasse aufscheint. Mit dieser genau gesetzten Prosa offenbart die Lyrikerin viele Geheimnisse und Sehnsüchte im Leben oder berührt diese zumindest – vom Glauben bis hin zur Liebe.

Da ist kein Wort zu viel, da ist genug Raum für das Dazwischen, die nicht ausgesprochenen Wort, ungetanen Taten und ungelebten Träume. Ebenso wie die im selben Verlag erscheinende Marion Poschmann, denen beiden die Herkunft als Lyrikerinnen gemein ist, ist auch bei Maja Haderlap alles genau bedacht und sprachlich wunderbar durchgearbeitet. Zart und doch dicht, so ist diese Literatur, der ich hier begegnen durfte.

Fazit

Es ist keine bahnbrechend neue Geschichte, das Thema von Nachtfrauen alt. Die Erzählweise aber, sie ist es, die so überzeugt und der ich persönlich auch bei der Wahl des Österreichischen Buchpreises den Vorzug vor dem ebenfalls nominierten Clemens J. Setz gegeben hätte, ist hier doch alles so viel präziser und genau gerahmt.

Eine wirkliche Entdeckung. Dass sich Maja Haderlap so viel Zeit gelassen hat für einen neuen Titel, bei der Lektüre von Nachtfrauen wird das evident. Genau gesetzt und sich ihrer erzählerischen Mittel sehr sicher erzählt sie großartig gesetzt von verschiedenen Generationen an Frauen und deren Lebenswegen. So bringt sie die slowenische Minderheit Kärntens hierzulande ins öffentliche Bewusstsein. Großartige Gegenwartsliteratur aus Österreich!


  • Maja Haderlap – Nachtfrauen
  • ISBN 978-3-518-43133-7 (Suhrkamp)
  • 294 Seiten. Preis: 24,00 €

Das Buch kaufen: ich empfehle die unabhängige Internetbuchhandlung YourBookshop, bei der man auch gleich noch den lokalen Buchhandel unterstützen kann.

Samuel W. Gailey – Die Schuld

Wie lange geht das gut, vor einer Schuld davonzulaufen – oder geht das überhaupt? Die junge Alice O’Farrell probiert es in Samuel W. Gaileys Krimi Die Schuld, muss auf ihrem Weg von Pennsylvania nach Wilmington aber feststellen, dass man dem Schicksal nicht wirklich entkommen kann.


Einst war sie eine verheißungsvolle Schwimmerin und lebte zusammen mit ihrer Familie ein recht durchschnittliches, aber zufriedenstellendes Leben. Nun, sechs Jahre später muss die inzwischen 21-jährige Alice feststellen, dass all das Geschichte ist. Denn nachdem ihr kleiner Bruder trotz der ihr aufgetragenen Betreuung einen tragischen Tod fand, geriet Alice‘ Leben aus den Fugen.

Sie floh aus ihrem Zuhause, lebte auf der Straße und ist nun im Jahr 2011, in dem der Hauptteil von Gaileys Krimi spielt, vollkommen abgestürzt. Sie verdingt sich in einem heruntergekommenen Strip-Etablissement hinter dem Tresen, gibt sich dem Alkohol hin, wobei regelmäßig Abstürze und Blackouts an der Tagesordnung sind – sogar ein eigenes Bewertungssystem für die Heftigkeit der Abstürze hat sie bereits entwickelt.

Sie traf meist bemerkenswert schlechte Entscheidungen, wenn sie sich betrank, was oft der Fall war, also jeden Tag. Anders gesagt, sie konnte sich an keinen einzigen nüchternen Abend in den letzten Jahren erinnern. Es war ein Teil von ihre geworden. Nicht dass sie stolz drauf war, aber sie hatte sich damit abgefunden. Wer konnte schon aus seiner Haut?

Samuel W. Gailey – Die Schuld, S. 19

Nach einem solchen Absturz erwacht Alice zu Beginn des Buchs – nur um ihren Chef neben sich vorzufinden. Dieser befindet sich allerdings noch in einem erheblich prekäreren Zustand als Alice selbst – er ist nämlich tot.

