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Lot Vekemans – Der Verschwundene

Lost in den Rockys. Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans lässt in ihrem Roman Der Verschwundene einen jungen Mann in den Rocky Mountains in Kanada verlorengehen – und blickt auf seine Angehörigen, die der Verlust auseinanderbringt.


Die Rockys, dieses Ziel hat der junge Daan klar vor Augen, als er seinen Onkel Simon in Calgary besuchen kommt. Besuchen ist für den Hintergrund seiner Reise allerdings glatt das falsche Wort. Denn vielmehr gleicht der Besuch dem Versuch einer Abschiebung oder Resozialisierung, der Daans Mutter mit der Reise zu seinem Onkel nach Calgary vorschwebt. Denn Daans Eltern kommen mit ihrem sechzehnjährigen Jungen nicht mehr zurecht und sehen nun in Simon einen rettenden Ausweg, um den Jungen wieder auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Aus den Niederlanden nach Kanada

Dabei gibt es allerdings ein kleines Problem: Simon und seine Schwestern haben sich schon lange nicht mehr gesprochen. Simon floh einst vor seiner Familie in den Niederlanden nach Kanada, wo er sich verwirklichen wollte. Seitdem herrscht nun Funkstille zwischen den Parteien, ehe Simons Schwester der verlorene Sohn in Calgary wieder in den Sinn kommt, der damals mit der Familie brach und über den Atlantik nach Kanada aufbrach, um dort Karriere zu machen.

Von einer Erfolgsgeschichte dort in Kanada kann aber wahrlich nicht die Rede sein. Körperlich malade schlägt sich Simon mit Aushilfsjobs und kleineren Tätigkeiten durchs Leben und werkelt in seiner kleinen Wohnung vor sich hin. Mit der Ankunft seines Neffen kommt dieses fragile Gleichgewicht seiner Existenz aber gehörig ins Wanken. Denn wo er sich einigermaßen mit sich und seinem Lebensstil arrangiert hat, bricht nun der Junge unverhofft ins Leben, daddelt den ganzen Tag am Handy und strapaziert die Nerven des an seine Einsamkeit gewöhnten Simon, den er zudem mit seiner Forderung nach einem Besuch der Rocky Mountains malträtiert.

Verloren in den Rockys

Lot Vekemans - Der Verschwundene (Cover)

Nachdem Vekemans die Störung und Neufindung der Balance zwischen Simon und seinem jungen Neffen schildert, gibt sie die Drängen des Jungen nach und schickt diese auf der halben Strecke des Romans dann tatsächlich in die Rockys. Aber auch dort finden die beiden Männer nicht wirklich zu einem Miteinander, im Gegenteil. Trotz der Erfüllung seiner Forderung erweist sich Daan als unnachgiebig und es kommt zu einem Streit und Handgreiflichkeiten. Am nächsten Morgen ist der Junge verschwunden und eine Zeit der Suche und der Unsicherheit beginnt.

Hängt das Verschwinden mit einem anderen Vater/Sohn-Duo zusammen, das Simon und Daan vor kurzem auf ihrer Wanderung in den Bergen kennenlernten? Oder ist Daan etwas zugestoßen, hat er seine Flucht gar geplant? Simon beschließt, neben einer Kontaktierung der örtlichen Polizeibehörde auch Daans Eltern zu kontaktieren, die schnell Richtung Kanada aufbrechen.

In der Folge beobachtet Lot Vekemans das Auseinanderdriften der verschiedenen Parteien. So brechen die alten Gräben zwischen Simon und seiner Schwester wieder auf, die ihm schwere Vorwürfe angesichts des Verschwinden ihres Sohns macht. Für die Polizei rückt zunehmend Simon in den Verdächtigenkreis, nachdem sich die Spuren um das andere Vater/Sohn-Gespann nicht wirklich gut verfolgen lassen. Eine kostenintensive Suche nach dem Jungen im Berggebiet setzt ein – und alle misstrauen sich gegenseitig.

Lot Vekemans zweiter Roman

Lot Vekemans ist niederländische Dramatikerin und erfolgreiche Theaterautorin, deren Stücke auch auf hiesigen Spielplänen stehen. Nach Ein Brautkleid aus Warschau handelt es sich bei Der Verschwundene um den zweiten Roman der Autorin, der von Andrea Kluitmann aus dem Niederländischen ins Deutsche übertragen wurde und der abermals bei Wallstein erscheint.

Es ist ein Buch, das sich sehr schnell wegliest. Der Beginn mit der atmosphärischen Störung in Simons Leben, der zunächst durch den Kontakt mit seiner Schwester und dann durch die Ankunft des Jungen verursacht wird,

Alle Figuren verharren in ihrem Roman etwas statisch. Die Affäre, die sich aus der Suche nach dem Jungen heraus entwickelt, die Hintergründe zum Verschwinden, alles bleibt ein bisschen behauptet und erzählerisch nicht unbedingt sauber herausgearbeitet und begründet. Es ist mehr der Drift der Figuren, der Lot Vekemans interessiert. Die Geschichte selbst löst sich am Ende in sich selbst auf, es bleibt nichts zurück – und auch die Figuren sind als Funktionsträger an die Geschichte gebunden, ohne ein vertieftes Eigenleben zu entwickeln, das über das Buchende hinaus beschäftigen würde.

Es ist wahrlich kein schlechtes Buch, lässt Vekemans Talent zum Spiel mit ihren Figuren immer wieder durchscheinen. Und doch ist es auch ein Buch, das neben seinem letzten Endes banalen Fall des verschwundenen Jungen zu keinen weiteren Themen findet. Man geht auseinander, kommt nach der Ausnahmesituation wieder bei sich an, der Junge fliegt zurück in die Niederlande und Simon kann sich wieder entspannen. Hier fehlt es an einem bemerkenswerten Momentum, an einer Idee, die über die Beschreibung der Ausnahmesituation und der anschließenden Auflösung in Wohlgefallen hinausweist.

Fazit

Von daher ein Buch, das sich gut weglesen lässt, das genau auf soziale Dynamiken eines Duos wider Willen und später auf die Schuldzuweisungen infolge des Verschwindens des Jungen blickt. All das das ist wahrlich nicht schlecht gemacht – von dem Ganzen bleibt aber zumindest bei mir nicht allzu viel Bemerkenswertes zurück.


  • Lot Vekemans – Der Verschwundene
  • Aus dem Niederländischen von Andrea Kluitmann
  • ISBN 978-3-8353-5534-7 (Wallstein)
  • 266 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rachel Yoder – Nightbitch

Zwischen Bücherbabys, künstlerischer Selbstverwirklichung und ungewöhnliche Erziehungsansätze. Rachel Yoder schreibt in Nightbitch über die Anforderungen an eine junge Mutter – und ihre Metamorphose zu einer Hündin.


Alles beginnt zunächst noch recht gewöhnlich mit ein paar Haaren. Diese finden sich allerdings an Stellen, an denen sie nicht hingehören. Zudem macht das Volumen ebenjener Haare der namenlosen Protagonistin in Rachel Yoders Roman Sorgen, denn so ganz normal scheint diese neue Haarpracht nicht zu sein:

Zugegebenermaßen wirkte sie haariger als sonst. Ihre widerspenstige Mähne stand ihr um Kopf und Schultern wie ein Wespenschwarm, die Brauen schoben sich in ungehemmten Wachstum über ihre Stirn wie Raupen. Am Kinn hatte sie sogar zwei schwarze Bosten entdeckt, und im entsprechenden Licht – ehrlich gesagt, in jedem Licht – schimmerte dort auf ihrer Oberlippe, wo die Haare nach der letzten Laserbehandlung nachwuchsen, ein Bartschatten. Waren ihre Unterarme immer schon so buschig gewesen? Hatte der Haaransatz immer schon bis an ihren Kiefer gereicht? Und waren dunkle Büschel auf den Zehen eigentlich normal?

Rachel Yoder – Nightbitch, S. 10

Von einer Mutter zur Hündin

Von ihrem Mann belächelt nimmt die nur als „Die Mutter“ bezeichnete Frau immer mehr Veränderungen an sich wahr. Die Zähne werden spitzer und länger, es wächst ihr plötzlich Fell – nur ihr Mann will es nicht wahrhaben. Er tut sämtliche Veränderungen ab und pflegt weiterhin seine Haltung der Ignoranz, die er gegenüber seiner Frau und ihrer Rolle als Mutter an den Tag einnimmt.

Rachel Yoder - Nightbitch (Cover)

Obwohl er zusammen mit der Protagonistin einen jungen Sohn hat, glänzt er tagelang mit Abwesenheit und überlässt sämtliche Erziehungsaufgaben und Care-Arbeit seiner Frau. Verständnis für seine Partnerin gibt es bei ihm nicht, weder für ihre Erschöpfung noch für die Schwierigkeiten, die das Hineinfinden in die neue Rolle als Mutter bedeutet.

Derweil droht die junge Mutter zunehmend an ihrer neuen Rolle als Mutter zu verzweifeln. Eine Karriere als Künstlerin hat sie trotz vielversprechender Ansätze aufgegeben, stattdessen bestimmen nun Muttermilch und eintönige Tage zuhause das Leben der jungen Frau. Durch Zufall besucht sie in der lokalen Stadtbücherei die Gruppe der Bücherbabys – mit den anderen Müttern dort aber fremdelt die Künstlerin sehr. Sie sucht sich einen anderen Weg aus der neuen Isolation, die das Dasein als Mutter für sie bedeutet. Nightbitch heißt ihr Alter Ego, das sie sich erschafft – und das sich bald auf haarige Weise verselbstständigt.