Alice auf der Flucht

Neben seiner Leiche in seinem Zuhause findet sich eine Tasche mit tausenden von Dollars sowie jeder Menge Betäubungsmittel. Nachdem sie nach einem Zögern die Polizei über den Tod ihres Chefs informiert hat, tauchen schon nach kurzer Zeit zwei Gangster auf, die den Besitz des Verstorbenen an sich nehmen möchten. Nach einem Shootout mit der Polizei und vielen Toten beschließt Alice, die Tasche mit dem Geld an sich zu nehmen und zu fliehen. Ein folgenschwerer Fehler, denn nun haftet sich der kleingewachsene Sinclair in Begleitung des tumben Phillip an die Fersen der Flüchtigen, die sie zusammen auf ihrer Flucht verfolgen.

Samuel W. Gailey - Die Schuld (Cover)

Es ist ein recht klassischer Krimiplot, den Samuel W. Gailey in Die Schuld kredenzt. Da das gefallene Mädchen, das die Tasche mit Geld an sich nimmt und fliegt, da die Gangster, die sie verfolgen, um wieder in den Besitz des gestohlenen Geldes zu gelangen. Auch ist der Krimi in vielen Passagen oftmals eher ein solides B-Movie denn ein wirklich origineller Plot, etwa wenn die beiden Gangster den zitternden Motelverwalter „interviewen“, um an weiterer Infos über den Verbleib von Alice zu gelangen.

Hier hat man das Gefühl, ähnliches schon dutzendfach gelesen und gesehen zu haben. Dennoch aber gibt es auch Punkte, die Die Schuld über eine platte Wiedererzählung des Bekannten hinausheben.

Das ist die Frage des Umgangs mit eigener Schuld, die hier vielfach gespiegelt wird. So läuft Alice ja gleich vor einer zweifachen Schuld davon. Da ist natürlich die Tasche mit dem Geld, das ihr nicht gehört und das für viel Ärger sorgt. Genauso läuft Alice ja aber auch bereits seit ihren Teenagertagen vor dem Tod ihres Bruders davon, den sie hätte eigentlich beaufsichtigen sollen.

Ein Absturz und die Verdrängung von Schuld

Ihren Absturz, ihre Flucht und den Alkohol und die Menschlichkeit, die ihr während dieses Absturzes in Form des Kammerjägers Elton begegnet, das zählt zu den interessanten Aspekten dieses Krimis, der immer wieder zwischen den initialen Ereignissen im Jahr 2015 und der Gegenwart sowie zwischen der Perspektive der Jäger Sinclair und Phillip sowie der Gejagten auf ihrer Flucht durch die halbe USA hin und herwechselt.

Die Welt, in der der Samuel W. Gailey die Geschichte ansiedelt, ist dabei eine dunkle und vor allem dreckige Welt. Trailerparks, schäbige Motels ohne Zimmerservice, viel Düsternis und Schmutz wohnt diesem Erzählen inne. Zudem ist Die Schuld auch kein wirkliches Plädoyer für den amerikanischen Nah- und Fernverkehr, denn selbst das Reise mit der Bahn oder dem Bus ist hier schmutzig und wenig einladend.

In der Logik der Geschichte selbst ist das aber höchst stimmig und zeigt die ganze Tristesse, die Alice Lebensbahn seit dem Tod ihres kleinen Bruders genommen hat.

Nun bleibt nur noch die Frage bestehen, ob es gelingen kann, vor dem eigenen Schicksal und den unverarbeiteten Traumata zu fliehen oder diese zu verdrängen. Die Antwort darauf liefert Samuel W. Gailey auf eigene Art und Weise – lesen muss man sie allerdings schon selbst!


  • Samuel W. Gailey – Die Schuld
  • Aus dem Amerikanischen von Andrea Stumpf
  • ISBN 978-3-948392-96-3 (Polar-Verlag)
  • 312 Seiten. Preis: 26,00 €