Mein hündisches Herz

Ähnlich wie bei einem Werwolf wird auch in der Mutter der animalische Trieb immer stärker. So übt das rot glänzende Fleisch in der Kühltheke plötzlich einen immer stärker werdenden Reiz auf die junge Frau aus. Gierig schleppt sie es kiloweise nach Hause. Vor der Haustür tauchen nächtens Hunde aus der Nachbarschaft auf. Sie selbst verwandelt sich auch in Tier, reißt plötzlich Kaninchen und übt mit ihrem Sohn den Gang auf allen vieren und lässt diesen dann schon mal in einer Hundehütte übernachten.

Nightbitch erzählt von der Verwandlung in eine Hündin und vom Animalischen, das wir in unserem Alltag zu unterdrücken versuchen. Rachel Yoder erzählt plakativ, manchmal geradezu grell, von überforderten Müttern, Selbsthilfekursen und diesem unersättlichen Verlangen nach Fleisch und Tod. Das klingt in seiner theoretischen Anlage zunächst reichlich plump, entwickelt dann aber einen Sog, der auch viele Einsichten über Mutterschaft und Überforderung beschert.

Fazit

Mit Nightbitch sortiert sich die Autorin irgendwo zwischen Sarah MossSchlaflos, Mareike Fallwickls Die Wut, die bleibt und Doireann Ní Ghríofas Ein Geist in der Kehle ein. Yoder gelingt ein Roman, der von den Schwierigkeiten erzählt, die es bedeutet, Mutter zu werden und seine eigenen Bedürfnisse unterzuordnen. Partnerschaftliches Unverständnis, überhandnehmende Anforderungen und die Potentiale, die plötzlich in einer tierischen Metamorphose lauern.

Das beleuchtet ihr Buch auf unterhaltsame Art und Weise, das sich von der Komik bis zum Horror unterschiedlichster Stilelemente bedient, die Yoder tatsächlich zu einem überzeugenden Ganzen zusammenführt.


  • Rachel Yoder – Nightbitch
  • Aus dem Englischen von Eva Bonné
  • ISBN 978-3-608-98687-7 (Klett-Cotta)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Charlotte Gneuß – Gittersee

Darf sie das? Um den Debütroman der 1992 geborenen Autorin Charlotte Gneuß ist ein kleines Debattenstrohfeuer entbrannt, das nun schon wieder in sich zusammengefallen ist. Darf eine westdeutsche Autorin über die DDR schreiben, die sie nur aus Erzählungen kennt? Natürlich, schließlich erlaubt die Literatur zuvorderst alles. Statt also Phantomdebatten über vermeintliche Echtheit und die Lizenz zur Fiktion zu fechten, sollte man lieber über die Qualitäten ihres Textes Gittersee sprechen.


Mit ihrem Roman Gittersee bedient sich die junge Autorin Gneuß eines erzählerischen Rahmens, wie ihn beispielsweise in diesem Frühjahr auch Caroline Wahl für ihr Debüt 22 Bahnen verwendet hat. Eine junge Frau, die sich wegen Defiziten im familiären Verbund um ihre kleine Schwester kümmern muss, gerät durch die Liebe zu einem Mann in Wirrnisse. Wo Caroline Wahl ihre Heldin an der Kasse arbeiten und in der übrigen Zeit neben dem Studium ihre kleine Schwester betreuen ließ, ist bei Charlotte Gneuß die Setzung aber eine andere. Sie verlegt diese Rahmenerzählung um die junge Ich-Erzählerin Karin in die Zeit der Deutschen Demokratischen Republik.

Dort lebt die Sechzehnjährige im Dresdner Vorort Gittersee und kümmert sich neben ihrer sozialistischen Ausbildung in der Schule um „Die Kleine“. Karin übernimmt hauptsächlich die Betreuung ihrer jüngeren Schwester und verbringt die übrige Zeit am liebsten mit Paul, ihrem Freund. Dieser begeistert sich ebenso wie ihr gemeinsamer Bekannter Rühle fürs Klettern, gemeinsam haben sie auch schon die sogenannte „Lokomotive“, eines Felsformation in der Nähe der Elbe erklommen.

Zwischen Schule und Stasi

Doch nun ist Paul verschwunden, einfach so. „Republikflucht“ sagt Rühle – und Karin kann es nicht glauben. Warum ist ihre Liebe von einem Tag auf den anderen verschwunden, wie geht es ihm und was ihn zu seinem Schritt motiviert? Das sind Fragen, die nicht nur Karin, sondern auch die Staatssicherheit interessieren. In Form des Ministeriumsmitarbeiters Wickwalz tritt diese auf und versucht, aus Karin Informationen herauszuholen und diese zu einer Informantin über andere anti-sozialistische Umtriebe in ihrem Umfeld zu formen.

Den inneren Zwiespalt zwischen Sorge und Nicht-Verständnis für den abrupten Schritt Pauls, ihre Suche nach Antworten und den gleichzeitigen Druck der Stasi, der sich durch das immer wieder unvermutete Auftauchen des Stasi-Rekrutierers Wickwalz entwickelt, fängt Charlotte Gneuß durch die kluge Wahl der Ich-Erzählperspektive treffend ein. Während in der Schule die Schüler*innen mit den richtigen Weltsichten auf den guten Sozialismus und Kommunismus indoktriniert werden, versucht Karin eigene Antworten und Wege zu finden, was durch die Umwelt und die eigenen Gefühle alles andere als leicht ist.

Coming of Age in der DDR

Im Gewand eines Coming-of-Ages-Romans erzählt Charlotte Gneuß vom Innenleben Karins und dem eines Staates, der seinen eigenen Bürger*innen misstraute und selbst vor der perfiden Nötigung Minderjähriger nicht zurückschreckte.

Charlotte Gneuß - Gittersee (Cover)

Dabei setzt Charlotte Gneuß auf ein kleines Ensemble von Figuren, das sich im Lauf der Zeit noch weiter durch Flucht verringert. Statt ein großes Panorama des Lebens junger Schüler*innen in der DDR zu erzählen, geht Gneuß den umgekehrten Weg und setzt auf Reduktion. So wird die Stasi beispielsweise hauptsächlich durch die ambivalente Figur Wickwalz personifiziert, außer Marie und Rühle treten kaum Mitschüler*innen hervor. Auch die Familie Köhler selbst bleibt reduziert, Oma, Vater, Mutter, Karin und ihre kleine Schwester. Viel mehr tragende Figuren gibt es kaum – und diese werden auch allesamt eher flüchtig skizziert, denn wirklich aussagekräftigen Zuschreibungen und Gestaltungen zu erhalten.

Sie stehen damit ganz in der übrigen Erzähltradition dieses Romans, der eher das Hingetupfte und Flüchtige denn breit Auserzählte bevorzugt. Viele Realia gibt es nicht in dem Roman, der auf eine genauere Verhaftung von Zeit und Raum verzichtet. Vielmehr legt es Charlotte Gneuß (zumindest in meiner Lesart) auf ein übergreifendes Thema an, nämlich die Jugend in der DDR, die hier nicht alleine nur auf ein detailliertes Einzelschicksal festgemacht werden soll.

Die Debatte geht fehl

Damit läuft auch die Debatte, die nur nach einem Artikel der FAZ und etwas Widerhall in den Feuilletons schnell erlahmte, ins Leere. Hintergrund war eine Liste mit Begrifflichkeiten und Unstimmigkeiten, die der ostdeutsche Schriftstellerkollegin Ingo Schulze für den gemeinsamen Verlag S. Fischer anfertigte und die dann zur Jury des Deutschen Buchpreises durchgestochen wurde. Jene Jury, die kurz zuvor Gittersee auf ihre Longlist gesetzt hatte.

Über das im Artikel angebotene Debattenstöckchen – ob Gneuß überhaupt authentisch von Dingen erzählen könne, die sie nicht aus eigener Anschauung und somit nur aus zweiter Hand kenne – wollte kaum einer springen. Schließlich darf und soll ja Literatur erst einmal alles und man darf ja über alles schreiben (wer könnte mit solch einer Auslegung da überhaupt noch historische Romane schreiben?). Einzig und allein die Qualität des Erzählten, die Stimmigkeit der entworfenen Welt und die literarische Tiefe sollten ja stehts im Mittelpunkt stehen. Und so zielen solcherlei Quisquilien auch breit am eigenen Kern der Sache vorbei. Denn Charlotte Gneuß will in Gittersee ja erkennbar keine – Plastik hin, Plaste her – fotorealistische Dokumentation des DDR-Lebens von Schülerinnen vorlegen.

Ein stimmiges Erzählkonzept

Vielmehr zieht ihr Erzählen zielt auf etwas anderes ab. Auf Gefühlswelten einer jungen Schülerin in einem übergriffigen und indoktrinierenden Staat, die Erschütterung des eigenen Koordinatensystems nach dem Verschwinden ihres Freundes und die Instabilität eines Systems, die sich der Heranwachsenden mehr und mehr zeigt.

Das gelingt Charlotte Gneuß ausnehmen gut, auch deswegen, weil sie neben der passenden Perspektive auch einen stimmigen Erzählton für das Erleben und Hinterfragen ihrer jungen Protagonistin findet.

Magst du keine Rumkugeln, fragte sie. Ich öffnete den Mund und spürte, wie Marie die Kugel hineinplumpsen ließ und wie ihr Fingernagel meine Lippen berührte. Du bist eingeschlafen, und dann hast du gequietscht, sagte Marie. Sie verdrehte den Kopf und machte zuckende Bewegungen. So, sagte sie, weißt du, so, Sie wiederholte das Ganze. Dann sah sie mich nachdenklich an und fragte, warum ich gestern nicht in der Schule gewesen sei.

Musste auf die Kleine aufpassen, die war krank.

Deine Mutter ist eine Krähe, stellte Marie fest. Ist doch ihr Kind, nicht deins. Und überhaupt darf sie das gar nicht. Wenn das rauskommt, dass du wegen deiner kleinen Schwestern nicht zur Schule gehst, sagte Marie. Schulpflicht und so.

Ich behauptete, dass ich gern auf die Kleine aufpassen würde, dass das gestern nur eine Ausnahme gewesen sie. Und außerdem, fiel mir ein, ist es auch Vatis Kind.

Charlotte Gneuß – Gittersee, S. 41

Fazit

Charlotte Gneuß gelingt ein Debüt mit einem stimmigen Erzählkonzept, das sich in meinen Augen mit der leicht kargen Erzählinstrumentierung an DDR-Schriftstellerinnen wie Brigitte Reimann oder Christine Wolter orientiert. Trotz meines Überdrusses der Gattung Coming of Age-Roman habe ich Charlotte Gneuß‘ Debütaufgrund der frischen historischen DDR-Setzung des Ganzen sehr gerne gelesen. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis ist mehr als gerechtfertigt, die alberne Debatte um „authentisches“ Schreiben über die DDR aber nicht.


  • Charlotte Gneuß – Gittersee
  • ISBN 978-3-10-397088-3 (S. Fischer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €
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Philipp Oehmke – Schönwald

Alle glücklichen Familien gleichen einander – aber jede unglückliche – na ja, man kennt es. Lew Tolstoi hat es in seinem Jahrhundertwerk Anna Karenina einst vorgemacht – und vor allem die amerikanischen Autoren von Jonathan Franzen bis zu Richard Ford tun es ihm bis heute nach – große Familienromane zu schreiben. Familienromane, die über die familiäre Introspektive hinausweisen und zugleich Zeitgeistvermessung und Gesellschaftsanalyse sind. Nur hierzulande tun wir uns schwer mit dem Genre, eifern in Ansätzen dem Ganzen nach – aber so richtig eine literarische Antwort auf die Great Novels haben wir hierzulande noch nicht gefunden. Philipp Oehmke will das (mit entsprechend fokussiertem Marketing seines Verlags Piper) nun ändern und schickt sich an, mit Schönwald einen deutsche Antwort auf Die Korrekturen und Co. zu verfassen. Gelingt ihm das?


Es ist auf Twitter und anderen Plattformen ein beliebtes Muster. Man nimmt einen oder bekannten Prominenten oder ein Popprodukt meist amerikanischer Prägung – und das Ganze dann mit dem Verweis „Deutsche …“ ein lokales (meist völlig überzogenes) Äquivalent gegenüber. Herausgestellt werden soll neben der Fallhöhe der Vergleiche auch die Lächerlichkeit und die Piefigkeit deutscher Personen und Themen, die gerade im Vergleich mit dem amerikanischen Vorbild besonders ärmlich wirken. Siehe Beispiel unten.

Aus solchen Vergleichen spricht auch neben allen humorproduktiven Umtrieben der Neid, so etwas Ikonisches oder auch nur „Cooles“ hierzulande nicht zu haben.

Auch der Familienroman ist so etwas, bei dem man hierzulande den Vergleich mit den amerikanischen Größen nicht anzutreten braucht. Der „Deutsche Korrekturen“-Roman ist bislang ausgeblieben. Der Buchmarkt wirft lieber dutzende und dutzende Familiensagas als Variation des Immergleichen auf den Markt – die von qualitativen Abstufungen von Peter Prange oder Daniel Speck bis ganz nach unten reichen. Ein stilistisch überzeugender und ambitionierter Roman, der literarisch dem Vergleich mit den Werken Franzens, Eugenides, Morrison und Co. statthält, ist bislang ausgeblieben.

Philipp Oehmke als deutscher Jonathan Franzen?

Auch im Piper-Verlag hat man diese Lücke erkannt, weshalb man nun prononciert Philipp Oehmke zu einer Art „Deutscher Jonathan Franzen“ aufbauen möchte und seinen Roman bereits im Vorfeld als „Großer Familien-Roman in der Tradition amerikanischer Literatur“ bewarb. Reichlich große Fußstapfen also, in die der 1974 geborene Reporter mit seinem als Spitzentitel ausgerufenen Debüt nun treten soll.

Philipp Oehmke - Schönwald (Cover)

Die in seinem Roman im Mittelpunkt stehende Familie hört auf den Namen Schönwald. Vater Hans-Harald und Mutter Ruth, beide inzwischen schon über Siebzig, leben in Köln. Er pensionierter Staatsanwalt, sie Hausfrau, Mutter und verhinderte Germanistik-Professorin. Drei Kinder haben sie, die sich alle anlässlich der Eröffnung eines queeren Buchladens namens They/Them in Berlin eingefunden haben. Eröffnen möchte diesen die einzige Tochter der Schönwalds, Karolin. Neben ihr gibt es noch den Nachzügler Benni und den Ältesten der drei Geschwister, Chris. Er ist extra aus den USA nach Deutschland geflogen, besitzt – oder besser gesagt: besaß – eine Professur dort. Nun verdingt er sich allerdings als intellektueller Einpeitscher der MAGA-Bewegung rund um Donald Trump, wovon niemand in Deutschland etwas mitbekommen soll.

Der unter dem Motto „Never explain. Never complain“ zusammengehaltene Familienverbund ist schon recht bröckelig, wenn er denn überhaupt jemals fest gefugt war. Die abendliche Intervention einer jungen Aktivistengruppe, die die Eröffnung des Buchladens mit dem Vorwurf von Nazi-Geld als Finanzierungsgrundlage des Buchladens stört, bringt das instabile Familiengefüge noch mehr ins Wanken.

Ein bröckelnder Familienverbund

Denn wie Oehmke in diesem überwiegend aus Rückblenden bestehenden Roman zeigt, hat jede der Figuren eigene Geheimnisse oder Probleme, die sie mit viel Tünche und Selbstverleugnung zu wahren versucht. Doch durch die Geschehnisse rund um den Buchladen und das Aufeinandertreffen aller fünf Schönwalds kommen viele dieser sorgsam gehüteten Geheimnisse ans Tageslicht. Da gerät der Vorwurf des Nazigeldes und die Befassung mit der eigenen Familiengeschichte fast ins Hintertreffen.

Philipp Oehmke hat einen Roman geschrieben, der tatsächlich von seiner Erzählweise und dem schichtweisen Freilegen der Erzählfiguren und ihrer Biografien in der Tradition amerikanischer Romane steht (nicht umsonst wird auf den ersten Seiten schon Jonathan Franzen erwähnt, dessen Leserin Ruth Schönwald ist). Dabei setzt Oehmke allerdings auf ein Erzählkonzept, das seine Figur Ruth an einer späten Stelle im Roman selbst mit folgenden Worten kritisiert:

Sie hatten über Der Zauberer gesprochen, eine neue Biografie über Thomas Mann, und Harry hatte den Damen dabei zugehört, wie sie darüber diskutierten, dass der Autor das Buch als Roman deklarierte und sich damit die Freiheit verschaffte, basierend auf Briefen und Tagebucheinträgen Szenen und Dialoge auszuschmücken und zu erfinden. Ruth hatte dieser Hybridform kritisch gegenübergestanden, Fiktives und Faktisches ließe sich nicht mischen, es sei unfair Mann und seiner Familie gegenüber und im Übrigen ein Betrug am Leser. Sie würde es ja auch nicht wollen, dass jemand ihr Leben nähme und einfach ein paar Sachen dazuerfinde.

Philipp Oehmke – Schönwald

Faktisches und Fiktives

Tatsächlich setzt auch Schönwald auf eine Vermengung von Realien und Fiktion. Denn die initiale Attacke auf die queere Buchhandlung aus einer „woken“ Aktivistengruppe mit dem Vorwurf des Nazi-Geldes als Startkapital erinnert an den fast deckungsgleichen Fall der Berliner Buchhandlung She Said. Damals wurde die Gründerin Emilia von Senger vor allem in den sozialen Netzwerken stark für die Gründung des queeren Buchladens angegriffen. Der damalige Vorwurf: Finanzierung des Geschäfts durch Geld aus einem Nazi-Erbe, schließlich war von Sengers Vorfahre Panzergeneral im Zweiten Weltkrieg.

Nicht nur diese im Buch verhandelte Causa weist verblüffende Kongruenz mit den damaligen Geschehnissen auf, auch die auftretenden Aktivisten und ihr Sprech von „Menschen mit Nazihintergrund“ erinnert stark an das vielbeachtete Gespräch, das die Künstler*innen Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah im Nachgang im Zuge der Debatte um She Said führten.

Hier kommt es zu einer Verschmelzung des Faktischen und Fiktiven, wie es Ruth Schönwald nicht gefallen hätte – und auch für das Buch selbst geht diese literarische Übermalung nicht ganz auf.

So gleicht die Moshtari Hilal abgeschaute Aktivistin Malala einem Fremdkörper, dessen Einbindung in den engsten Familienverbund nach den Vorfällen um die Attacke auf den Buchladen nicht wirklich plausibel erscheint. Auch andere Nebenfiguren bleiben im Gegensatz zu den Schönwalds selbst unkonturiert. So wirkt Chris‘ Freundin und Trump-Flüsterin Kimberley Conway ein jüngeres Abziehbild von Kellyanne Conway. Es scheint, als müssten sich alle Figuren, die nicht zur Kernfamilie zählen, mit einem unscharfen Standort am Rande des Familienporträts begnügen.

Noch nicht wirklich ausbalanciert

Ob in Bezug auf die Figuren oder den Plot selbst, vieles ist hier noch nicht wirklich hundertprozentig ausbalanciert. Die erzählte Gegenwart verliert gegen die Rückblenden haushoch, das Ende ist in seiner Seelenstriptease-Stimmung etwas zu überhastet und zu kitschig. Das Faktische rund um den Buchladen verhält sich zum Fiktiven nicht ganz rund und ganz generell gesprochen: der Versuch der Gleichstellung Philipp Oehmke mit Jonathan Franzen tut diesem Debüt nicht wirklich gut, provoziert es doch immer den direkten Vergleich mit den „Originalen“. und weckt zu hohe Erwartungen.

Für sich genommen ist Schönwald ein mehr als solides Debüt, das gutes Erzählhandwerk zeigt und eine Familie in der Innensicht schildert, die vielleicht nicht auf ihre eigene Art traurig ist, aber doch genug Probleme mitbringt, auf dass sich viele Leser*innen mit diesen so unterschiedlichen Charakteren identifizieren oder einfühlen können. Mag Philipp Oehmke auch (noch) nicht der „Deutsche Jonathan Franzen“ sein, so ist er doch ein Autor, der gut unterhält. Er liefert einen gelungenen Familienroman ab, der zumindest im nationalen Vergleich weit oben anzusiedeln ist.


  • Philipp Oehmke – Schönwald
  • ISBN 978-3-492-07190-1 (Piper)
  • 544 Seiten. Preis: 26,00 €
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R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Eine mittelständische englische Familie fährt in den Urlaub ans Meer. Aus dieser einfachen Ausgangslage macht R. C. Sherriff einen berührenden Roman, der vom Glück des unbeschwerten Sommerurlaubs erzählt, der zugleich aber auch vom Wissen um die Vergänglichkeit des Urlaubs im Kleinen und die des Lebens im Großen kündet. Große Literatur – und eine echte Wiederentdeckung!


Mit dem Sommerurlaub ist es ja so eine Sache. Liegt er noch vor einem, scheint der Sommer unendlich lang, die Tage glutheiß, das Jahr auf seinem Höhepunkt und der Herbst noch ganz weit weg. Kehrt man dann Ende August oder im September wieder in den normalen Alltagstrott zurück, so mehren sich die Zeichen, dass die schönsten warmen Tage des Jahres hinter einem liegen.

Es wird abends wieder früher dunkel, die Sonne hat ihre Kraft verloren und an manchen Orten zeigen sich schon wieder die ersten Nebelfelder, die die Gedanken an die kommenden kalten Tage ins Bewusstsein rufen. Der Sommerurlaub, er trägt neben aller scheinbaren Ewigkeit eben auch das Wissen um die Endlichkeit der Sommeridylle in sich.

Auch R. C. Sherriff weiß um die Vergänglichkeit, die allem Sommern eingeschrieben ist. Bei ihm ist es die mittelständische Familie Stevens, die einen unbeschwerten Sommer an der Südküste Englands erleben möchte. Dabei ist aber auch sie trotz aller Sehnsucht nach Idylle und dem Bemühen um die Bewahrung derselben auch vor Enttäuschungen und dem Vergehen der Zeit nicht gefeit.

Noch einmal gemeinsam auf nach Bognor

R. C. Sherriff - Zwei Wochen am Meer (Cover)

So sind die beiden älteren Kinder eigentlich schon zu alt für einen gemeinsamen Familienurlaub am Meer und haben andere Prioritäten, als so wie all die Jahre zuvor wieder mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder die Ferien an der Südküste in Bognor zu verbringen. Und doch soll es nun im September noch einmal wie früher sein, so wünschen es sich die Eltern. Man teilt sich in einer angestammten Pension Zimmer, kennt seine Vermieterin ebenso wie den Strand in- und auswendig und hat in jahrelanger Verfeinerung eine Art To Do-Liste erarbeitet, die die Familie nun am Vortag des Urlaubs Stück für Stück abarbeitet. Von der Nahrung für die Katze bis zur Übergabe des Schlüssels ihres Vorstadthäuschens will alles bedacht sein.

Mit einem Kofferträger geht es zur U-Bahn, man steigt in Clapham Junction ein, versucht sich mit Tricks ein familieneigenes Bahnabteil zu besorgen und schon setzt sich die Bahn in Richtung Bognor in Bewegung.

Es sind Ferien, die in krassem Widerspruch zur heutigen Spaß- und Eventkultur an Badestränden stehen, die R. C. Sherriff hier beschreibt. Bekocht von der Vermieterin wird die Frage der Anmietung eines eigenen Strandhäuschens zum fast überlebensgroßen Thema, das die Familie Stevens beschäftigt. Man badet, besucht ein Konzert der Kurkapelle und erlebt entschleunigte Tage am Meer, über denen eine starke Ahnung der Vergänglichkeit liegt.

Die Vergänglichkeit der Sommeridylle

Bei allem Staunen hatte sie jedoch tief drinnen gewusst, dass etwas passieren würde. Seit ihrer Abreise aus Dulwich wusste sie, dass noch vor Ferienende etwas Gewaltiges geschehen würde. Sie wusste es, als sie alle zusammen auf den Zug in Clapham Junction gewartet hatten, sie wusste es, als sie hinter Horsham ihre Sandwiches gegessen hatten, sie wusste es, als sie durch die Straßen von Bognor zum „Seaview“ gelaufen waren. Jedes Mal hatte sie gespürt, dass es zum letzten Mal war und dass sie das nie wieder zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter tun würde und auch nicht mit Dick und Ernie. Es hatte sich so traurig angefühlt, dass sie sich all das sofort wieder zurückwünschte. Jetzt aber wusste sie erst, was das alles zu bedeuten hatte. Es war immer schön gewesen in Bognor, und trotzdem hätte es nicht ewig so weitergehen können. Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, den verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was inhen aber immer bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer, S. 287

Immer wieder tauchen im Buch Themen und Motive des Abschieds auf, die den Urlaub begleiten. Stevens senior laboriert noch immer an seinem unsanften Ausscheiden aus dem von ihm mitbegründeten Fußballverein, der einen Generationenwechsel einleiten sollte. Der Mann der Vermieterin ist gestorben und die Pension verschleißt Stück für Stück. Es mehren sich die Indizien, dass der Urlaub der Familie in dieser Form der letzte sein wird, den die Stevens gemeinsam verleben. Die beiden älteren Kinder treiben verstärkt Fragen wie ihr berufliches Glück oder Freundschaften um.

Und auch wenn es Vater Stevens gelingt, der Urlaubsidylle noch einen zusätzlichen Tag abzugewinnen, so schwingt doch in den Tagen eine Ahnung mit, dass ein solch sparsamer und selbstgenügsamer Urlaub lange noch vor der Phase des Massentourismus schon bald Geschichte sein wird, ebenso wie es darüber hinaus für die im Buch repräsentierte Epoche des Kleinbürgertums gilt.

Eine feinsinnige Wiederentdeckung

Wie feinsinnig, gut beobachtet und meisterhaft introspektiv R. C. Sherriff dies schildert, das ist wirklich große Kunst. Und auch wenn Sherriff normalerweise eher Drehbücher schrieb und in Hollywood sein Glück suchte, so erfuhr er in seinem Leben doch ähnliche Sehnsucht nach Nostalgie und Vertrautheit, wie er sie in Zwei Wochen am Meer schildert.

Davon erzählt der Autor und Übersetzer Karl-Heinz Ott in seinem Nachwort, in dem er auch die Geschichte des Romans erzählt, der eine wirkliche Wiederentdeckung ist. So gab der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro auf eine Umfrage des britischen Guardian, die nach literarischen Entdeckung von Schriftsteller*innen während der Coronazeit fragte, die Entdeckung dieses Romans aus dem Jahr 1931 zu Protokoll. Dies sorgte für eine Renaissance des Buchs, das Ishiguro für die Kunst lobte, „die wunderbare, im täglichen Leben anzutreffende Würde feinfühlig[..] auf einer völlig undramatischen Ebene“ einzufangen.

Die Parallelen zwischen Ishiguros Schreiben und Zwei Wochen am Meer arbeitet Ott sehr schön heraus und analysiert Werk und Wirken Sherriffs in seinem Nachwort sorgfältig.

Kleine Mängel in der Übersetzung

Noch schöner wäre es dabei allerdings gewesen, wenn Ott und das Lektorat die gleiche Sorgfalt auch auf den übersetzten Text angewendet hätten. Denn die Übersetzungsleistung weist ein paar Defizite auf und mengt dem rundum positiven Eindruck des Romans so selbst einen Hauch der Kritik bei.

Denn Ott trifft mitunter eigenwillige übersetzerische Entscheidungen, indem er beispielsweise den im Zuge der Weltausstellung in London erbauten Crystal Palace als Kristallpalast übersetzt, um nach zweimaliger Erwähnungen desselbigen dann umzuschwenken und diesen doch als Crystal Palace zu titulieren. Kann man im Deutschen mit dem Begriff der Landlady wenig anfangen, wäre doch hier der übersetzerische Griff zur Vermieterin idiomatischer gewesen, ebenso wie im Deutschen der Begriff der Sperrstunde wohl deutlich geläufiger sein dürfte als die von Ott gewählte „Polizeistunde“, die etwas seltsam für sich steht.

Es mögen nur Marginalien sein, im Text fallen sie in ihrer Häufigkeit dennoch auf und mindern den ansonsten fabelhaften Eindruck dieses Buchs und der vom Unionsverlag herausgegebenen Ausgabe um einen kleinen Hauch.

Fazit

Ein fabelhafter Roman und eine echte Wiederentdeckung. Wie zart und genau beobachtend R. C. Sherriff in Zwei Wochen am Meer über seine Figuren schreibt, einen Familienurlaub vor Bettenburgen und Eventfixierung beschreibt und wie er es schafft, dass über allem der Hauch der Vergänglichkeit liegt, das ist ganz große literarische Kunst! Und auch wenn die Übersetzung ein wenig sorgfältiger hätte ausfallen dürfen, so mindert das den Gesamteindruck dieses großartigen Sommerurlaubs nur marginal. Für mich ganz klar ein literarischer Sommerhit!


  • R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott
  • ISBN 978-3-293-00604-1 (Unionsverlag)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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